Herbstfeuer. Robert Ullmann

Herbstfeuer - Robert Ullmann


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saß - ein Soldat, der dazu beigetragen hatte, den Krieg weiterzuführen, dem sie Reichtum und Wohlstand verdankten. Veteranen war es gestattet, sich im ersten Bezirk aufzuhalten und auch dort zu betteln. Was neben den entstellten oder im Geiste gebrochenen Kriegsheimkehrern die Alten, die Väter und Großväter, die Mütter und Großmütter oder die jungen Knaben und Mädchen betraf, die oftmals bereits von Kind auf in den Fabriken schufteten: Sie alle hassten den Krieg mehr als alles andere. Doch wer würde etwas unternehmen, der Hochkönig? Die Könige, die seine engen Berater waren und denen es an Besitz, Land und Investitionen nicht mangelte? Das Parlament, dessen Abgeordnete bestochen waren von den Besitzern der Fabriken und denen, die Patente auf Waffen besaßen, die zu tausenden hergestellt wurden? Nein, wenn jemand etwas bewegen würde, dann das einfache Volk. Und so kam es, dass sich mutige Männer versammelt hatten, um die Kaserne von Ersthafen niederzubrennen. Sie wollten ein Zeichen setzten, zeigen, dass sie es nicht länger hinnahmen, dass dieser Krieg das Leben so vieler zerstörte, die Ressourcen des Landes verschlang und es seiner Söhne beraubte – der Söhne Tamhalls. Die Wachen überrumpeln, die Fenster einschlagen, die Fackeln hindurch werfen und sich so schnell als möglich aus dem Staub machen - so der Plan. Freilich war es fraglich, ob die Kaserne überhaupt Feuer gefangen hätte. Die Rekruten in der Festung hätten sich in Sicherheit gebracht, vorher womöglich sogar noch das Feuer gelöscht. Aber es war im Grunde auch gar nicht darum gegangen, dachte Timmrin bei sich. Es war wohl das Ziel, das jeder von ihnen im inneren verfolgte, ein Feuer anderer Art zu entfachen, ein Feuer, das sich über ganz Tamhall ausbreiten sollte: ein Feuer in den Herzen der Menschen. Doch nicht viele würden überhaupt davon erfahren, was sich in jener Nacht zugetragen hatte. Die Soldaten hatten die Rebellen bereits erwartet und zusammengeschossen. Erklärung konnte es dafür nur eine geben: Verrat. Aber wer? Wer hätte dazu fähig sein können? Der Nachtwächter, ging es Timmrin durch den Kopf. Er hatte nicht viel zu gewinnen bei dieser Sache. Er musste sich nicht jeden Tag in eine Fabrik schleppen. Freilich, sein ältester Sohn sei im Krieg gefallen, sagt man. Aber stimmte das? Timmrins Gedanken konnten nicht länger um diese Verdächtigungen kreisen, zu groß war der Schmerz über den Verlust seiner Freunde. Ganz besonders musste er an Torek denken, der sich für ihn geopfert hatte. Er war tot, er musste tot sein. Sie alle mussten tot sein. Wenn es Überlebende gab, waren sie sicher gefangen genommen worden und ihr Schicksal besiegelt. Timmrin ballte eine Faust. Waren sie alle umsonst gestorben? Torek hatte sein Leben gegeben, damit Timmrin fliehen konnte. Das Gewissen des jungen Mannes ließ Gedanken aufkommen, die er bis jetzt verdrängt hatte. Nun fühlte er sich schuldig, weil er Torek nicht zur Seite gestanden hatte, obgleich es nur seinen eigenen Tod bedeutet hätte. Er fühlte sich schuldig, weil die anderen, möglicherweise alle, gestorben waren, er aber lebte. Doch was nützte ihm das jetzt? Wäre er doch nur mit den anderen umgekommen, dachte er. Vielleicht wäre es besser gewesen. Allein hatte Timmrin keine Chance mehr etwas zu bewegen, oder seine Kameraden zu rächen. Er konnte ja noch nicht einmal mehr für sich selbst sorgen. Sollte er die Stadt verlassen, so wie es vor vielen Jahren einige Männer und Frauen getan hatten, um sich als Landstreicher und Waldläufer durchzuschlagen? Auf Landstreicherei stand Gefängnisstrafe und Gefängnis bedeutete in diesen Tagen meist den Tod. Nicht einmal die Bauern hatten reichlich zu essen oder die Ernteknechte, noch weniger die Handwerker. Dienstleister konnten sich meist nur dann über Wasser halten, wenn sie für die Oberschicht arbeiteten. Am wenigsten hatten die niederen Fabrikarbeiter und Bettler. Was blieb da für den im Kerker inhaftierten? Nichts als schmutziges Wasser und Reste! Die „Verlorenen“ finden, irgendwo da draußen, sich ihnen anschießen, überlegte Timmrin. Es waren hauptsächlich Männer und einige Frauen, die vor Jahren die Stadt verlassen hatten, um sich im Dorngebirge zu verstecken. Sie waren heute nicht mehr als eine halbvergessene Legende. Doch ein Mann, der neulich in die Stadt kam, um etwas Salz zu kaufen, hatte für Gerüchte gesorgt. Er habe furchtbar ausgesehen, hatte Timmrin vor kurzem aufgeschnappt. Sein wuchernder, verfilzter Bart und seine langen, halb ergrauten fettigen Haare sollen kaum noch etwas von seinem Gesicht zu erkennen gegeben haben. Barfuß, seine Kleidung zerfetzt und schmutzig, seine Hände vernarbt, so hatte man ihn beschrieben. Auf die Frage nach seiner Herkunft soll er zur Antwort gegeben haben: „Aus den Bergen. Dort bin ich zuhause“. Vielleicht ein verrückter Bettler oder einfach ein verkommener Vagabund? Vielleicht ein Verlorener? Das Dorngebirge war ein Küstengebirge, nicht so hoch wie die Schneeberge im Landesinneren, auch nicht besonders weitläufig. Menschen gab es wenige dort. Ein paar wenige Bergbauern hatten sich in den Tälern niedergelassen, dort wo es Bäche gab. Es war zu felsig für den Ackerbau. Nur Schaf- und Ziegenbauern gab es dort. Neben seiner geringen Urbarkeit existierte ein weiterer Grund, das Dorngebirge zu meiden - Die Bergschrate: graupelzige Wölflinge, die in merkwürdigen Zungen sprachen, die niemand verstand. Vor vielen Jahren soll es Menschen gegeben haben, die ihre Sprache erlernt hatten. Heute sind sie scheu geworden und dennoch können sie sehr gefährlich werden, heißt es vielerorts. Behaarte Menschenähnliche hatte es auch in den Wäldern einmal hunderttausende gegeben. Als große Waldflächen gerodet wurden, um Holz für den Schiffbau zu gewinnen, schwand ihr Lebensraum. Es hatte schon immer Konflikte zwischen Menschen und Wölflingen gegeben, in jener Zeit aber große Kriege. Die Menschen benötigten zu dieser Zeit immer größere Mengen an Holz für den Bau von Städten, als Heizmaterial, später zur Errichtung ihrer Fabriken. Gewehre sollten hergestellt, heute schließlich auch die neuartigen Dampfmaschinen angetrieben werden, die mancherorts den Ackerboden der Großbauern bearbeiteten. Als immer größere Mengen von Bäumen, darunter auch die heiligen Riesenbäume der Waldschrate gefällt wurden, kam es vor fast zwanzig Jahren zum letzten großen Aufstand des Waldvolkes. Die Clans vereinten sich und schwarze, braune, wie rote Wölflinge des Waldes und ihre Mischlinge zogen in den Krieg. Sie verübten mehrere Massaker und machten die Waldstadt Bunthain dem Erdboden gleich. Für die Millitärs Tamhalls aber bedeutete dieser Konflikt keinen wirklichen Krieg, sondern viel mehr eine Gelegenheit, die Effizienz neuer Feuerwaffen an den Tiermenschen zu erproben. Die Schrate hatten den Salven der disziplinierten Schützenreihen nichts entgegenzusetzen und so flohen sie tiefer in die Wälder. Heute leben einige von ihnen in kleinen Reservationen, die sie nicht verlassen dürfen. Das sind meist mittelgroße Waldstücke, die von Wiesen umgeben sind. Außerhalb dieser darf Jagd auf sie gemacht werden, so wie auf gewöhnliche Tiere. Viele schon verhungerten, weil sie nicht genug Wild zu jagen hatten und nicht genug Früchte des Waldes finden konnten in den kleinen Reservationswäldern. Einige heißt es, verließen Tamhall in Richtung Osten, andere seien in die Berge geflohen, zu den grauen Bergschraten. Selten verirren sich Soldaten oder Jäger in die höheren Lagen des kargen Felsengebirges, wo sonst nur Wölfe, Luchse, Bären, Gämse und andere wilde Tiere leben. Tiefer im Dorngebirge soll es einige Höhlensysteme geben. Vielleicht hatten sich die Verlorenen in einem solchen verschanzt. Aber wie überlebten sie da oben? Von was ernährten sie sich und wie erwehrten sie sich der Schrate? Timmrin begann diese Gedanken zu vertreiben. Es waren Märchen, dachte er. Diese Leute waren alle tot. Ihm wurde klar, dass er sich diese Geschichten zurechtmalte, um der kalten Wirklichkeit zu entfliehen, in die er hineingeboren war. Sein Leben war entbehrungsreich gewesen. Von Kindheit an hatte es nur Arbeiten, Schlafen und sich um seinen jüngeren Bruder Kümmern bedeutet. Sein Vater war im Krieg gefallen. Seine Mutter war krank geworden. Sein kleiner Bruder war ein Krüppel gewesen von Geburt an. Timmrin und sein Onkel Torek hatten versucht, genug zu verdienen, um die beiden zu versorgen. Uranze, Timmrins Mutter, war vor einigen Jahren an Kummer, gebrochenem Herzen, an Krankheit und Hunger gestorben. Und nicht ganz einen Monat war es nun her, da hatte auch sein kleiner Bruder Tammrin für immer seine kleinen, unschuldigen Augen geschlossen. Eine kleine Träne kullerte über Timmrins Wange – und wieder ballten sich ihm die Fäuste! Und wer hatte Schuld? Er wusste es genau. Er kannte ihre luxuriösen Kutschen, in denen sie sich durch die Stadt bringen ließen, wenn sie sich ins Arbeiterviertel wagten, um ihre Werkshallen zu besuchen. Sie waren stets umgeben von Leibwächtern: finstere Männer, bewaffnet mit vierläufigen Pistolen und Faschinenmessern. Timmrin hatte auch von ihren technischen, kostspieligen Entwicklungen gehört: dampfbetriebene Maschinen kolossalen Ausmaßes, welche Pflüge ersetzen sollten, Kutschen ohne Pferde. Luxuriöse Bauwerke gab es im ersten Bezirk: Saunen, Bäder, Bordelle und Räumlichkeiten, in denen sich die Fabrikanten und Aristokraten trafen - zum Rauchen, zum Trinken, um sich geschwollene, hochgestochene Reden anzuhören. Mancherorts, so sagt man, gingen sie auch widernatürlichen Gelüsten nach. Sie mussten vernichtet werden, allesamt! Das war es, was Timmrin sich ersehnte. Sein Hass war beinahe größer geworden als sein Kummer, seine Angst und Verzweiflung.
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