Tödlicher Nordwestwind. Lene Levi

Tödlicher Nordwestwind - Lene Levi


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an Hauke: „Würden Sie bitte die Freundlichkeit besitzen mir die Leiche noch einmal zu zeigen? Ich möchte nur von hier oben aus kurz ein paar Aufnahmen machen.“

      „Wie bitte?!“, stotterte Hauke Schortens. „Hat der Kommissar eben was von Spurensicherung gesagt?“

      Er warf einen verstohlenen und zugleich vorwurfsvollen Blick auf Enno. „Hab ich´s dir nicht gleich gesagt? Der Kerl wird uns nur `ne Menge Ärger machen!“

      Enno reagierte nicht auf Haukes Geschwafel, sondern schob ihn unsanft beiseite, um das Segeltuch über der Leiche vollständig zu entfernen. Nachdem Robert seine Fotos geschossen hatte, kletterte er wieder hinüber auf das Deck.

      „Die Leiche wird noch heute zur Obduktion in die Gerichtsmedizin nach Oldenburg überführt. Dorthin kommen sie übrigens alle, egal ob Selbstmord oder Badeunfall.“ Dann streifte er sich Latexhandschuhe über die Hände und betrachte die Leiche aus geringer Distanz. Der Tote war fast vollständig bekleidet. An seinem rechten Fuß trug er einen Sneakers aus feinem Leder. Der linke Schuh fehlte. Und er wies am Hinterkopf eine große Platzwunde auf. Am rechten Handgelenk trug er eine Armbanduhr. Robert kannte zufällig diese Marke, da er schon einmal bei einem Mordfall in seiner Berliner Zeit mit solch einer Uhr zu tun gehabt hatte. Weitere Besonderheiten konnte er jedoch nicht auf den ersten Blick feststellen. Aber das war auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht so wichtig, denn am nächsten Tag würde sich ohnehin die Gerichtsmedizin ausführlicher mit dem Toten aus dem Meer beschäftigen.

      Als er wenig später in sein Auto stieg, brach fast im gleichen Augenblick der erwartete Wolkenbruch los und ein heftiges Hitzegewitter verwandelte den kleinen Nordseehafen in eine gespenstische Theaterszenerie aus zuckenden Blitzen und Donnergrollen. Die bis zuletzt ausharrenden Gaffer waren eilig in ihre Wohnwagen auf dem Campingplatz geflüchtet und Robert beobachtete durch die Windschutzscheibe seines Wagens das einzigartige Naturschauspiel zwischen Himmel und Erde. Dicke Regentropfen prasselten wie ein ausgeschütteter Sack Erbsen auf das Dach seines Wagens. Der Kommissar fühlte sich seltsamerweise in diesem Moment wie nach einer langen Reise endlich zu Hause angekommen. Dieser Enno, so kam es ihm plötzlich in den Sinn, könnte vermutlich der Sohn seines alten Schulfreundes Jülf Fedder aus Varel sein, mit dem er zusammen die achte Klasse wiederholen durfte. Er erinnerte sich plötzlich ganz genau daran. Diese Ehrenrunde aus ihrer gemeinsamen Schulzeit hatte sie einst zu Freunde werden lassen. Zusammen verbrachten sie damals so manches Wochenende hier an dem kleinen Sandstrand zwischen Hafen und dem Alten Kurhaus. Es waren kurzzeitig auftauchende Gedankensplitter, die ihm jetzt plötzlich wieder einfielen; Erinnerungen an ausgiebige Schlickschlachten, an kleine improvisierte Partys mit Dosenbier, Musik von Led Zeppelin und Lagerfeuer am nächtlichen Strand. Und natürlich an die hübschesten Mädchen aus der Gegend, die immer mit dabei waren. Irgendwann verloren sie sich aus den Augen. Jülf half damals im Geschäft seiner Eltern aus, als Robert beschloss, die Polizeischule zu besuchen. Sein Freund und er trugen zu dieser Zeit so lange Haare, dass sie ihnen fast bis zum Hintern reichten. Er erinnerte sich an den typischen Wattgeruch, der selbst durch ausgiebiges Schrubben nicht aus den Hautporen auszuwaschen war, und an die verrückt gekleideten Freaks, die hier auf dem Deich ihre selbstgebauten Riesendrachen steigen ließen. Bei jedem kräftigen Windstoß hoben sie damit ab und landeten irgendwo da draußen im Matsch. Er musste auch an seine Großmutter Lina denken, die früher hier in der Nähe noch eine kleine Gastwirtschaft betrieben und die ein streng gehütetes Familiengeheimnis für ihre Nachwelt hinterlassen hatte.

      Dieser alte und inzwischen fast wieder vergessene Badeort und seine Umgebung, das bedeutete Robert damals sehr viel. Was es genau war, ließ sich nur sehr schwer in Worte fassen. Es war vielleicht sowas, wie sein ganz privates Woodstock des Nordens. Hier veranstalteten sie in den 70ern sogar kleine Open-Air-Konzerte. Es war ein magischer Ort der Erinnerungen und einer der letzten Privatstrände an der Nordsee, der bis zum heutigen Tag gebührenfrei allen Besuchern offenstand. Robert fiel nur ein Wort ein: Freiheit. Ein seltsamer Begriff, der sich im Laufe seines Lebens unzählige Male umdefinierte. Hier aber hatte er für Robert seine Allgemeingültigkeit erhalten.

      Er lächelte. Das alles lag nun schon Jahrzehnte zurück. Er konnte sich bei diesem Gedanken ein leicht verschmitztes Grinsen nicht verkneifen. Was ist bloß aus diesen alten Träumen geworden? Ob Jülf überhaupt noch lebte?

      Der Wolkenbruch hörte so plötzlich auf, wie er begonnen hatte, aber das Gewitter tobte noch immer ziemlich heftig. Robert stellte den Scheibenwischer seines Wagens aus und sah hinüber bis zur Horizontlinie, die sich als farbig abgehobener Strich zwischen Himmel und Wasser in der schmalen Öffnung des Jadebusens hin zum offenen Meer deutlich erkennbar abzeichnete. Und was ist heute aus diesem einst so verwunschenen Ort geworden? Einzig und allein stand da noch das Alte Kurhaus, fast wie ein einsamer und stoischer Fels in der Brandung, der sich aus überlebter Tradition gegen die neue Zeit stemmte. Ansonsten war der Ort kaum noch wiederzuerkennen. Die vielen neugebauten Ferienwohnungen entstellten das ursprüngliche Gesicht des ganzen Ortes fast vollständig.

      Er musste diesen Enno Fedder unbedingt fragen, ob er zufällig mit Jülf verwandt sei. Robert saß sicher in seinem Auto wie in einem Faradayschen Käfig und wartete darauf, dass endlich die Kollegen von der Spurensicherung eintreffen würden. Diese Leute hätten natürlich nicht die geringste Chance, irgendwelche Details auf dem Kutter aufzuspüren oder gar sicherzustellen, die auf eine mögliche Todesursache des Mannes verwertbare Hinweise liefern könnten. Sie würden vermutlich die Wasserleiche einfach nur einsacken und abtransportieren.

      Und genau so, wie es sich Robert bereits ausgemalt hatte, traf es eine Stunde später ein. Nach ihrer routinierten, jedoch ergebnislosen Untersuchung verpackten die Kollegen den Toten in einen Plastikbehälter und verschwanden anschließend im Zwielicht der untergehenden Sonne.

      Roberts Magen meldete sich. Er verspürte ein leichtes Hungergefühl. Aber ihm war zumindest an diesem Sonntagabend der Appetit auf fangfrischen Fisch gründlich vergangen. Im Handschuhfach entdeckte er eine angerissene Tüte Kartoffelchips. Er stopfte das Zeug in sich hinein, startete den Motor und fuhr nach Hause.

      Kapitel 4

      Als Robert vom Pferdemarkt in die schmale Gasse einbog, in der ein Kino und ein Café ums Überleben kämpften, gelangte er nach ein paar Metern auf eine mit groben Pflastersteinen angelegte Straße. Hier begann das Ziegelhofviertel, eine der inzwischen bevorzugten Wohngegenden der Stadt. Robert überkam bei seinen Streifzügen durch dieses Viertel immer wieder das Gefühl, er betrete an dieser Stelle eine Puppenstubenstadt, so klein und gediegen waren einige der Häuser. Die mit Rosen und Buchsbaumhecken bepflanzten Vorgärten waren ebenso winzig wie die Häuser selbst und von den davorliegenden schmalen Bürgersteigen konnte jeder Passant direkt in die Wohnzimmer der Menschen blicken. Jedes Mal, wenn er in der hiesigen Regionalzeitung las, Oldenburg wäre eine Großstadt, musste er schmunzeln. Dabei stimmte diese Einordnung durchaus, denn in der Stadt lebten über 100.000 Einwohner, genau genommen waren es sogar über 162.000. Und Jahr für Jahr nahm diese Zahl noch zu, denn Oldenburg hatte sich eine Gediegenheit bewahrt, die die Menschen, die hier lebten, sehr schätzten.

      Aber es blieb nicht nur bei diesem Puppenstubenstadtgefühl. Schon nach wenigen Metern änderte sich der Gesamteindruck. In einem der nächsten und schäbig wirkenden Mehrfamilienhäuser, an dessen Außenfassade seit den letzten Weltkriegstagen offenbar keinerlei Renovierungen mehr durchgeführt worden waren, lebte Roberts Mutter nun schon seit vielen Jahrzehnten. Über einem der Kellerfenster dieses aschgrauen Gebäudes waren noch immer deutlich drei mit weißer Farbe aufgemalte Großbuchstaben LSR mit einem Richtungspfeil hin zur Fensteröffnung gut lesbar. Die alte Dame wunderte sich selbst am meisten darüber, dass sie es für einen Großteil ihres Lebens hier ausgehalten hatte, denn die Wohnung war alles andere als komfortabel.

      Rixte Rieken war geistig noch sehr fit, fuhr sogar noch Auto, auch wenn inzwischen der klapprige R 4 immer mehr Beulen bekam, über deren Entstehung sie nicht sprach und auch nichts wissen wollte. Sie nahm am Leben noch regen Anteil, soweit dies ihre gesundheitlichen Einschränkungen erlaubten. Rixte litt schon jahrelang an unregelmäßig auftauchenden, nicht therapierbaren Migräneanfällen, an denen ganze Generationen von Fachärzten wie Spezialisten verzweifelt waren. Keiner der Mediziner


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