Lord Jim. Joseph Conrad

Lord Jim - Joseph Conrad


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Jim nicht über seine Gefühle während der zehn Tage, die er an Bord verbrachte. Aus der Art, wie er diesen Teil erzählte, konnte ich schließen, daß er von der Entdeckung, die er gemacht hatte – der Entdeckung über sich selbst –, hart betroffen war und sich nun bemühte, sie dem einzigen Mann, der ihre ganze Schwere zu beurteilen imstande war, wegzuexplizieren. Ihr müßt wissen, daß er nicht versuchte, ihre Bedeutung zu verkleinern. Dessen bin ich sicher, und darin liegt sein Vorzug, über die Empfindungen aber, die ihn bestürmten, als er an Land kam und den unvorhergesehenen Schluß der Geschichte hörte, in der er eine so erbarmungswürdige Rolle gespielt hatte, sagte er mir nichts, und es ist schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen. Ob er wohl das Gefühl hatte, als wäre ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden? Ich wüßte es gern. Aber zweifellos gelang es ihm sehr bald wieder, einen festen Standpunkt zu gewinnen. Er war ganze vierzehn Tage an Land im Matrosenheim, und da noch sechs bis sieben andere Männer sich dort aufhielten, hörte ich zuweilen ein wenig von ihm reden. Ihr oberflächliches Urteil schien zu sein, daß er, abgesehen von seinen übrigen Mängeln, ein brummiger Patron sei. Er hatte diese Tage auf der Veranda zugebracht, in einem Liegestuhl vergraben, und war nur zu den Mahlzeiten oder spät nachts aus seiner Verborgenheit herausgekrochen, wo er dann allein, von seiner Umgebung losgelöst, unentschlossen und schweigend über die Kais irrte, wie ein vertriebener Geist, der keine Stätte hat. »Ich glaube, ich habe in der Zeit keine drei Worte mit einem lebenden Wesen gesprochen«, sagte er und fügte gleich hinzu: »Einer dieser Kerle wäre sicherlich mit etwas herausgeplatzt, was ich entschlossen war, nicht hinzunehmen, und ich wollte keinen Streit. Nein. Damals nicht. Ich war zu – zu... Ich hatte nicht das Herz dazu.« – »Das Schott hat's also doch ausgehalten«, meinte ich leichthin. – »Ja«, erwiderte er leise, »es hielt. Und doch schwöre ich Ihnen, daß ich fühlte, wie es mir unter den Händen nachgab.« – »Es ist seltsam, wieviel altes Eisen manchmal aushält«, meinte ich. In seinen Stuhl zurückgeworfen, Arme und Beine steif herunterhängend, nickte er ein paarmal mit dem Kopf. Es ließ sich kein traurigerer Anblick denken. Plötzlich hob er den Kopf; er richtete sich auf und schlug sich auf die Schenkel. »Ach! Was für eine Gelegenheit habe ich versäumt! Mein Gott! Was für eine Gelegenheit habe ich versäumt!« stieß er hervor, und dieses letzte »versäumt« entrang sich ihm wie ein Schmerzensschrei.

      Er versank wieder in Schweigen, sah mit einem stillen, abwesenden Blick voll wilden Verlangens der versäumten Heldentat nach; seine Nüstern blähten sich, als atmeten sie den berauschenden Duft dieser ungenützten Gelegenheit. Wenn ihr meint, daß mich das überrascht oder empört hätte, so tut ihr mir in mehr als einer Hinsicht unrecht. Ah, der Teufelskerl hatte Phantasie! Er wollte sich hingeben, sich opfern. In dem Blick, den er in die Nacht schickte, sah ich sein ganzes inneres Sein, hinausgestellt in das Fabelreich heroischer Träume. Er hatte keine Muße, das zu betrauern, was er verloren hatte, er war so völlig und ausschließlich von dem erfüllt, was zu erlangen ihm mißglückt war. Er war sehr weit von mir weg, der ich ihn aus drei Fuß Entfernung beobachtete. Mit jedem Augenblick drang er tiefer in die unmögliche Welt romantischen Vollbringens. Schließlich drang er bis zu ihrem Kern vor. Ein fremdartiger Ausdruck von Seligkeit breitete sich über seine Züge, seine Augen funkelten im Kerzenschein; er lächelte. Er war bis zu dem Kern vorgedrungen – wahrhaftig, bis zu dem Kern. Es war ein ekstatisches Lächeln, das eure Gesichter nie annehmen können, meins auch nicht, liebe Jungens. Ich erweckte ihn, indem ich sagte: »Sie meinen, wenn Sie beim Schiff geblieben wären.«

      Er sah mich mit weitgeöffneten, schmerzerfüllten Augen und einem erschrockenen, leidenden Gesichtsausdruck an, als wäre er eben von einem Stern heruntergefallen. Keiner von uns wird jemals einen Menschen so ansehen. Ein Schauder schüttelte ihn, als ob ein kalter Finger an sein Herz gerührt hätte. Schließlich seufzte er tief auf.

      Ich war in keiner barmherzigen Stimmung. Er reizte einen durch seine widerspruchsvollen Enthüllungen. »Es ist sehr bedauerlich, daß Sie das nicht vorher wußten!« sagte ich mit der unfreundlichsten Absicht; doch der tückische Pfeil verfehlte sein Ziel, er fiel sozusagen zu Jims Füßen nieder, und der dachte nicht daran, ihn aufzuheben. Vielleicht hatte er ihn nicht einmal bemerkt. Gleich darauf sagte er, sich bequem ausstreckend: »Hol's der Teufel! Ich sage Ihnen, es bog sich. Ich hielt meine Lampe längs des Winkelbands in dem Zwischendeck, als ein Stück Rost, so groß wie meine Handfläche, ganz von selbst von der Platte herunterfiel.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Das Ding bewegte sich und sprang weg wie etwas Lebendiges, als ich darauf hinsah.« – »Da war Ihnen wohl recht schlimm zumute«, warf ich ein. – »Glauben Sie denn, daß ich an mich selbst dachte, wo doch allein hundertsechzig Menschen knapp hinter mir in dem vorderen Zwischendeck lagen, – noch mehr achtern – noch mehr auf dem Hauptdeck, alle fest schlafend, nichts ahnend – dreimal soviel, als in den Booten Platz hatten, selbst wenn Zeit dazu gewesen wäre? Ich erwartete jeden Augenblick, während ich dastand, daß die Eisenwand bersten und das Wasser über sie hereinbrechen würde... Was konnte ich tun – was?«

      Ich kann ihn mir leicht vorstellen, in dem mit Menschen angefüllten, höhlenartigen Raum, die Atemzüge der ahnungslosen Schläfer im Ohr, vor dem von der Kugellampe halb erleuchteten Schott, gegen dessen Außenseite sich der Ozean anstemmte. Ich kann ihn auf das Eisen starren sehen, wie vom Donner gerührt über den herunterfallenden Rost, niedergeschmettert von dem Bewußtsein des nahen Todes. Dies geschah, wie ich verstand, als sein Kapitän, der ihn wahrscheinlich von der Brücke herunterhaben wollte, ihn zum zweiten Male dorthin beordert hatte. Er sagte mir, daß seine erste Regung die war, loszuschreien und all diese Menschen den Sprung vom Schlaf ins Entsetzen tun zu lassen, aber es überkam ihn ein solch überwältigendes Gefühl seiner Hilflosigkeit, daß er keinen Laut hervorbringen konnte. Dies ist es, glaube ich, was man darunter versteht, daß einem die Zunge am Gaumen festklebt. »Zu trocken« war der knappe Ausdruck, mit dem er seinen Zustand kennzeichnete. Ohne einen Laut also kletterte er durch die Luke Nummer eins auf Deck. Ein Windsegel, das dort ausgebracht war, wehte ihm entgegen, und er erinnerte sich, daß der leichte Schlag der Leinwand gegen sein Gesicht ihn beinahe von der Leiter hinuntergeworfen hätte.

      Er gestand, daß seine Knie gehörig schlotterten, wie er auf dem Vorderdeck stand, abermals einen Haufen Schläfer vor sich. Die Maschinen waren angehalten worden, und der Dampf strömte aus. Von seinem tiefen Dröhnen hallte die Nacht wie eine Baßsaite. Das Schiff zitterte davon.

      Er sah, wie hie und da ein Kopf sich von einer Matte erhob, eine unbestimmte Form sich aufrichtete, einen Augenblick schläfrig lauschte und wieder in das wogende Durcheinander von Kisten, Dampfwinden, Ventilatoren zurücksank. Er erkannte, daß all diese Menschen nicht genug wußten, um sich das seltsame Geräusch verstandesmäßig erklären zu können. Das Schiff, aus Eisen, die Männer mit weißen Gesichtern, all diese Erscheinungen und Töne, alles und jedes an Bord, war für diese unwissende, gläubige Menge gleich seltsam und ebenso vertrauenswürdig wie unbegreiflich. Es kam ihm der Gedanke, daß diese Unkenntnis ein Glück war. Aber der Gedanke war einfach entsetzlich.

      Man darf nicht vergessen, daß er, wie es jeder andere Mann an seiner Stelle hätte sein müssen, der Überzeugung war, das Schiff würde jeden Augenblick untergehen; die überlasteten, rostzerfressenen Platten mußten schließlich unfehlbar zusammenbrechen wie ein unterwühlter Damm und eine jähe, alles überflutende Sturzwelle einlassen. Er stand still, den Blick auf diese ruhenden Leiber gerichtet, ein Gezeichneter, der sein Schicksal kennt und sich in der stummen Gesellschaft der Toten umsieht. Sie waren tot! Nichts konnte sie retten! Boote waren vielleicht für die Hälfte von ihnen da, aber es war keine Zeit. Keine Zeit! Keine Zeit! Es schien nicht der Mühe wert, die Lippen zu öffnen, Hand oder Fuß zu bewegen. Bevor er drei Worte ausstoßen, drei Schritte machen konnte, mußte er in die See hinuntertaumeln, die von den wahnwitzigen Kämpfen menschlicher Wesen schrecklich aufschäumen, von gräßlichem Hilfegeschrei widerhallen würde. Es gab keine Hilfe; er konnte sich genau vorstellen, was geschehen würde; er durchlebte es alles, wie er mit der Lampe in der Hand bewegungslos vor der Luke stand, – er durchlebte es bis in die letzte fürchterlichste Einzelheit. Ich glaube, er durchlebte es noch einmal, während er mir diese Dinge erzählte, die er vor Gericht nicht sagen konnte.

      »Ich sah so deutlich, wie ich Sie jetzt sehe, daß ich nichts tun konnte. Es war, als ob meine Glieder zu Stein erstarrten. Ich dachte, ich könnte ebensogut stehenbleiben, wo ich war, und warten. Ich glaubte nicht, daß mir viele Sekunden blieben...«


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