Zeit der Drachen. Josef Hahn
wandte sich seinem 6-jährigen Sohn zu, der verschreckt in einer Ecke des Raumes am Boden kauerte: „Höre zu und merke es dir. Nie in deinem Leben sollst Du diesen Tag vergessen. Und die Rache dafür auch nicht! – Und jetzt verschwinde in den Kanal, rasch. Möge dich der Gott unserer Väter beschützen!“
Aaron nickte nur. Er war unfähig irgendetwas zu sagen. Zu sehr hatten ihn die Schüsse und Schreie der Kämpfenden erschreckt. Mira nahm ihn bei der Hand und öffnete den Kanaldeckel vor ihrer Wohnungstür. Dann half sie ihm hinein, drückte ich noch ein Foto der Familie aus besseren Tagen in die Hand: „Bewahre es gut und vergiss uns nicht“. Dann verschloss sie den Gully Deckel. Es war allerhöchste Zeit. Ungehindert flossen nun ihre Tränen.
Es gab in Warschau ein unterirdisches Kanalsystem, durch das eine Rettung einzelner unter schwierigsten Bedingungen möglich war. Einige konnte so nach draußen gelangen. Sie gingen nach der Befreiung nach Palästina oder später Israel und bauten dort das Museum der Ghettokämpfer auf: eine ständige Erinnerung an den jüdischen Mut im Warschauer Ghetto.
Hinter einer Ecke konnte man schon die ersten SS’ler erkennen. Geduckt sprangen sie vor und feuerten auf alles, was sie sahen. Und hinter ihnen folgten andere mit Flammenwerfern. Die erledigten den Rest. Es wurde bestialisch heiß und die Rauchschwaden verhinderten fast jede Sicht und reizten die Atemwege.
„Es ist soweit“, sagte Goran mit stockender Stimme. „Leb wohl. Ich liebe Dich! Möge Gott mir vergeben“ Dann drückte er ab. Mira fiel. Darauf nahm er den Lauf des Karabiners in seinen Mund und zog ebenfalls durch.
„Schau, da sind noch zwei tote Juden“, rief einer der SS-Männer seinem Kameraden zu. „In der Hölle sollen sie braten“, erwiderte dieser und richtete seinen Flammenwerfer auf die beiden Leichen. Das Haus und mehrere noch Lebende im Haus, meist Alte und Babys, verbrannten zu Asche. „Warum stinken die denn so?“, fragte der junge SS’ler. „Weil sie Juden sind! Die stinken lebendig und tot. Immer stinken sie! Heil Hitler!“
Seit 1939 verfuhren die Besatzer mit den Juden in Polen ähnlich wie in Deutschland. Schon 1939 plante man einen jüdischen Wohnbezirk, Ghetto genannt, in Warschau zu errichten. Auf 2,4 % der Fläche Warschaus sollten circa 30 % der Bewohner leben, mehr als 550.000 Menschen. Die Gefahr von Typhus und Fleckfieber war omnipräsent.
Ein Großteil der Ghettobevölkerung litt Hunger; nur etwa 15 % der Bewohner waren ausreichend ernährt, andere starben an Infektionen und Krankheiten. Als es den Menschen im Ghetto dämmerte, dass die Deutschen ihre komplette Ausrottung planten, formierte sich der Widerstand. Die Juden setzten sich erstmals gegen die Deutschen zur Wehr.
Die völlig unzureichend bewaffneten Aufständischen lieferten der Besatzungsmacht mehrere Wochen lang erbitterte Gefechte mit heftigen Straßenkämpfen. Doch am Ende reichte es nicht, die deutsche Besatzungsmacht zerschlug den Aufstand, räucherte die versteckten Zivilisten aus und tötete insgesamt mehr als 13.000 Menschen.
Die Überlebenden wurden in das Vernichtungslager Treblinka gesteckt. Am 16. Mai 1943 sprengte der SS-Brigadeführer Jürgen Stroop die Große Synagoge im Ghetto und besiegelte damit das Ende der jüdischen Bevölkerung in Warschau.
Aber die mutige Aktion der Ghetto-Bewohner ging als Symbol des jüdischen Widerstands in die Geschichte ein. Denn zum ersten Mal wurden die deutschen Pläne durchkreuzt. Zum ersten Mal brach der Nimbus vom unantastbaren, allmächtigen Deutschen zusammen. Zum ersten Mal gewann die jüdische Bevölkerung die Überzeugung, es sei möglich, der deutschen Stärke. Der Widerstand der Ghettobewohner war zeitweise derartig heftig, dass die Deutschen sogar einmal erfolglos mit weißen Tüchern um einen 15-minütigen Waffenstillstand baten.
Der Weg in den Kampf mag einem Mut der Verzweiflung entsprungen sein: der Welt zu zeigen, dass auch die Juden kämpfen konnten und sich nicht widerstandslos wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen wollten.
Am 7. Mai wurde der Kommandobunker der Aufständischen durch die Deutschen entdeckt und angegriffen. Viele Personen begingen Selbstmord oder starben durch Gas, das die Deutschen in den Bunker leiteten. Geflohene Aufständische wurden in konspirativen Wohnungen versteckt oder gingen in die Wälder. Einige wurden Partisanen. Insgesamt forderten die Kämpfe 12.000 Opfer. Weitere 30.000 Menschen wurden nach den Kämpfen erschossen, 7.000 in Vernichtungslager transportiert.
Der kleine Aaron hatte überlebt. Im Kanal hockend, ausgeliefert dem Gestank und den Unappetitlichkeiten der zähe vorüber rinnenden Brühe und den unzähligen Ratten, die ihn dauernd belagerten, an ihm hochkrochen und versuchten ihm ins Gesicht zu beißen. Er revanchierte sich auf seine Weise. Nach drei Tagen plagten ihn Hunger und Durst dermaßen, dass er eines der vorwitzigen Viecher fing und ihm in den Hals biss. Das Rattenblut schmeckte zwar ganz abscheulich, aber der Durst war weg. Er fraß dann noch den Rest des Tieres auf, roh. Seltsamerweise verursachte das bei ihm keinerlei Erkrankung. Gott beschützt mich, dachte er sich. Nach weiteren zwei Tagen fanden sie ihn. Drei Männer, die sich ebenfalls gegen die Deutschen gestellt hatten und nun, nach Beendigung der Kämpfe, einen Fluchtweg durch den Kanal suchten. „Hoho, wer bist denn du?“, sprach ihn einer an.
„Mama und Papa sind tot. Mich haben sie da hineingeschmissen. Ich soll sie rächen – irgendwie, haben sie mir noch gesagt. Aaron bin ich“, stammelte das verschreckte und halbverhungerte Kind. „Aaron? Dann bist du einer von uns! Komm mit!“ Der Mann nahm das Kind wie einen Kohlensack über seine Schulter. Mit ihm stolperten sie weiter. Und sie hatten Glück! Sie fanden einen Ausgang außerhalb des Ghettos nahe der Weichsel. Keine Soldaten waren zu sehen. Ungehindert kletterten sie heraus und warfen sich als erstes samt ihren stinkenden Gewändern in den noch kalten Fluss. „Ah! Das tut gut. Den Gestank loswerden. Wir wollen nach Palästina, Aaron. Willst Du mitkommen?“
Natürlich wollte er. Auch wenn er sich darunter gar nichts vorstellen konnte. Egal. Er hatte niemanden mehr in Warschau, dem er sich zugehörig fühlte. Traurig betrachtete er das Foto seiner Eltern. „Sie sind tot“, begann er zu weinen. „Ganz, ganz tot!“ Sein Retter, er nannte sich Shmuel, nickte. „Vergiss sie nicht! Mehr kannst du nicht für sie tun. Vergiss auch nie, wer ihnen und uns das angetan hat.“
Aaron unterdrückte krampfhaft seine Tränen und nahm sich das vor. Nie wollte er vergessen, was die Deutschen und ihre Helfershelfer den Juden angetan hatten. Auf mancherlei Umwegen und mit vielen Strapazen erreichten sie alle wohlbehalten ihr gelobtes Land: Palästina!
Mit 16 Jahren schloss sich Aaron Goldberg der Haganah1 an und wurde kurze Zeit darauf von der regulären Armee übernommen. Er zeichnete sich bei Kämpfen an der Grenze mehrfach aus, absolvierte den Offizierslehrgang und wurde Kampfpilot. In der neugeschaffenen Luftwaffe fand er seinen Platz und machte rasch Karriere.
Er heiratete eine junge schwarzhaarige Tzabar2, zeugte mit ihr eine neue Goldberg und hätte eigentlich ein zufriedenes Leben führen können.
Doch dann geschah das für ihn Unfassbare. Ein Selbstmordattentäter der Hisbollah sprengte sich mitten in einem Einkaufzentrum in Tel Aviv in die Luft. 34 Menschen riss er mit in den Tod. Aarons Frau und seine Tochter waren unter den Opfern. Aarons Haar wurde über Nacht schlohweiß und er vergrub sich zwei Wochen lang in seiner Wohnung.
Die Palästinenser und Iraner bejubelten ihren Märtyrer; es war dies eines der ersten Selbstmordattentate überhaupt. In Aaron stiegen die Erinnerungen an das Warschauer Ghetto wieder hoch. In seine grenzenlose Trauer um Frau und Tochter mischte sich blanke Wut.
Er machte keinen Unterschied mehr zwischen den Deutschen und den Arabern. Beide töteten sie Juden! Seine Gedanken kreisten nur mehr um Rache. Rache für seine getöteten Eltern und Rache für seine ermordete Frau und Tochter.
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Vereinte Nationen
In New York jagte eine Krisensitzung die andere. Im Sicherheitsrat beschuldigten sich die USA und Russland gegenseitig, die sich abzeichnende Eskalation zwischen Israel und dem Iran unterstützt und gefördert zu haben.
Die Appelle des Generalsekretärs zeigten keine Wirkung. Die Ratsmitglieder fanden zu keiner gemeinsamen Resolution. Eigentlich