Panoptikum. Йозеф Рот

Panoptikum - Йозеф Рот


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Phantasie vorgriff, um sie überflüssig zu machen, und in der alles plastisch vorhanden zu sein schien, was man sich sonst mit geschlossenen Augen kaum in verschwimmenden Umrissen ausmalen darf. Die Schatten waren eben Körper geworden und warfen eigene Schatten.

      Über allem lag eine makabre Stimmung. Aber sie entströmte nicht so sehr den dargestellten Katastrophen (wie etwa der Christenverfolgung in Rom und der unterirdischen Welt der Katakomben), sondern viel eher der unerbittlichen Körperlichkeit, in die alle Ausgeburten der Phantasie hineingesprungen waren, dieser wächsernen Härte, umgeben von historisch unanfechtbaren Requisiten und diesem legitimen Geschichtsunterricht, an dem nicht mehr gezweifelt werden konnte, einfach, weil er aus Wachs war und gar nicht vom Fleck zu rühren. Es war wie eine Begegnung mit okkulten Erscheinungen, obwohl alles Okkulte und der Vernunft schwer Zugängliche rationalistisch präpariert allen irdischen Sinnen aufgedrängt wurde. Man konnte Wunder mit körperlichen Augen sehen und war infolgedessen ein bißchen niedergedrückt und in Sorge, die liebe Erde zu verlieren, auf der man so gerne glaubend und zweifelnd herumwandert.

      Nur in einer einzigen Abteilung – Palais de Mirages, im Märchenpalast also – war die Begegnung mit dem Wunderbaren nicht schrecklich, sondern heiter. In diesem Palast sind alle Wände und die Decke aus Spiegeln. In der Mitte stehen ein paar Säulen, deren Aufgabe es ist, nicht die Decke zu stützen, sondern sich selbst zu vervielfältigen. Es ist ein besonderes System drehbarer Spiegel, die ein unwahrscheinliches Getöse verursachen, sobald man sie in Bewegung bringt. Um das Getöse zu übertönen, veranstaltet ein Orgelmechanismus eine Opernmusik, die aus Porzellanhimmeln, Messingsphären und Stanniolplaneten zu kommen scheint. Eine Zeitlang ist es stockfinster. Eine Pause, die dazu dient, die erregten Sinne auf ein neues Märchen vorzubereiten, und allen Besuchern Gelegenheit gibt, die Körper ihrer vertrauten Begleiterinnen wie fremde Wunder im Finstern zu fühlen. Dann leuchtet es langsam auf, von hunderttausend Lampen und Ampeln, violett, gelb, grün, blau, rot, und man befindet sich im orientalischen Palast, der von durchsichtigen Säulen getragen wird. Vor einigen Minuten waren es noch dichtbelaubte Eichen und Ahornbäume, und man befand sich in einem deutsch-französischen Märchenwald mit Orgelgezwitscher. Bald dröhnt es wieder, und flugs stehen wir unter einem blauen Sternen- und Kometenzelt.

      Erst in diesem Palast gelangten die Besucher aus der flüsternden Furcht in ihre natürliche Spektakelfreude. Denn sosehr auch hier das Unwahrscheinlichste wirklich geworden war, so blieb doch diese von vornherein zugestandene Märchenhaftigkeit ein Kinderspiel, verglichen mit den Wahrscheinlichkeiten und Wirklichkeiten der menschlichen Geschichte. Es war keineswegs merkwürdig, aus dem Wald in die Alhambra mit einem Schlag versetzt zu werden. Aber unmöglich schien die Kreuzigung Christi, der Tod Napoleons, die Ermordung Marats, das Zirkusspiel der Römer. Ja, selbst die zeitgenössischen Politiker, deren Leistungen erst in hundert Jahren die panoptikale Reife erlangt haben werden, wirkten schon so, wie sie dastanden, im Bratenrock und Zylinder, unmöglich und gespenstisch. Wie wenige von all den Besuchern wußten, daß sie vor sich selbst erschrocken waren und eigentlich noch in den Straßen hätten erschrecken müssen – – vor ihrem eigenen Spiegelbild in einem Schaufenster! Da gingen sie wieder herum, aus Wachs und aus Gips, mit allen Schrecknissen des Panoptikums in der eigenen Brust, und eines jeden Seele war eine Folterkammer. Es regnete immer noch, schief und strichweise, die gelben Wolken galoppierten über den Dächern, und tausend Regenschirme schwankten unheimlich über den Köpfen der Unheimlichen ...

      Gedicht von Wandkalendern

      In meiner Kindheit (und vielleicht nur in dem Land, in dem ich sie verlebt habe) gab es eine besondere Art von Wandkalendern, an die ich mich jedes Jahr in den Wintermonaten erinnere, wie man sich an Weihnachtsbäume und Großmütter erinnert, an Bilderbücher und Bonbons, an alle Personen und Dinge, die einen Glanz, eine Süße und eine Wärme hatten und die in ein gläsernes Grab gesunken scheinen, immer noch sichtbar, aber tot, Reliquien der heiligen Kindheit. Die Wandkalender bestanden, wie die heutigen auch, aus einem dicken Bündel neuer, glänzender, schwarzer und roter Tage, über die wie ein Bühnenvorhang ein buntes Blättchen gelegt war, darstellend einen Ast voll roter Kirschen oder ein Büschel Veilchen, jedenfalls immer ein blühendes Versprechen des neuen noch zugeklappten Jahres. Das Bündel der 365 Tage steckte an einem ziemlich großen und breiten Pappendeckel, der die Wand, das senkrechte Fundament war, auf dem sich das neue Jahr zu erheben gedachte. Dieses harte Papier war von einem noch härteren Glanz überzogen, von einer lackierten Schicht, einer spiegelnden, gewölbten Oberfläche, in der sich die Sonne konzentrierte, wenn der Wandkalender gegenüber dem Fenster hing, und in der, wie eine ferne Erzählung vom Wetter, die Färbungen des Himmels und der Luft zu lesen waren. Doch war diese Eigenschaft des Glanzes nur eine angenehme sekundäre. Während das Wichtigste die gepreßte, erhabene Illustration auf dem Pappendeckel war, die, obwohl sie das ganze Jahr naturgemäß nicht wechselte, dennoch nicht die gleiche zu bleiben schien und ihre Aktualität bis zum 1. Dezember bewahrte, zu welcher Zeit schon die Erwartung des neuen Kalenders das Bild auf dem alten gewohnt und gewöhnlich machte.

      Was waren das für Illustrationen! Wie leuchteten die starken und einfachen Farben, Rot, Blau, Gold, Grün hochsommerlich mitten im Winter, von jener Kraft, hinter der die Kraft der Phantasie zurückbleibt und von der die Träume dennoch befruchtet werden! Eine Frau, schwarz von Haar, das ein tiefrotes Kopftuch zur Hälfte bedeckte, mit roten Wangen und knallblauen Augen, mit einem Hals und einer Büste wie weißer, noch vom Wasser glänzender und in Sonne segelnder Schwan, mit schweren Zöpfen, die sich an der Brust zusammenfanden wie von einem koketten Wind hingelegt – – solch eine Frau hielt mit beiden Armen ein papierenes Körbchen, das schräg im Pappendeckel steckte, wie mit der Laubsäge gearbeitet schien und nichts weniger als einen Korb voll Weintrauben darstellte, saftiger grüner und dunkelblauer, deren Farbe zwar an Karbonpapier erinnern mochte, aber an ein Karbonpapier, das man nur in der Kindheit kennt, das eine Art Wunder bedeutet, weil es ferne Striche und Buchstaben fernen Blättern vermittelt und das noch umständlicheren Schmutz erzeugt als ein Tintenstift. Welch eine Frau! Sie war offenbar vom Lande, eine Winzerin, ihre roten Lippen waren so weit geöffnet, daß man den siegreichen und gefährlichen Glanz ihrer Zähne sehen konnte. Obwohl sie aus Papier war und offensichtlich ohne Unterleib, schien sie dennoch im ganzen Zimmer einen merkwürdigen und erregenden Duft von Fleisch, Milch und Sommerregen zu verbreiten, sie war lebendig und mehr noch: eine Persönlichkeit, Vertreterin alles Weiblichen und Irdischen. Mit ihr verband ich den Begriff des »Heidnischen« und der Liebe zuerst, und lange Jahre später, als ich in nachbarlichen Dörfern die Bauernmädchen suchte, trug ich ein kindisches Verlangen nach jener Kalenderfrau, und jedem roten Kopftuch, das zwischen Grün aufbrannte, entsprach ein kleines rotes Feuer in meinem Herzen. Ja, heute noch lebt in dem von Skepsis verschont gebliebenen Teil meiner Seele die Sehnsucht nach dem schwarzen Mädchen – und obwohl ich das kurze Haar der Frauen liebe, kann ich an die Zöpfe nicht ohne Wehmut denken.

      Und jedes Jahr kam eine andere Frau. Es kamen Wandkalender mit sentimentalen, zarten, blonden Feen, mit halbwüchsigen Backfischen, die an Schokolade erinnerten, mit Feen, die Kränze im Haar trugen. Und jede Frau versank bis zur Brust im Körbchen, das, wie ich später einmal erfuhr, dazu dienen sollte, Briefe aufzubewahren, in dem ich aber gefundene Haarnadeln gerne verbarg. Aber so weit ich mich heute erinnere, wurden die Wandkalender immer sachlicher, nach den blassen Frauen kamen nur noch Firmeninschriften, es scheint, daß sich die Phantasie der Kalenderfabrikanten allmählich erschöpfte oder daß sie die Erfahrung gemacht hatten, das die Reklame wirksamer sei, wenn kein Bild von ihr ablenke.

      Vielleicht aber gab es diese Kalender auch später noch, nur ich sah sie nicht, weil ich inzwischen so groß geworden war, daß ich die Nägel überragte, an denen die Kalender hingen. Denn wir wachsen über unsere alten Freuden hinaus, andern entgegen, die so hoch hängen, daß wir sie nie erreichen.

      Man munkelt bei Schwannecke

      Obgleich der Lärm, den die redenden Gäste verursachen, weit bedeutender ist als die Gegenstände, die sie behandeln, ergibt er doch jene Art der geselligen und undeutlichen Äußerung, die man Munkeln nennt. Die sehr bestimmte Lautheit nämlich, mit der einer dem andern eine Neuigkeit mitteilt, erzeugt schon selbst das akustische Halbdunkel, die tönende Dämmerung, in der jede Mitteilung ihre Konturen verliert,


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