Killer ohne Skrupel: Ein Jesse Trevellian Thriller. Alfred Bekker
den links von ihm stehenden jungen Mann.
"Mach du das, Alberto!"
"Ich?"
"Hast du es mit den Ohren?"
"Aber..."
"Das am Lincoln-Tunnel war doch nur Spielerei! Jetzt kannst du zeigen, dass du einer von uns bist, Al! Na, los! Leg ihn um und sieh ihm dabei in die Augen..."
Alberto schluckte.
Killer-Joe trat zur Seite.
Alberto hob seine Automatik, zielte und drückte ab. Er verschoss beinahe die Hälfte des Magazininhalts.
*
Es war früher Nachmittag, als Milo und ich auf dem Weg waren, um uns mit Paul Morales zu treffen. Morales war einer unserer Informanten. Er war einer der wenigen Geschäftsleute, die es in der South Bronx bis heute ausgehalten hatten. Er besaß einen Drugstore und einen Coffee Shop. Außerdem einen Zeitungskiosk. Jahrzehntelang hatte er Schutzgelder an die jeweils dominierende Gang gezahlt. Jetzt zahlte er immer noch, aber seit seine Frau bei einer Schießerei zwischen verfeindeten Jugendbanden durch einen Querschläger ums Leben gekommen war, war ihm alles egal.
Die Täter waren nie gefasst worden.
Und vermutlich würde man sie auch nie vor Gericht stellen.
Möglicherweise lebten sie sogar schon gar nicht mehr, sondern hatten bei irgendeiner bewaffneten Auseinandersetzung ihr Leben ausgehaucht, ohne je einen normalen Job gehabt zu haben.
Jedenfalls war Morales bereit, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen.
Denn wenn herauskam, dass er mit dem FBI kooperierte, dann war er ein toter Mann.
Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche.
Unser Treffpunkt war ein Café in der Mott Street in Little Italy. Weit ab von der Bronx. Und ein Ort, an dem es extrem unwahrscheinlich war, ein Mitglied der KILLER ANGELS anzutreffen.
"Wenn Morales das Risiko aufnimmt, sich mit uns zu treffen, muss er etwas anzubieten haben", war Milo überzeugt.
Ich zuckte die Achseln.
"Es ist doch immer dasselbe. Die großen Tiere schirmen sich derart ab, dass man nur schwer an sie herankommt..."
"Wir kriegen sie, Jesse."
"Optimist."
Wir parkten den Wagen am Straßenrand. Die letzten Meter bis zu Antonio's Café, wo wir uns mit Morales verabredet hatten, gingen wir zu Fuß.
Es war ein kleiner, gemütlicher Laden. So, wie man sich Little Italy im Bilderbuch oder im Reiseführer vorstellte.
Wir gingen hinein.
Paul Morales saß zusammengekauert in einer Ecke und trank einen Espresso. Ein kleiner, schmächtiger Mittfünfziger mit braunen Hundeaugen und herabhängenden Wangen. Er war hager und seine faltige, aschgraue Haut ließ ihn älter erscheinen als er war.
"Mr. Morales?", sagte ich.
Morales blickte auf.
Wir zeigten ihm unsere Ausweise.
Er prüfte sie eingehend. Dann atmete er tief durch.
"Ich dachte Ihr Kollege Agent Kronburg würde..."
"Der ist zur Zeit auf einem Lehrgang", sagte ich. "Aber Sie können davon ausgehen, dass wir über alle Informationen verfügen, über die auch Agent Kronburg verfügt."
"Gut", sagte er etwas gedehnt. "Wenn Sie es sagen, Mr. Trevellian." Er beugte sich etwas vor. "Ich bin immer ganz gut informiert. Viele in unserer Gegend würden niemals mit der Polizei reden, weil sie viel zu viel Angst haben. Aber mit mir reden sie..."
Sein Tonfall bekam etwas Verschwörerisches.
"Was haben Sie anzubieten?", fragte ich.
"Ein Foto", raunte er leise.
"Zeigen Sie mal her!"
Er griff in die Innentasche seines kleinkarierten Jacketts und holte ein Polaroid-Foto heraus. Die Qualität war nicht besonders. Ein paar in schwarzes Leder gekleidete Männer waren darauf zu sehen. Im Hintergrund eine himmelblaue Corvette, die aussah, als wäre sie gerade einem Zuhälter aus Harlem gestohlen worden.
Das geschmackvoll auf der Kühlerhaube angebrachte Imitat eines Rinderhorns würde vermutlich als Trophäe an einer Harley enden.
Milo und ich sahen uns das Bild nacheinander an.
Die Brisanz, die darin offenbar lag, war auf Anhieb weder ihm noch mir richtig klar.
"Sehen Sie den Mann mit den dunklen Haaren? Sieht etwas älter aus als die anderen..."
"Ja", nickte ich.
"Das soll angeblich dieser mysteriöse Joe sein - der Anführer der KILLER ANGELS."
"Killer-Joe", entfuhr es Milo.
"Genau", bestätigte Morales.
Es kursierten einige Gerüchte, um wen es sich bei diesem Joe handelte. Aber Tatsache war, dass er sich bisher hervorragend abgeschirmt hatte. Es gab kein Foto von ihm, nur ein paar vage Beschreibungen, die außerdem noch widersprüchlich waren.
Ich blickte nochmal auf das Foto.
Die Qualität des Bildes war schlecht. Aber vielleicht konnten unsere Innendienstler etwas Vernünftiges daraus machen. Rastern, vergrößern, elektronisch bearbeiten. Und wenn man es dann mit den unzähligen Bildern unserer Datenbanken und Archive verglich, stieß man vielleicht auf einen Bekannten.
Wenn wir Glück hatten.
"Erinnert mich irgendwie an den jungen Alain Delon", murmelte ich nachdenklich. "Wer hat das Bild geschossen?"
"Keine Ahnung. Es wurde mir zugespielt von jemandem, der entsprechende Kontakte hat und bisher immer sehr vertrauenswürdig war."
"Und sonst?", hakte Milo nach. "Was wird so geredet?"
Morales zuckte die Achseln.
"Nicht viel. Alle sind sehr schweigsam und wenn Sie mich fragen, dann bedeute das nichts Gutes..."
"Scheint im Augenblick 'ne richtige Eintrittswelle bei den KILLER ANGELS zu geben", stellte ich fest. "Zumindest, wenn man nach der Zahl dieser sogenannten Mutproben geht."
Morales hielt mir seinen dürren Zeigefinger entgegen, als wäre es die Klinge eines Klappmessers.
"Mr. Trevellian, wenn Sie dort aufgewachsen wären und mitbekommen würden, dass Ihre Altersgenossen tolle Wagen fahren, coole Klamotten tragen und die Taschen voller Geld haben, ohne je dafür gearbeitet zu haben, dann würden Sie auch dazugehören wollen... Die bieten den Kids doch genau das, was sie wollen und was die meisten von ihnen vermutlich auf anderem Weg nie bekommen würden - ohne abgeschlossene Schulausbildung."
Ich erwiderte nichts.
Antonio, der Inhaber des Cafés trat heran. Morales' Blick flackerte nervös. Milo bestellte einen Kaffee, ich einen Espresso. Antonio musterte uns einen Augenblick lang, ehe er ging.
Als er weg war, beugte ich mich etwas vor.
"Wir glauben, dass die KILLER ANGELS von jemandem benutzt werden. Jemand, der im Hintergrund bleibt und die Fäden zieht."
"Das wäre schon möglich."
"Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?"
"Sollte ich etwas erfahren, werde ich es Sie wissen lassen, Mr. Trevellian."
"Tun Sie das."
Er sah auf die Uhr.
Dann meinte er plötzlich: "Ich sitze schon viel zu lange hier herum. Ich nehme an, der Staat bezahlt meine Rechnung hier..."
Ich nickte. "Das geht in Ordnung."
Er erhob sich. Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm, ehe er nach seinem Mantel griff und mit einer