Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg. Thomas Hölscher
das Fenster auf, es wurde richtig Power gegeben, und die ganze Waldstraße lag im Fenster und hat mitgeträllert. Heute würde gleich jeder schreien: Mach das Fenster zu! Diese Entwicklung kam natürlich auch durch die Einführung des Fernsehens; das Fernsehen hat vieles von dem kaputt gemacht, was es damals noch an gemeinsamem Leben unter den Leuten gab.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bergbaufamilien resultierte natürlich auch aus der Tatsache, dass der Bergbau damals eben noch viel gefährlicher war als heute und es dementsprechend mehr Unfälle gab. Und durch solche Unfälle kam man dann zwangläufig in die Familien hinein. Auf "Bismarck" habe ich es z.B. einmal erlebt, dass wir in einer Woche drei tödliche Unfälle im Revier hatten; und bei allen drei Unfällen war ich mit als Sargträger eingeteilt. Damals wurden die getöteten Bergleute übrigens noch in den Wohnungen der Familien aufgebahrt. Der letzte, den wir in der besagten Woche beerdigen mussten, wohnte in Resser-Mark, und wir haben ihn von dort mit dumpfem Trommelwirbel bis zum Hauptfriedhof begleitet. Meine Frau war damals als Lehrmädchen in einer Fleischerei auf der Cranger Straße angestellt, und sie kann sich auch noch gut daran erinnern, wie diese Trauerzüge die Cranger Straße hinaufzogen. Und durch diese schrecklichen Ereignisse wurde man jedesmal mit in die betroffenen Familien hineingezogen und hat die Not miterlebt, die plötzlich über die Leute hereingebrochen war. Wenn heute noch jemand tödlich verunglückt, dann spielt sich alles vor der Leichenhalle ab, und es dauert - wenn man die Leute nicht näher kennt - vielleicht eine Stunde, dass man sich Gedanken macht über den Kollegen, über die Familie; aber dann läuft alles wieder auseinander. Damals hat man noch konkret erlebt, wie es in den betroffenen Familien zuging. Nach der Beerdigung war es dann immer so, dass die Musikkapelle und die in Kluft erschienenen Bergleute sich formierten und mit Marschmusik die Cranger Straße wieder hinunterzogen. Anschließend ging es in die erstbeste Kneipe, und dort wurde dann das Fell versoffen. Aber wirklich versoffen.
Derartige Rituale gehörten früher einfach dazu. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass das Standesbewusstsein der Bergleute hier im Ruhrgebiet längst nicht so stark ausgeprägt war wie z.B. in Mitteldeutschland. Da hatte der Bergbau eben eine viel längere Tradition, und die Leute waren auch bodenständiger. Hier im Ruhrgebiet waren die Belegschaften doch von Beginn an bunt zusammengewürfelt: Ostpreußen, Schlesier, und von den 50er Jahren an, als wir zu wenige Leute im Bergbau hatten, kamen die Gastarbeiter, Italiener, Spanier, dann die Türken. Und doch sind all diese Menschen im Ruhrgebiet integriert worden. Ich habe selber auf der Arbeit mit Türken, Italienern, Spaniern die besten Erfahrungen gemacht. Vor allem mit den Menschen, die zuerst gekommen sind, gerade von den Türken. Und die aus Spanien, Belgien oder Italien kamen, das waren doch z.T. Bergbaulegionäre, die auch schon vorher im Bergbau gearbeitet hatten. Zu vielen hatte ich ein Verhältnis, wie man es sich besser nicht vorstellen kann. Da muss ich eine kleine Episode nebenbei erzählen: Im vergangenen Jahr gehe ich in Buer durch die Stadt, und plötzlich springt ein Türke auf mich zu, umarmt mich, die Tränen kommen ihm, und er ruft: Steiger, du lebst ja noch! Der wusste von meinem schweren Infarkt und sagte immer wieder: Du lebst ja noch! Ich muss sagen, diese Anteilnahme nach Jahren war für mich so überwältigend, dass auch mir in dem Augenblick die Tränen kamen. Solch ein Zusammengehörigkeitsgefühl gab es eben unter Tage, weil man genau wusste, dass jeder auf den anderen angewiesen ist.
Natürlich gab es auch mal Spannungen. Die ersten Türken z.B., die hier hinkamen, waren zumeist weltoffene Menschen. Die dann später kamen - ich will jetzt nichts Böses gegen diese Leute sagen - stammten meistens aus dem Osten der Türkei, und sie hatten es in aller Regel schwerer. Sie hatten eine ganz andere Mentalität, und oft haben sie sich regelrecht abgeschottet. Das wurde zumeist schon am Sprachverhalten deutlich: Die ersten wollten schon von sich aus Deutsch lernen; unter denen, die später kamen, waren viele, die sagten: Nein, meine Muttersprache ist Türkisch. Sie konnten schließlich zwar verstehen, was man ihnen gesagt hat; aber darüber hinaus haben sie sich keine Mühe gegeben, Deutsch zu lernen. In den letzten Jahren hatten wir auch des öfteren Probleme während des Ramadan. Die Leute aßen ja von morgens sechs Uhr bis abends 18 Uhr nichts, sollten aber die gleiche Leistung bringen wie die deutschen Kollegen. Da gab es dann auch schon mal Reibereien. Schließlich musste vonseiten der Zeche darauf Rücksicht genommen werden, wir haben akzeptiert, dass das eben zu ihrem Glauben gehört, und dann hat sich alles eingespielt. Man kann auf jeden Fall sagen, dass die Türken immer Kumpel waren. Das waren sie sogar sehr.
Und es ist auch Unfug, wenn heutzutage mit ausländerfeindlichen Parolen argumentiert wird wie: Wenn die Ausländer alle gehen, dann haben die Deutschen alle wieder Arbeit. Auf den Bergbau trifft das schon gar nicht zu; denn man darf sich doch da nichts vormachen: der deutsche Bergbau ist endgültig auf dem sterbenden Ast. Bei den Kosten, die unser Bergbau im Augenblick verschlingt, sind wir schon lange nicht mehr konkurrenzfähig, können wir mit unseren Preisen auf dem Weltmarkt gar nicht mehr existieren. Natürlich frage ich mich auch, ob man das alles einfach so zugrunde gehen lassen darf; denn selbst wenn unsere Kohle viel zu teuer ist, so steht hinter dem deutschen Bergbau doch ein unglaubliches und in der ganzen Welt gefragtes technisches Know-how, das man im Zweifelsfall natürlich ebenfalls aufgeben würde. Darf man das wirklich jetzt alles zugrunde gehen lassen? Und mit der Stillegung der letzten Zeche machen wir uns vollständig abhängig vom Ausland. Letzte Woche ging außerdem noch folgendes durch die Presse: Wenn das Bestreben, alle Kernkraftwerke stillzulegen, tatsächlich realisiert wird, dann müssten wir 19 Kohlekraftwerke bauen, um nur diese Lücke zu schließen. Das sind Dinge, die man nicht einfach vom Tisch wischen kann. Da müssen endlich verlässliche Entscheidungen getroffen werden. Wir können auch nicht weiterhin sagen: alles was stinkt oder irgendwelche Risiken in sich birgt, das bauen wir einfach ab; denn auf unseren Wohlstand, auf den Lebensstandard, die Bequemlichkeit wollen wir doch auch nicht verzichten. Wenn überhaupt, dann kann eine Änderung der augenblicklichen Situation nach meiner Meinung nur noch von oben kommen, von der Politik, und daran glaube ich nicht. Vonseiten der Bergleute sehe ich keine realistische Möglichkeit, noch eine Änderung herbeizuführen oder gar zu erzwingen. Schon deshalb nicht, weil ja die Größe der Belegschaft und damit die Macht der Bergleute immer mehr schrumpfen. Ich sehe nur die eine Chance, dass die politische Entscheidung getroffen wird, eine bestimmte Menge der Energieversorgung auf jeden Fall durch einheimische Kohle sicherzustellen. Die Anlagen, die jetzt noch existieren, sind schließlich unsere besten Anlagen, und Kohlevorräte sind auch noch für Jahrzehnte vorhanden, so dass wir in Krisenzeiten nicht vollständig von anderen abhängig wären. Unter rein betriebswirtschaftlichen Aspekten würde sich so etwas natürlich nicht rechnen; das wäre überhaupt nur möglich, wenn der Staat dahintersteht und diese Sache auch weiterhin subventioniert. Und eben das kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen. Ich kenne die ehemalige DDR recht gut, ich habe auch noch Verwandte drüben; die Wende habe ich wirklich herbeigesehnt, und ich weiß auch, welche Kosten allein da noch auf uns zukommen werden. Und irgendwann sind einfach die Grenzen staatlicher Finanzierungsmöglichkeiten erreicht. Auch da darf man sich doch nichts vormachen.
Wie gesagt: aus meiner Sicht ist der Bergbau hier am Ende. Ich habe eine ganze Reihe von Bekannten, die noch aktiv tätig sind, wir haben ein regelmäßiges Treffen ehemaliger Steiger, insgesamt erfährt man also noch recht viel über die augenblickliche Situation. Und da stehe ich mit meiner Meinung auch nicht allein. Wir wissen doch alle, was der Bergbau unter Tage kostet. Als ich z.B. 1960 den ersten Streb eingerichtet habe, da hat das ungefähr 1 Million Mark gekostet. Heute kommt man für den gleichen Streb nicht unter 20 Millionen Mark weg. Gut, heute braucht man für den gleichen Streb nur noch ein Fünftel der Leute oder sogar noch weniger, die Personalkosten sind also vielleicht geringer; aber das wird durch die immensen Kosten für die Maschinen wieder ausgeglichen. Heute wird doch nichts mehr mit Panne und Hacke gemacht; da stehen computergesteuerte Maschinen unter Tage, für deren Bedienung man schon fast das Abitur benötigt, um es mal so auszudrücken. In diesem Zusammenhang ist es natürlich erstaunlich, dass der Bergmann sich im Laufe der Jahre in diese neue Technik immer hineindenken konnte; wir haben zwar vonseiten der Zeche Zusatzausbildungen angeboten, aber im großen und ganzen ist der Bergmann immer mit der Technik gewachsen.
Aber was heute zählt, sind allein die Gesetze der Marktwirtschaft. Und da ist das alles eben eine einfache Rechnung. Wenn ein Unternehmer die Wahl hat zwischen einer Tonne Koks für 240 Mark und einer Tonne Koks für 90 Mark, dann ist doch wohl klar, welche Entscheidung er trifft. Und moralische Bedenken zählen auf dem Markt gar nichts. Als ich vor ein paar Wochen in der Gewerkschaftszeitung