Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg. Thomas Hölscher
aber auch gar nichts mehr zu tun hat?
Und natürlich kam in den Gesprächen vor 25 Jahren fast immer „die Vergangenheit“ zur Sprache. Vielleicht ist man zunächst geneigt, diese „Vergangenheit“ lediglich als verklärte Erinnerung abzutun, in der (immer schon) alles größer, schöner und besser war als in der Gegenwart; die in aller Regel gleichzeitig geschilderten z.T. sehr harten Lebensbedingungen sprechen allerdings eher gegen eine verklärte Darstellung der Vergangenheit. Der Unterschied zum Hier-und-Jetzt sagt dann vor allem etwas über die Gegenwart aus. Die Schriftstellerin Ilse Kibgis hat es auf den Punkt gebracht: „Es kommt mir immer noch so vor, als wenn ich in unserer Bergarbeitersiedlung unter lauter Verwandten gewohnt hätte.“ Einen größeren Unterschied zur gegenwärtigen Lebens- und Arbeitswelt der meisten Menschen kann man sich kaum denken. Die postindustrielle Gesellschaft scheint sich längst damit abgefunden zu haben, dass heute nur noch der Erfolg hat, der dem anderen ein Deiwel ist. Wirtschaft ohne Ethik ist eben tatsächlich Teufelskram. „Das 21.Jahrhundert muss von allen gestaltet werden“, meinte der Gelsenkirchener Künstler Alfred Schmidt (verstorben 1997, erster Ehrenbürger des Ruhrgebiets). „Mit Phantasie, mit scharfem Verstand, mit Sinn für Recht und Billigkeit und mit dem Blick für das Wohl des Ganzen. Es würde sonst zur Hölle.“
Deutlich wurde in den Gesprächen aber auch eine Zeitspanne, die sich mit der Vorstellung einer abgeschlossenen „Geschichte“ des Bergbaus ganz offensichtlich noch nicht abfinden wollte und konnte. Über mehr als 150 Jahre hat der Bergbau das soziale Gefüge des Ruhrgebiets maßgeblich geprägt, hat der „Pütt“ als Sozialisationsinstrument Solidarität, Integration und Toleranz gefördert. Gerade in Gesprächen mit jüngeren Bergleuten wurde deutlich, wieviel davon bereits vor 25 Jahren verlorengegangen war und jeden Tag weiter verlorengeht. Die unerträgliche Debatte um die Subventionierung des deutschen Bergbaus vergiftete das Klima, erhöhte den Konkurrenzdruck und beleidigte die Betroffenen, als seien sie Bittsteller oder parasitäre Existenzen. „Ich will lebenden Bergbau, keine Bergbaugeschichte“: mit dieser Forderung eines Gewerkschaftlers war wohl nicht nur der Wunsch nach einem Überleben irgendwelcher Branchen des Bergbaus gemeint, die sich noch gewinnbringend den Gesetzen der sog. freien Marktwirtschaft anpassen lassen; es ging jedenfalls um mehr. In kaum einem Bericht der älteren Bergleute fehlt der Hinweis darauf, dass sich das tägliche Leben in den letzten Jahren - trotz oder auch gerade wegen des gestiegenen Wohlstands - verschlechtert habe; der Hinweis auf die Kultur eines Umgangs miteinander, der angeblich der Ausdruck der sozialen Strukturen dieser Region war und mittlerweile gar nicht mehr denkbar ist.
„Was wir im Augenblick erleben, ist doch nur noch ein Sterben auf Raten“, resignierte ein junger Steiger. Andere gaben sich kampfbereit: „Dann nehmen wir den Hackenstiel in die Hand, und dann geht es zur Sache!“ Damals wirklich noch eine realistische Einschätzung? Oder nicht doch eher das Pfeifen im Walde, das die eigene Angst und Ohnmacht verscheuchen sollte? Wehmütige Erinnerung an eine Zeit, in der der Satz noch galt: Wenn die Ruhr brennt, ist nicht genügend Wasser im Rhein, um das Feuer zu löschen?
Ganz konkrete Probleme waren den meisten ohnehin viel wichtiger: Heute versucht doch jeder nur noch, sich selber irgendwie in den Vorruhestand zu retten. Diese Meinung habe ich nicht nur einmal gehört. „Solidarität kennen diese Bratbären doch gar nicht mehr!“ schimpft ein schon lange im Ruhestand lebender Bergmann; und in der Tat scheint auf dem Weg in die postindustrielle Gesellschaft die Entsolidarisierung die fast zwangsläufige Folge. Nicht nur, dass der Verlust von immer mehr Arbeitsplätzen in der Schwerindustrie die Macht der Gewerkschaften drastisch schwächt; Sinn und Zweck gewerkschaftlichen Tuns scheinen sich vielen nicht mehr zu erschließen: „Als ich in den Vorruhestand gekommen bin“, sagt ein 50jähriger Bergmann, „bin ich sofort aus der Gewerkschaft ausgetreten. Was soll ich denn noch in diesem Verein? Das Geld kann ich besser sparen.“ Nicht einmal ansatzweise spielt die Vorstellung eine Rolle, dass es genau „dieser Verein“ war, der ihm ein Ausscheiden aus dem Berufsleben mit 49 Jahren überhaupt erst erkämpft hat.
„An solchen Dingen tragen wir natürlich auch ein Stück Schuld“, meint ein engagierter Betriebsrat selbstkritisch. „Über Jahrzehnte waren wir für die meisten Kumpel nicht mehr als eine Art Dienstleistungsunternehmen, das ihnen die jährlichen Lohnsteigerungen besorgte. Da darf man sich nicht wundern, wenn heute die Perspektiven fehlen.“ In einer globalisierten und nach sog. Sachzwängen agierenden Welt geht die Solidarität verloren, weil Widerstand sinnlos erscheint und die Würfel doch längst gefallen sind.
„Die Seele vom Ruhrgebiet wäre dann weg!“ hatte ein junger Gesprächspartner das damals absehbare endgültige Aus des Bergbaus kommentiert, und man ist sofort geneigt, ihm zuzustimmen. Aber was bedeutet das konkret: Seele des Ruhrgebiets?
Vielleicht so etwas, was das Wort „Ostalgie“ zum Ausdruck bringen soll, wenn Ostdeutsche meinen, dass in der DDR doch nicht alles nur schlecht gewesen sei, und dafür meist nur mit arroganter Ignoranz oder gar moralischer Empörung bedacht werden? Weil die meisten Menschen in Westdeutschland nicht einmal den Versuch unternehmen, zu verstehen, was damit zum Ausdruck gebracht werden soll.
In einer Zeit, die sich der Probleme unserer Umwelt endlich in immer stärkerem Maße bewusst wird, kann es auf gar keinen Fall bedeuten, dass veraltete Industrien erhalten werden sollten, weil wir uns darin so wohlgefühlt haben, in „unserem urgemütlichen Grubengas-Paradies“, wie Georg Kreisler es in den 50er Jahren boshaft, aber durchaus nicht unkorrekt, formuliert hat. Der Grad an Informiertheit über die Lage und die Fähigkeit, das auch unverstellt zum Ausdruck zu bringen und Perspektiven zu finden, hat mich bei den Gesprächen vor 25 Jahren überrascht. Natürlich müsse es so schnell wie möglich einen Strukturwandel und ein Bewusstsein darüber geben, dass der in einer Region mit einer derartigen industriellen Monokultur sehr lange dauern wird, wurde gesagt. Es müssten Möglichkeiten geschaffen werden, dass die betroffenen Menschen mit all ihren Fähigkeiten in diese Umwandlung eingebunden und nicht mit all ihrem Wissen und ihren Werten und Normen aufs Altenteil geschoben werden. Es müssten Bedürfnisse ausgesprochen werden dürfen, ohne dass irgendwelche von vornherein zu akzeptierenden Sachzwänge oder das zumeist dumme Gerede über die politische Korrektheit das Sprechen unmöglich machen. „Was sind denn Sachzwänge?“, fragte der katholische Geistliche. „Sachzwänge sind immer Menschenzwänge. Eine Sache erzwingt gar nichts, die Menschen, die etwas wollen oder eben nicht wollen, die können etwas erzwingen.“
Wenn ich mir die Gespräche vor 25 Jahren noch einmal anschaue, dann tauchen vor allem Zweifel auf, ob ein solcher Weg wirklich auch nur ansatzweise eingeschlagen wurde. Oft auch das Gefühl, dass vielleicht schon viel zu viel unwiederbringlich den Bach heruntergegangen ist. Das Ende von irgendetwas ist immer auch die Chance, etwas Neues gestalten zu können. „Die Erfahrungen aus der Arbeit unter Tage wurden nach der Schicht gemeinsam bedacht und besprochen. Es hatte sich eine bestimmte Form von Gesellschaftlichkeit herausgebildet, eine bestimmte Art und Weise, miteinander umzugehen. Diese der Demokratie äußerst förderliche Art zu leben verfällt. Und das wird „Fortschritt“ genannt. Gegen ein dürftiges müssen wir ein ganzheitliches Verständnis der Gesellschaft setzen. Wir können sonst nicht mehr zusammen handeln, sondern werden nur noch behandelt, als seien wir tote Gegenstände.“, hatte Alfred Schmidt gewarnt.
Konkret hat eine Stadt wie Gelsenkirchen seit dem Ende der 60er Jahre rund ein Drittel der Bevölkerung verloren, ist die Arbeitslosigkeit in großen Teilen des Ruhrgebiets heute höher als in den neuen Bundesländern. Vor allem gut ausgebildete Menschen haben die Region verlassen, das Angebot an billigem und billigstem Wohnraum in z.T. schrottreifen Immobilien zieht Menschen an, die eher die Zahl der sog. bildungsfernen Haushalte ansteigen lässt. (Ich weiß nicht, ob das politisch korrekt ist, finde es aber auch egal.) Zum Ende des Jahres 2019 stellt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband fest, dass das Ruhrgebiet mittlerweile die am stärksten von Armut betroffene und auch in Zukunft bedrohte Region in ganz Deutschland ist. Der Strukturwandel ist in großen Teilen des Ruhrgebiets eben wirklich kein 100m-Lauf, sondern mindestens ein Marathon. Und vielleicht wäre es gut, sich endlich einmal ganz grundlegend zu fragen, was Strukturwandel überhaupt bedeuten soll. Sollen da bestehende Strukturen soz. in therapeutischer Absicht geändert werden, bis wieder der Zustand irgendeiner „heilen Welt“ erreicht ist und das ganze System wieder besser funktioniert? Oder sollte man Strukturen nicht auch mal gänzlich in Frage stellen dürfen, die mit einem ganzheitlichen Verständnis