Paul und der Biss des Drachen. Jan Paul
Gemeines lag in ihrer Stimme, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Die Alte bückte sich und fuhr mit ihren spitzen, schwarzen Fingernägeln über die Kiste, so dass es ein widerlich kratzendes Geräusch gab. "Nun", setzte sie dramatisch an, "weil das arme Kätzchen … dann leider wohl sterben muss." Mit ausdruckslosem Gesicht blickte sie zu Paul hinauf."Warum?" Paul starrte sie entsetzt an. "Warum muss das Kätzchen dann sterben?" Die Alte sah voller falschen Mitleids auf die Kiste. Die Alte seufzte erneut. "Weil ich Katzen nun mal von ganzem Herzen hasse." Es traf Paul wie ein Schlag, und für den Moment war er völlig unfähig, irgendetwas darauf zu erwidern, was die Alte sofort ausnutzte. "Aber", sah sie ihn herausfordernd an, "so ein Tierfreund wie Sie würde das doch sicher niemals zulassen, oder?" "Nein, niemals", antwortete er wutentbrannt und konnte sich kaum noch zurückhalten, sie zu würgen. Anscheinend ahnte sie seine Absicht, denn sie trat einen Schritt von ihm zurück. Paul überlegte angestrengt, denn er hatte nun mal kein Geld für beide Katzen. "Was ist?", drängte ihn die Alte und warf verstohlene Blick nach allen Seiten. Doch Paul schien immer noch keine Idee zu haben. "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit", wurde ihre Stimme plötzlich schärfer. Sie packte die Kiste und zog sie zu sich. "Wenn Sie nicht wollen, bitte." Sie machte eine kurze Pause. "Dann werfe ich die Kiste eben ungeöffnet in den nächsten Teich." Paul war geschockt von soviel Hass. Auf einmal hatte er einen Plan: Er würde ihr die Kiste einfach entreißen, und alles andere würde sich dann schon finden. Er wollte seine Idee gerade in die Tat umsetzen, als er den Bauern reden hörte. "Macht 40 Mark." "Einen Moment", sagte Paul und starrte die Alte vorwurfsvoll an. Dann wandte er sich zu dem Bauern. Dort stand ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die schon das Kätzchen auf dem Arm hielt. Sprachlos beobachtete er, wie ihr Vater tatsächlich 40 Mark für das Kätzchen bezahlte. Sein Blick fiel hinunter zu dem strahlenden Mädchen. "Weißt Du was?“, sagte er. ,,Das Kätzchen hat schon einen Namen. Es heißt Tiger." Das Mädchen lächelte und nickte. Paul nickte zurück, und er wusste, das Kätzchen würde es sicher gut haben bei ihr. Ohne ein Wort zu verlieren griff er in seine Hosentasche und zog sein Portmonee heraus. "Zwanzig Mark, richtig?" Paul deutete auf die Kiste, als die Alte plötzlich zu fluchen begann: "Oh, nein verdammt", schüttelte sie den Kopf, und ihr Grinsen war im Nu einem entsetzten Blick gewichen."Wie viel dann?", fragte Paul verärgert. Doch zu seinem Erstaunen trat die Alte von der Kiste zurück. "Die Kiste gehört Ihnen, passen Sie, um Himmels willen, gut auf sie auf", flehte sie ihn an. "Ich verstehe nicht", sagte Paul und zuckte verwirrt mit den Schultern."Hör zu!" Die Alte trat nun ganz dicht an ihn heran und flüsterte: "Es liegt jetzt in Deiner Hand, was mit der Kiste geschieht." "Aber ...", setzte Paul an. Doch die Alte wirbelte herum und war im gleichen Moment in der Menge der Menschen verschwunden. Paul starrte ihr verdutzt nach. "Was ist denn mit der passiert?", murmelte er, als ihn plötzlich zwei ungehobelte Typen zur Seite stießen. "Hey, wohl verrückt geworden, wie?", schrie er den beiden wütend nach. Aber keiner von ihnen nahm auch nur Notiz von ihm. "Was für Vollidioten", brummte er schlecht gelaunt und bückte sich nach seiner Brille, die ihm bei dem Stoß heruntergefallen war. "Verrückte Alte", sagte der Bauer, "habe sie hier noch nie gesehen." Doch Paul schwieg, setzte sich die Brille wieder auf und hob die Kiste an. Er war erstaunt, denn sie war ungewöhnlich schwer. "Wer weiß", überlegte der Bauer laut zu Paul gewandt, "was für ein grässliches Tier dort in der Kiste steckt?" "Und trotzdem", sagte Paul scharf, "hat es ganz sicher nicht verdient, in den nächsten Teich geworfen zu werden, oder?" Der Bauer machte eine abfällige Geste und wollte etwas drauf erwidern. "Behalten sie es bloß für sich, verstanden?", kam ihm Paul zuvor und verzog sein Gesicht. Der Bauer räusperte sich und deutete neugierig auf die Kiste. "Oh, nein, kommt ja überhaupt nicht infrage." Paul verstand sofort, was er meinte. "Die Kiste werde ich hier ganz sicher nicht öffnen. Ach, übrigens", sagte er, bevor er sich umdrehte und nach Hause ging: "Sie stinken." Normalerweise brauchte Paul nur fünf Minuten bis nach Hause. Doch wegen der ungewöhnlichen Hitze und der schweren Kiste dauerte es heute mehr als fünfundzwanzig Minuten. Schon nach fünfzig Metern musste er eine Pause einlegen. Eine Bank, die zwischen zwei Bäumen stand, schien dafür bestens geeignet. Paul setzte sich und stellte die Kiste neben sich. Er dachte grübelnd über die Alte auf dem Markt nach. Was war bloß mit ihr los gewesen? Hatte sie etwa einen Geist gesehen, oder war sie nur vor irgendjemandem auf der Flucht? Paul lachte leise in sich hinein. Denn er glaubte schon lange nicht mehr an Geister oder verrückte Wesen. Plötzlich hob er die Augenbrauen. Die beiden Typen, schoss es ihm durch den Kopf. Gut möglich, dass sie hinter ihr her waren, eilig genug hatten sie es ja. Während sein Blick wieder auf die Kiste fiel, überlegte er, ob sich wirklich eine Katze darin befinden würde, oder vielleicht doch ein Tiger-oder Löwenbaby? Er schüttelte den Kopf. "Sicher nicht", murmelte er grinsend und lauschte in die Kiste. Sie war mit vielen schmalen Brettern ordentlich zusammengezimmert. Paul bemerkte ein daumengroßes Astloch und schaute vorsichtig ins Innere der Kiste, als ihn plötzlich etwas anstarrte. Paul wich entsetzt zurück und atmete tief durch. Er dachte an die Alte. Was hatte sie doch gleich zu ihm gesagt? "In meiner Kiste befindet sich ein Kätzchen." Nein, das hatte sie nicht gesagt. Sie hatte sich da irgendwie anders ausgedrückt. Er überlegte weiter, und auf einmal fiel es ihm wieder ein. Sie hatte gesagt, dass sich in der Kiste möglicherweise ein Kätzchen befinden würde. Paul nickte, genauso war es. Aber was meinte sie mit möglicherweise? Es gab einige Worte, die Paul hasste. Und eines davon war genau jenes. Doch die Alte hatte es nun mal gesagt, und Paul schlussfolgerte, dass sie selbst nicht wusste, was sie in ihrer Kiste hatte. Nachdenklich betrachtete er weiter die Kiste, als er mit einem Mal ein Schnaufen hörte. Paul schluckte. "Du bist keine Katze, richtig?, flüsterte er und sah dabei so gebannt auf das Astloch, dass er nicht die Gefahr bemerkte, die unaufhaltsam auf ihn zukam. Es geschah wie aus heiterem Himmel. "Wuff! Wuff!", brach es so plötzlich über ihn herein, dass er fast von der Bank gefallen wäre. Geschockt starrte er in das riesige, fleischige Gesicht einer Bulldogge, deren Zähne nur noch wenige Zentimeter von seinem Hosenbein entfernt waren. Kreidebleich und tonlos formten seine Lippen das Wort "Hilfe!" Doch das befürchtete Blutbad blieb aus, denn das Tier hing an der Leine seines Besitzers. Paul spürte eine endlose Erleichterung, die sich sofort in Wut und Zorn verwandelte. "Ne … nehmen Sie, verdammt nochmal, Ihren Hund weg!", schrie er gegen das laute Gebell an. "Nur keine Panik, mein Lieber", sagte der Hundebesitzer gelassen, der mit Bierbauch und Doppelkinn bald selbst wie eine Bulldogge aussah."Pa… Panik?", schrie Paul außer sich. "Ich habe keine Pa… Panik, ich habe nur Angst!" "Aber doch wohl nicht etwa vor meinem Brutus?", sagte er und zog seinen Hund zu sich. Paul starrte erst ihn und dann seinen Hund an. Die Bulldogge hatte zwar aufgehört zu kläffen, dafür knurrte sie nun und hatte Schaum vor dem Maul. "Brutus ist lammfromm", versicherte er Paul, "der tut keinem was." Dann warf er einen misstrauischen Blick auf die Kiste. "Im Gegenteil, er hat sicher nur Angst vor dem, was Sie dort drinnen haben", vermutete er. "Was?" Paul traute seinen Ohren kaum. "Ja, weiß der Geier, was Sie in Ihrer Kiste haben", brummte der Schwabbelbauch. "Ein Kätzchen", sagte Paul, auch wenn er selbst nicht so recht daran glaubte. Doch der Hundebesitzer schüttelte entschieden den Kopf. "Das ist völlig unmöglich." "Warum?“, fragte Paul überrascht."Weil mein Brutus mit Katzen aufgewachsen ist und bis heute noch nie eine angebellt hat." Paul schluckte. Natürlich hatte er höchstwahrscheinlich recht, aber das konnte und wollte er nicht zugeben. "Dann ist es heute eben das erste Mal." So, jetzt hatte er es ihm aber gegeben. Doch die Retourkutsche folgte prompt. "Wissen Sie, was ich glaube?", sagte der Schwabbelbauch. "Ich glaube, Sie wissen selbst nicht, was in Ihrer Kiste ist." Dann zog er an der Leine. "Komm, Brutus, lass uns nach Hause gehen!" Sprachlos sah Paul den beiden nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Seufzend überlegte er, was sich wohl in der Kiste verbergen könnte, stand auf und machte sich mit ihr langsam auf den Nachhauseweg. Zwanzig Minuten später stand er mit der Kiste völlig erschöpft vor seiner Haustür. "Hoffentlich", murmelte er, "schaffe ich es bis hinauf in den siebten Stock, ohne dass ich gesehen werde." Er konzentrierte sich auf jedes Geräusch, nachdem er leise wie ein Dieb die Haustür aufgeschlossen und den Flur betreten hatte. Zum Glück war niemand zu sehen oder zu hören. Ohne zu zögern schnappte er sich die Kiste, die kurz als Türstopper herhalten musste, und eilte zur Treppe. "Ja", seufzte er leise, "jetzt wäre ein Fahrstuhl wirklich mal hilfreich gewesen." Bis zum dritten Stock verlief alles bestens. Doch dann, wie konnte es auch anders sein, geschah etwas Unvorhergesehenes.Er stellte die Kiste auf einer der Stufen zum vierten Stock ab um zu verschnaufen. Es war nur ein kurzer Moment, um neue Kräfte zu sammeln. Schließlich bückte er sich wieder, als das Unheil geschah. Seine Hände hatten schon die Kiste ein Stück weit angehoben, als sie sich plötzlich zu schütteln