Die Geschichte von der 1002. Nacht. Йозеф Рот
die seidene Taschentücher vor die Münder hielten. Hie und da flüsterte eine Dame der andern etwas zu. Es war eigentlich kein Flüstern, es war gerade noch ein Hauchen, und dennoch klang es in dieser Stille beinahe wie ein Zischen.
In dieser Stille vernahm man das sachte Aufstoßen des schweren, schwarzen Stabes auf den roten Teppich wie ein ordentliches Klopfen. Alles blickte auf. Durch die von unsichtbaren Händen aufgerissenen Flügel der weißen, goldumrahmten Doppeltür kamen die Majestäten. Am entgegengesetzten Ende intonierte die Hofkapelle die persische Hymne. Der Schah grüßte nach orientalischer Art, die Hand an Stirn und Brust führend. Die Damen vollführten den Hofknicks, und die Herren verbeugten sich tief. Wie durch ein Feld geknickter Ähren schritten die Majestäten, der Gast und der Gastgeber. Beide lächelten, wie es die Überlieferung befiehlt. Sie lächelten nach rechts und links, obwohl kein Mensch ihre Freundlichkeit sehen konnte. Sie lächelten blonden und schwarzen Damenfrisuren zu, blanken Männerglatzen und straff gestriegelten Scheiteln.
Dreihundertzweiundvierzig Wachskerzen in silbernen Kandelabern erleuchteten und erhitzten den Saal. Der große kristallene Kronleuchter, der in der Mitte hing, trug nicht weniger als achtundvierzig. Die Kerzenflämmchen spiegelten sich tausendfältig in dem blanken Tanz-Oval des Parketts, so daß es aussah, als wäre der Boden gleichsam von unten her beleuchtet. Der Kaiser und der Schah saßen auf einer scharlachrot überkleideten Etage, in zwei breiten Stühlen aus spiegelndem Ebenholz, die aussahen wie geschnitzt aus schwarzer Nacht. Neben dem Kaiser von Österreich stand der Hofzeremonienmeister. Sein schwerer, goldbestickter Kragen sog, trank, schlang ungesättigt das goldene Licht der Kerzen, strahlte es wider, glänzte, glitzerte, raffte gierig das Licht und verstreute es wieder großmütig, wetteiferte geradezu mit den Kandelabern und übertraf sie noch. Neben dem Schah stand der Großwesir, in schwarzer Uniform. Sein schwarzer Schnurrbart hing fürchterlich-majestätisch, wuchtig und schwer über seinem Mund. Er lächelte von Zeit zu Zeit in regelmäßigen Abständen und so, als dirigierte irgendeine fremde Macht seine Gesichtsmuskeln. Dem Rang und der Würde nach wurden die Damen und Herren der persischen Majestät vorgestellt. Er sah die Frauen genau an, mit seinen kindischen, glühenden Augen, in denen alles enthalten war, was seine einfache Seele zu vergeben hatte: die Gier und die Neugier, die Eitelkeit und die Lüsternheit, die Lieblichkeit und die Grausamkeit, die Kleinlichkeit und die Majestät trotz allem auch. Die Damen spürten den gierigen, den neugierigen, den lüsternen, den eitlen, den grausamen und majestätischen Blick des Schahs von Persien. Sie erschauerten leicht. Sie liebten den Schah, ohne es zu wissen. Sie liebten seine schwarze Pelerine, seine rote, silberbestickte Mütze, seinen krummen Säbel, seinen Großwesir, seinen Harem, alle seine dreihundertfünfundsechzig Frauen, seinen Obereunuchen sogar und ganz Persien: den ganzen Orient liebten sie.
Der Herr von Persien aber liebte in dieser Stunde ganz Wien, ganz Österreich, ganz Europa, die ganze christliche Welt. Niemals in seinem so liebes- und frauenreichen Leben hatte er diese Erregtheit gefühlt, – auch vor vielen Jahren nicht, als er, ein Knabe noch und kaum mannbar geworden, zum erstenmal die Frau erkannt hatte. Weshalb waren ihm in seinem heimischen Harem die Weiber gleichgültig und sogar lästig gewesen, und weshalb schien es ihm hier, in Wien, daß die Frauen ein wunderbares, ihm noch völlig unbekanntes Volk bildeten, ein seltsames Geschlecht, das es erst galt zu entdecken? Sein dunkelbraunes Angesicht rötete sich sachte, seine Pulse schlugen heftiger, winzige Schweißperlen standen auf seiner glatten, faltenlosen, jugendlichen, unschuldigen bronzenen Stirn. Er führte sein seidenes grünes Tuch flink an die Augen. Er steckte es wieder in die tiefe Tasche, die im Innern seines Ärmels angebracht war, und seine schlanken, biegsamen Finger begannen, immer schneller mit der kleinen Schnur aus großen bläulichen Gurdi-Perlen zu spielen, die sein linkes Handgelenk umschmeichelten. Auch diese sonst so kühlen Steine, die den Fingern immer kühle Beruhigung bereitet hatten, schienen ihm heute heiß und Unrast ausströmend. Ihm waren bis jetzt nur nackte und verhüllte Frauen bekannt gewesen: Körper und Gewänder. Zum erstenmal sah er Verhüllung und Nacktheit auf einmal. Ein Kleid, das gleichsam von selbst fallen zu wollen schien und das dennoch am Körper haftenblieb: Es glich einer unverschlossenen Tür, die dennoch nicht aufgeht. Wenn die Frauen den Hofknicks vollführten, erhaschte der Schah im Bruchteil einer Sekunde den Ansatz der Brust, hierauf den hellen Schimmer des Flaums über dem weißen Nacken. Und der Augenblick, in dem die Damen mit beiden Händen die Schöße hoben, bevor sie ein Knie zurückstreckten, hatte für ihn etwas unnennbar Keusches und zugleich unsagbar Sündhaftes, es war ein Versprechen, das man nicht zu halten gedachte. Lauter unverschlossene Türen, die man nicht öffnen kann, dachte der Herr von Persien, der mächtige Besitzer des Harems. Jede also halboffene und gleichzeitig abgesperrte Frau, jede einzelne war lockender als ein ganzer Harem, angefüllt mit dreihundertfünfundsechzig rätsellosen, geheimnislosen, gleichgültigen Leibern. Wie unergründlich mußte die Liebeskunst der Abendländer sein! Welch vertrackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhüllen! Was gab es in der Welt, das geheimer und entblößter zugleich sein konnte als das Antlitz einer Frau! Ihre halbgesenkten Augenlider verrieten und verbargen, versprachen und verwehrten, enthüllten und verweigerten. Was war der Glanz der Diademe, die sie im Haar trugen, gegen den schwarzen, braunen, blonden Glanz dieser ihrer Haare selbst, und wieviel Farbentönungen gab es innerhalb dieser Farben! Dieses Schwarz war blau wie eine Hochsommernacht und jenes hart und matt wie Ebenholz; dieses Braun war golden wie der letzte Gruß des versinkenden Abends und jenes rötlich wie das edle Ahornblatt im späten Herbst; dieses Blond war heiter und leichtfertig wie der Goldregen im Frühlingsgarten und jenes matt und silbrig wie der erste Reif einer frühen Morgenstunde im Herbst. Und zu denken, daß jede einzelne dieser Frauen einem einzigen Mann gehörte oder bald angehören würde! Jede einzelne ein behüteter Edelstein!
Nein! Daran wollte der Schah in diesem Augenblick nicht denken. Peinliche, schädliche Einfälle! Er war nach Europa gekommen, um das Einzige zu genießen, um das Vielfältige zu vergessen, das Gehütete zu rauben, das hier herrschende Recht zu brechen, einmal nur, ein einzigesmal der Wollust des unrechtmäßigen Besitzes teilhaft zu werden und die ganz besondere, raffinierte Art der Europäer, der Christen, der Abendländischen auszukosten. Als der Tanz begann – es war zuerst eine Polka –, verwirrten sich seine Sinne vollends. Er schloß sekundenlang seine großen, schönen, goldbraunen, unschuldsvollen Rehaugen, er schämte sich selbst der Gier und der Neugier, die er in ihnen leuchten wußte. Alle gefielen ihm. Aber nicht das Geschlecht begehrte er. Er hatte Heimweh nach der Liebe, das ewige männliche Heimweh nach der Vergötterten, der Göttlichen, der Göttin, der Einzigen. Alle Freuden, die ihm das Geschlecht der Frauen gewähren konnte, hatte er ja bereits genossen. Ihm fehlte nur noch eins: der Schmerz, den nur die Einzige bereiten kann. Er schickte sich also an zu wählen. Immer mehr von den Frauen im Saal schied er aus. Bei der und jener glaubte er, mehr oder weniger verborgene Fehler entdeckt zu haben. Es blieb schließlich eine, die Einzige: es war die Gräfin W. Alle Welt kannte sie.
Blond, hell, jung und mit jenen Augen begnadet, von denen man sagen könnte, sie seien eine merkwürdige Art von Veilchen mit Vergißmeinnichtblick, war sie seit drei Jahren, seit ihrem ersten Ball, der Gesellschaft eine Augenweide, den Männern ein ebenso begehrtes wie verehrtes Wesen. Sie gehörte zu jenen Mädchen, die in den längstvergangenen Tagen ohne jedes andere Verdienst als das der Anmut Verehrung genossen und Anbetung erwarben. Man sah ein paar ihrer Bewegungen, fühlte sich reich beschenkt und war überzeugt, daß man ihr Dank schuldig sei.
Sie war ein spät gezeugtes Kind. Ihr Vater konnte schon zu den greisen Dienern der Monarchie gezählt werden. Er lebte einsam und lediglich seiner Mineraliensammlung ergeben auf seinem Gut in Parditz in Mähren. Manchmal vergaß er Frau und Tochter. In einer jener Stunden, in denen er gerade einen recht seltenen Malachit von einem Freund aus Bozen zugeschickt erhalten und seine Familie völlig vergessen hatte, ließ sich ein ihm unbekannter Sektionschef vom Finanzministerium melden. Es war der Graf W. Es war keineswegs, wie der Alte schon gehofft hatte, etwa ein Liebhaber von Mineralien, sondern lediglich der seiner Tochter. Jeden gewöhnlichen Quarzstein hätte der alte Herr von Parditz wenigstens durch die Taschenlupe betrachtet. Den jungen Mann aber, der seine Tochter begehrte, sah er nur einen Augenblick durch das Lorgnon an. »Bitte!«, sagte er ohne weiteres, »werden Sie glücklich mit Helene.«
Die junge Frau liebte ihren Mann, obwohl sie eine manchmal süße, zuweilen lästige Erinnerung an den charmanten, zu besonderer Verwendung abkommandierten Baron Taittinger behalten hatte. Damals, als