Die Frankensaga – Vollfettstufe. Matthias Wagner
sie Lothar Matthäus ungehindert als Fußballer einschleusen, Thomas Gottschalk die Moderation einer namhaften Samstagabendshow zuschanzen und ihren Kartoffelsalat containerweise als Requisite an Frank Castorfs Schreitheater verhökern konnten. Anstatt uns zu fragen, ob das dergestalt Gebotene wirklich Sport, Unterhaltung oder Kunst sei, sollten wir lieber geeignete Strategien entwerfen, die uns vor der fränkischen Bedrohung behüten.
Der Dude
Seit sechs Jahren gehe ich mit dem Franken regelmäßig mittags essen. Und manchmal abends auch noch auf ein Feierabendbier in eine der zahlreichen Kneipen des Hamburger Stadtteils Ottensen, wo unser Verlag seinen Sitz hat. Heute geht es ins Aurel, das ist um die Ecke. Kaum haben wir uns gesetzt und nippen am Glas, betritt ein Faktotum den Raum. Der Franke nennt ihn sofort flüsternd „den Dude“, weil er unverkennbar an eine Figur aus einem unserer Lieblingsfilme erinnert: „The Big Lebowski“.
Das helle Haar des Dude ist kragenlang und struppig, sein dünner Bart gepflegt wie ein Vogelnest im Winter. Bekleidet ist er mit einem undefinierbaren Etwas von Mantel aus hellem Leder mit weißem Wollkragen – eine Entsetzlichkeit, die mich sofort auf eine angenehme innere Zeitreise in die Siebziger schickt. Nicht zu vergessen seine Sonnenbrille, die der Dude auch angesichts der trüben Aurel-Beleuchtung offenbar nicht abzusetzen bereit ist.
Vielleicht fehlt ihm dazu auch einfach die Kraft, denn er wirkt angeschlagen. Seine Bewegungen haben etwas von einer 200-jährigen Galapagosschildkröte. Mit Ach und Krach hievt er sich auf die Sitzbank am Bistrotisch neben uns. Augenblicks schlage ich dem Franken eine Wette vor. „Ich wette mit dir“, flüstere ich, „er merkt mindestens zehn Minuten lang nicht, dass er zum Bestellen an die Theke gehen muss.“ So ist es nämlich üblich im Aurel. Der Franke ist einverstanden, die Uhr läuft.
Der Dude sitzt schwankend da. Er scheint die Rückseite seiner Sonnenbrillengläser anzustarren. Indizien dafür, dass irgendetwas jenseits davon seine Synapsen ins Flirren versetzt, gibt es nicht. Er sitzt einfach da und tut nichts.
Ich bin siegessicher. Der Franke versucht mich in eine die Wette relativierende Diskussion über die Motivation des Dude’schen Kneipenbesuches zu verwickeln. Vielleicht, führt er wenig fundiert aus, wolle der Dude sich ja nur aufwärmen. Ich wende überzeugend ein, dass schon der gesunde Menschenverstand die Annahme gebietet, das Betreten einer Kneipe sei weitgehend gleichzusetzen mit einem ausgeprägten Trinkwillen. Ja, bereits das Öffnen der Tür sei geradezu die Manifestation dessen und gleichsam schon eine Bestellung, ob nun Bier oder Brause, das sei ja mal egal.
Aber er sei der Dude, versucht er einen Konter, da müsse man auch aufs Außergewöhnliche gefasst sein. Papperlapapp, wende ich ultimativ ein, und sehe die Uhr ticken, zu meinen Gunsten.
Doch plötzlich, nach nur zwei Minuten, rutscht der Dude von der Sitzbank wie eine Düne Richtung Deich und kommt auf die Füße. Sein rechter Arm führt knirschend die Hand Richtung Gesicht, und irgendwie trifft sein irrlichternder Daumen den Steg der Sonnenbrille, um ihn etwas nach oben zu schieben.
Kein Zweifel, der Dude hat etwas vor. Geht er jetzt zur Theke? Hat er die Lage gerafft? Verliere ich die Wette? Nein: Er karriolt zur Tür. Er öffnet sie, er ist verschwunden.
Sofort entbrennt zwischen uns eine Diskussion über die Folgen für unsere Wette. Der Franke ist überzeugt, der Dude sei kotzen gegangen. Gut, ich gebe zu, sein Zustand hatte etwas unzweifelhaft Prävomitives. Die Frage ist nur: Läuft trotzdem die Wettzeit weiter ab? Was, wenn er zum Beispiel in sieben Minuten wieder seinen scheußlichen Mantel durch die Tür schiebt, den alten Platz erneut ein- und das vergebliche Warten auf die Aurel-Bedienung wieder aufnimmt – habe ich dann gewonnen? Oder hat die vermutliche Brechunterbrechung aufschiebende Wirkung auf unsere Wette?
Es geht hin und her zwischen uns. Doch der Dude kommt nicht mehr. Er ist weg. Obgleich es angesichts der Ereignisse argumentative Winkelzüge gäbe, gebe ich mich geschlagen. Der Franke holt zufrieden noch zwei Bier. Auf dem Heimweg beschließe ich, bald mal wieder „The Big Lebowski“ zu schauen. Guter Film.
Der Klozechpreller
Obwohl ich mir sehr wohl ein verfeinertes kulinarisches Empfinden zurechne, verschleppt mich der Franke mittags immer mal wieder in unfassbare Niederungen der Essensaufnahme, die er in fröhlicher Offenheit auf den Nenner „Heiß und fettig“ bringt. Man kann ihm das nicht verübeln, er kommt aus Würzburg.
Gottergeben trotte ich heute wieder mal hinter ihm her, obgleich ich mir im Lauf meiner hedonistischen Reifung einen natürlichen Ekel gegenüber ölgeduschten Frikadellen und Lasagnebrei vom Stehimbiss antrainiert habe. Doch mit meinem opferbereiten Begleitservice kann ich demonstrieren, wie hoch Kollegialität letztlich in meinem Wertesystem rangiert. Ob er das merkt, weiß ich jedoch nicht; in seinen Augen sehe ich nur die wilde, ungezügelte Gier nach Frikadellen.
Erste Adresse für „Heiß und fettig“ in Ottensen ist das Einkaufszentrum Mercado. Vorm Essen muss ich noch mal wohin und stelle fest: Die Herrentoilette des Mercado ist fest in afrikanischer Hand. Zwei, wenn nicht gar drei Bedienstete beiderlei Geschlechts wirken hier frohgemut im Dienste sauberer Keramik. Man kann sogar von einer Art Party des Toilettenpersonals sprechen. Die gelassenen Reggaerhythmen von „The Lion sleeps tonight“ hallen noch hinüber bis in die Klokabine, wo man versucht ist, mitzuwippen, was unter diesen Umständen allerdings dem Toilettenpersonal mehr Arbeit verschaffen würde als notwendig.
Im Waschraum wird die Gebühr für den angebotenen Komplettservice unmissverständlich mit 30 Cent taxiert. Zumindest künden blutrote Großlettern davon. Sie stehen auf einem Zettel, der sorgfältig über einem praktischerweise aufnahmebereiten Schälchen drapiert wurde. Kein Zweifel, die Brigade weiß, was ihr Job aus Putzen und Party wert ist. Das Schälchen selbst erfreut sich offenbar ständiger Leerung, denn es befinden sich nur zwei Münzen darin. Sie ergeben addiert – natürlich – 30 Cent.
Mein Problem: Ich habe ausschließlich Scheine in der Tasche. Eine unangenehme Situation. Denn ich muss vorwegschicken, dass es für mich mit einem hohen Schamgehalt belastet ist, Toilettenpersonal um Wechselgeld zu bitten. Vielleicht ein Kindheitstrauma, ich weiß es nicht. Verfüge ich zufällig nur über Münzgrößen, welche die zu honorierende Dienstleistung m. E. deutlich überbewerten – also Ein- oder Zwei-Euro-Stücke –, dann lege ich sie gemeinhin ins Schälchen, fingere fahrig und errötend ein angemessenes Wechselgeld heraus und fliehe diesen Ort eilends.
Aber hier liegen nur 30 Cent, und ich habe nur vermaledeite Scheine, derweil im Nebenraum die afrikanische Frohsinnstruppe Party macht zu „The Lion sleeps tonight“, mit Sichtkontakt zum Schälchen.
Die Situation hat etwas Verfahrenes. Es gibt nur eine Lösung. Aber es ist keine, die mir Ehre einbringt. Ich nutze einen der zahlreichen Momente partybedingter Unaufmerksamkeit und entschwinde wie ein Dieb in der Nacht, ohne Obolus.
Wie nennt man so etwas, Herr Staatsanwalt – Erschleichung von Dienstleistungen, lachhaft begründet mit einem irrationalen Schamempfinden? Nein, nein: Der Löwe, er mag schlafen heute Nacht, aber Gott, der sieht alles. Der Franke, ein geborener Katholik, würde das fröhlich bestätigen, doch ihm gegenüber verschweige ich lieber die Klozechprellerei.
Bei „Heiß und fettig“ halte ich den Frikadellen des Franken einen Spießbraten und ölgeduschte Bratkartoffeln entgegen, dazu matschige Sauerkrautsträhnen.
Der Walabend
Schon wieder ins Aurel, auf ein Feierabendbier. Der Dude ist nicht da. Wir warten zwei Runden, doch er kommt einfach nicht. Außer dem Franken ist diesmal auch Kollege Kramer an Bord. Da er erst noch zur Bank muss, gehen der Franke und ich schon mal vor und ordern zwei Bier.
Der endlich geldschwer dazustoßende Kramer beschwert sich sofort, weil wir ihm kein Bier mitbestellt haben. Ich erkläre ihm, wir hätten ihm schlicht ein Glas mit geschrumpfter Schaumkrone ersparen wollen. „Du hast mir also kein Bier bestellt, um mir einen Gefallen zu tun?“, argwöhnt Kramer.
Kramer ist einer jener Typen, die erheblich