Der scharlachrote Buchstabe. Nathaniel Hawthorne
besaß, aber für Esther um so furchtbarer war, weil es von Lippen kam, die es nachschwatzten. Das alles schien eine so weite Verbreitung ihrer Schmach zu beweisen, daß die ganze Natur davon wußte. Es hätte ihr keinen tieferen Schmerz bereiten können, wenn das Laub an den Bäumen sich die düstere Geschichte zugeflüstert, wenn das Sommerlüftchen davon gemurmelt, wenn der Wintersturm sie laut ausgeschrien hätte. Eine andere eigentümliche Folter lag in dem Blicke eines neuen Auges. Schauten Fremde mit Neugier auf den Scharlachbuchstaben – und niemals verfehlte einer dies zu tun –, so brannten sie ihn frisch in Esthers Seele ein; so daß sie sich zuweilen kaum enthalten konnte, sich aber doch stets enthielt, das Symbol mit ihrer Hand zu bedecken. Dann aber hatte auch wieder ein kühles, vertrautes Auge seine eigene Pein aufzuerlegen. Sein kaltes bekanntes Gaffen war unerträglich. Ja, von Anfang bis zu Ende hatte Esther Prynne stets die entsetzliche Qual zu erleiden, daß sie ein menschliches Auge auf dem Zeichen fühlte. Die Stelle wurde nie unempfindlich, es schien sogar, als ob sie durch die tägliche Folter reizbarer werde.
Aber zuweilen in vielen Tagen oder vielleicht in vielen Monaten einmal fühlte sie ein Auge, ein menschliches Auge, auf dem schmählichen Brandmale, und es schien ihr eine vorübergehende Erleichterung zu gewähren, als ob die Hälfte ihrer Pein geteilt werde. Im nächsten Augenblicke strömte sie völlig wieder zurück und fügte ihr eine noch tiefere Qual zu, denn in diesem kurzen Zwischenraum hatte sie von neuem gesündigt. Hatte Esther allein gesündigt?
Ihre Einbildungskraft war einigermaßen von der eigentümlichen einsamen Folter ihres Lebens angegriffen und würde es noch mehr gewesen sein, hätte sie weichere moralische und intellektuelle Fasern besessen. Wenn sie mit ihren einsamen Schritten in der kleinen Welt, mit welcher sie äußerlich verbunden war, her und hin ging, kam es ihr zuweilen vor – war es auch ganz Phantasie, so besaß es doch zu viele Kraft, um Widerstand dagegen leisten zu können –, sie fühlte oder glaubte also zuweilen, daß der Scharlachbuchstabe ihr einen neuen Sinn verliehen habe. Es schauderte ihr bei dem Glauben, und doch konnte sie sich desselben nicht enthalten, daß er ihr eine sympathetische Kenntnis der verborgenen Sünde in dem Herzen anderer verleihe. Sie wurde von Entsetzen über die ihr so zuteil werdenden Enthüllungen ergriffen. Was waren sie? Konnten sie etwas anderes sein als das hinterlistige Flüstern des bösen Engels, der das widerstrebende Weib, bis jetzt nur halb sein Opfer, zu gern überredet hätte, daß die äußere Hülle der Reinheit nur eine Lüge sei, und daß, müßte überall die Wahrheit gezeigt werden, mancher andere als Esther Prynne den Scharlachbuchstaben auf seiner Brust flammen sehen würde? Oder mußte sie diese ihr dunkeln und doch so lebhaften Andeutungen als Wahrheit nehmen? In ihrer ganzen unglückseligen Erfahrung gab es nichts Furchtbareres und Abscheu Erregenderes als dieses Gefühl. Es verwirrte und entsetzte sie durch das unehrerbietige Unpassende der Anlässe, das es zu lebhafter Tätigkeit brachte. Zuweilen ließ die rote Schmach auf ihrer Brust ein sympathetisches Pochen fühlen, wenn sie an einem ehrwürdigen Geistlichen oder einer Magistratsperson vorüberkam, zu der jene altertümliche Zeit voller Ehrerbietung als Muster der Frömmigkeit und Gerechtigkeit wie zu einem mit Engeln in Gemeinschaft stehenden Sterblichen emporblickte. ›Welches schlimme Ding ist in der Nähe?‹ pflegte Esther zu sich zu sagen, und wenn sie ihre widerstrebenden Augen erhob, so war nichts Menschliches sichtbar als die Gestalt dieses irdischen Heiligen. Dann wieder machte sich eine mystische Schwesternschaft schmählich bemerkbar, wenn sie dem scheinheiligen Stirnrunzeln einer Matrone begegnete, die, wie alle Zungen behaupteten, ihr Leben lang kalten Schnee in ihrer Brust bewahrt hatte. Jener Schnee in der Matrone Busen, auf den nie ein Sonnenschein gefallen war, und die brennende Schmach auf der Brust Esther Prynnes – was hatten die beiden miteinander gemein? Oder ein anderes Mal verkündete ihr das elektrisierende Zucken: siehe da, Esther, hier ist eine Genossin! Und wenn sie aufblickte, entdeckte sie die Augen eines jungen Mädchens, welches scheu und verstohlen auf den Scharlachbuchstaben blickte und sich schnell wieder mit einem schwachen, kühlen Purpur auf den Wangen abwendete, als ob ihre Reinheit durch die rasche Betrachtung etwas besudelt worden sei. O Teufel, dessen Talisman dieses Symbol des Schreckens war, wolltest du dieser armen Sünderin weder an der Jugend nach am Alter etwas zu verehren übrig lassen? Ein solcher Verlust des Glaubens ist stets eine von den traurigsten Auswirkungen der Sünde. Man nehme als Beweis, daß an diesem armen Opfer seiner eigenen Schwäche und der harten Gesetze der Menschen doch nicht alles verderbt war, den Umstand an, daß Esther Prynne sich immer noch Mühe gab zu glauben, kein sterblicher Mitmensch sei so schuldig wie sie.
Das gemeine Volk, welches in jenen trüben, alten Zeiten dem, was seine Einbildungskraft interessierte, stets einen grotesken Schrecken beimaß, erzählte sich über den Scharlachbuchstaben eine Geschichte, welche wir leicht zu einer schaurigen Legende verarbeiten könnten. Es behauptete, daß das Symbol nicht bloßes, in einem irdischen Farbtopf gefärbtes Scharlachtuch sei, sondern von höllischem Feuer glühe und leuchtend zu sehen wäre, wenn Esther Prynne bei Nacht ihr Haus verlasse; und wir müssen schon sagen: es brannte in Esthers Busen so tief hinein, daß in dem Gerüchte vielleicht mehr Wahrheit lag, als unser moderner Unglaube zuzugeben geneigt ist.
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