Radetzkymarsch. Йозеф Рот

Radetzkymarsch - Йозеф Рот


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oder langsam? Die Zeit hat einen fremden, rätselhaften Gang, eine Stunde ist wie ein Jahr. Es schlägt fünf ein Viertel. Man hat kaum ein paar Schritte zurückgelegt. Carl Joseph beginnt, schneller auszuschreiten. Er geht über die Geleise, hier beginnen die ersten Häuser der Stadt. Man geht an dem Café des Städtchens vorbei, es ist das einzige Lokal mit einer modernen Drehtür im Ort. Es ist vielleicht gut, einzutreten, einen Cognac zu trinken, im Stehn, und wieder wegzugehn. Carl Joseph tritt ein.

      »Schnell, einen Cognac«, sagt er am Büfett. Er bleibt in Mütze und Mantel, ein paar Gäste stehen auf. Man hört das Klappern der Billardkugeln und der Schachfiguren. Offiziere der Garnison sitzen im Schatten der Nischen, Carl Joseph sieht sie nicht und grüßt sie nicht. Nichts ist dringender als Cognac. Er ist blaß, die fahlblonde Kassiererin lächelt mütterlich von ihrem erhabenen Platz und legt mit gütiger Hand ein Stück Würfelzucker neben die Tasse. Carl Joseph trinkt auf einen Zug. Er bestellt sofort das nächste. Er sieht vom Angesicht der Kassiererin nur einen hellblonden Schimmer und die zwei Goldplomben in den Mundwinkeln. Es ist ihm, als täte er etwas Verbotenes, und er weiß nicht, warum es verboten sein sollte, zwei Cognacs zu trinken. Er ist schließlich nicht mehr Kadettenschüler. Warum sieht ihn die Kassiererin so merkwürdig lächelnd an? Ihr marineblauer Blick ist ihm peinlich, und das gekohlte Schwarz der Augenbrauen. Er wendet sich um und sieht in den Saal. Dort in der Ecke neben dem Fenster sitzt sein Vater.

      Ja, es ist der Bezirkshauptmann – und was ist daran weiter verwunderlich? Jeden Tag sitzt er da, zwischen fünf und sieben, liest das »Fremdenblatt« und die Amtszeitung und raucht eine Virginier. Die ganze Stadt weiß es, seit drei Jahrzehnten. Der Bezirkshauptmann sitzt da, er betrachtet seinen Sohn und scheint zu lächeln. Carl Joseph nimmt die Mütze ab und geht auf den Vater zu. Der alte Herr von Trotta blickt kurz von seiner Zeitung auf, ohne sie abzulegen, und sagt: »Kommst von Slama?« »Jawohl, Papa!« »Er hat dir deine Briefe gegeben?« »Jawohl, Papa!« »Setz dich, bitte!« »Jawohl, Papa!«

      Der Bezirkshauptmann legt endlich die Zeitung aus der Hand, stützt die Ellenbogen auf den Tisch, wendet sich dem Sohn zu und sagt: »Sie hat dir einen billigen Cognac gegeben. Ich trinke immer Hennessy.« »Werd's mir merken, Papa!« »Trinke übrigens selten.« »Jawohl, Papa!« »Bist noch etwas blaß. Leg ab! Der Major Kreidl ist drüben, sieht herüber!« Carl Joseph erhebt sich und grüßt mit einer Verbeugung den Major. »War er unangenehm, der Slama?« »Nein, recht netter Kerl!« »Na also!« Carl Joseph legt den Mantel ab. »Wo hast denn die Briefe?«, fragt der Bezirkshauptmann. Der Sohn holt das Päckchen aus der Manteltasche. Der alte Herr von Trotta faßt es an. Er wiegt es in der Rechten, legt es wieder hin und sagt: »Recht viele Briefe!« »Jawohl, Papa!«

      Es ist still, man hört das Klappern der Billardkugeln und der Schachfiguren, und draußen rinnt der Regen. »Übermorgen rückst du ein!«, sagt der Bezirkshauptmann mit einem Blick zum Fenster. Auf einmal fühlt Carl Joseph die dürre Hand des Vaters über seiner Rechten. Die Hand des Bezirkshauptmanns liegt über der des Leutnants, kühl und knöchern, eine harte Schale. Carl Joseph senkt die Augen auf die Tischplatte. Er wird rot. Er sagt: »Jawohl, Papa!«

      »Zahlen!«, ruft der Bezirkshauptmann und entfernt seine Hand. »Sagen Sie dem Fräulein«, bemerkt er zum Kellner, »daß wir nur Hennessy trinken!«

      In einer schnurgeraden Diagonale gehn sie durch das Lokal zur Tür, der Vater und hinter ihm der Sohn.

      Es tropft nur noch sacht und singend von den Bäumen, während sie langsam durch den feuchten Garten nach Hause gehn. Aus dem Tor der Bezirkshauptmannschaft tritt der Wachtmeister Slama im Helm, mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett und Dienstbuch unter dem Arm. »Grüß Gott, lieber Slama!«, sagt der alte Herr von Trotta.

      »Nichts Neues, was?«

      »Nichts Neues!«, wiederholt der Wachtmeister.

      5

      Im Norden der Stadt lag die Kaserne. Sie schloß die breite und wohlgepflegte Landstraße ab, die hinter dem roten Ziegelbau ein neues Leben begann und weit ins blaue Land hineinführte. Es schien, als wäre die Kaserne als ein Zeichen der habsburgischen Macht von der kaiser- und königlichen Armee in die slawische Provinz hineingestellt worden. Der uralten Landstraße selbst, die von der jahrhundertelangen Wanderung slawischer Geschlechter so breit und geräumig geworden war, verstellte sie den Weg. Die Landstraße mußte ihr ausweichen. Sie machte einen Bogen um die Kaserne. Stand man am äußersten Nordrand der Stadt am Ende der Straße, dort, wo die Häuser immer kleiner wurden und schließlich zu dörflichen Hütten, so konnte man an klaren Tagen in der Ferne das breite, gewölbte, schwarzgelbe Tor der Kaserne erblicken, das wie ein mächtiges habsburgisches Schild der Stadt entgegengehalten wurde, eine Drohung, ein Schutz und beides zugleich. Das Regiment war in Mähren gelegen. Aber seine Mannschaft bestand nicht aus Tschechen, wie man hätte glauben mögen, sondern aus Ukrainern und Rumänen.

      Zweimal in der Woche fanden die militärischen Übungen im südlichen Gelände statt. Zweimal in der Woche ritt das Regiment durch die Straßen der kleinen Stadt. Der helle und schmetternde Ton der Trompeten unterbrach in regelmäßigen Abständen das regelmäßige Klappern der Pferdehufe, und die roten Hosen der berittenen Männer auf den glänzenden, braunen Leibern der Rösser erfüllten das Städtchen mit blutiger Pracht. An den Straßenrändern blieben die Bürger stehn. Die Kaufleute verließen ihre Läden, die müßigen Besucher der Kaffeehäuser ihre Tische, die städtischen Polizisten ihre gewohnten Posten und die Bauern, die mit frischem Gemüse aus den Dörfern auf den Marktplatz gekommen waren, ihre Pferde und Wagen. Nur die Kutscher auf den wenigen Fiakern, die ihren Standplatz in der Nähe des städtischen Parks hatten, blieben unbeweglich auf den Böcken sitzen. Von oben her übersahen sie das militärische Schauspiel noch besser als die am Straßenrand Stehenden. Und die alten Gäule schienen mit dumpfem Gleichmut die prachtvolle Ankunft ihrer jüngeren und gesünderen Genossen zu begrüßen. Die Rösser der Kavalleristen waren weit entfernte Verwandte der trüben Pferde, die seit fünfzehn Jahren nur Droschken zum Bahnhof führten und zurück.

      Carl Joseph, Freiherrn von Trotta, blieben die Tiere gleichgültig. Manchmal glaubte er, in sich das Blut seiner Ahnen zu fühlen: Sie waren keine Reiter gewesen. Die kämmende Egge in den harten Händen, hatten sie Schritt vor Schritt auf die Erde gesetzt. Sie stießen den furchenden Pflug in die saftigen Schollen des Ackers und gingen mit geknickten Knien hinter dem wuchtigen Zweigespann der Ochsen einher. Mit Weidenruten trieben sie die Tiere an, nicht mit Sporen und Peitsche. Die geschliffene Sense schwangen sie im hocherhobenen Arm wie einen Blitz, und sie mähten den Segen, den sie selbst gesät hatten. Der Vater des Großvaters noch war ein Bauer gewesen. Sipolje war der Name des Dorfes, aus dem sie stammten. Sipolje: Das Wort hatte eine alte Bedeutung. Auch den heutigen Slowenen war es kaum mehr bekannt. Carl Joseph aber glaubte, es zu kennen, das Dorf. Er sah es, wenn er an das Porträt seines Großvaters dachte, das verdämmernd unter dem Suffit des Herrenzimmers hing. Eingebettet lag es zwischen unbekannten Bergen, unter dem goldenen Glanz einer unbekannten Sonne, mit armseligen Hütten aus Lehm und Stroh. Ein schönes Dorf, ein gutes Dorf! Man hätte seine Offizierskarriere darum gegeben!

      Ach, man war kein Bauer, man war Baron und Leutnant bei den Ulanen! Man hatte kein eigenes Zimmer in der Stadt wie die andern. Carl Joseph wohnte in der Kaserne. Das Fenster seines Zimmers führte in den Hof. Gegenüber lagen die Mannschaftsstuben. Immer, wenn er in die Kaserne am Nachmittag heimkehrte und das große, doppelflügelige Tor sich hinter ihm schloß, hatte er die Empfindung, gefangen zu sein; niemals mehr würde es sich vor ihm auftun. Seine Sporen klirrten frostig auf der kahlen, steinernen Stiege, und der Tritt seiner Stiefel widerhallte auf dem hölzernen, braunen, geteerten Boden des Korridors. Die weißen, gekalkten Wände hielten das Licht des schwindenden Tages noch ein wenig gefangen und strahlten es jetzt wider, als achteten sie in ihrer kahlen Sparsamkeit noch darauf, daß die ärarischen Petroleumlampen in den Winkeln nicht früher entzündet würden, als bis der Abend vollständig eingebrochen wäre; als hätten sie zu rechter Zeit den Tag gesammelt, um ihn in der Not der Dunkelheit auszugeben. Er machte kein Licht, Carl Joseph. Die Stirn an das Fenster gepreßt, das ihn von der Finsternis scheinbar trennte und in Wirklichkeit wie die vertraute, kühle Außenwand der Finsternis selber war, sah er in die gelblich beleuchtete Traulichkeit der Mannschaftsstuben. Er hätte gern mit


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