Emilia will Fotomodel werden. Benny Bohlen
weißt es genau! Wir wurden mit Flüchtlingen überschwemmt, die jetzt gelangweilt in den Containern hausen und scharf auf junge, hübsche, blonde Mädchen sind!“
Das fand Emilia überhaupt nicht, aber sie widersprach ihrer Mutter nicht. Solche Diskussionen konnten sich über mehrere Stunden hinziehen, ohne was zu bringen, denn sie hatten beide ihre feste Meinung, von der sie nicht abzugehen bereit waren.
Die Weißbrotscheiben hüpften aus dem Toaster. Helene Brandtner legte sie auf Emilias Teller.
„Gibt es irgendetwas Neues in der Schule?“
„Die hat doch eben erst begonnen.“
„Deswegen kann es doch schon was Neues geben.“
„Es geht alles seinen gewohnten Trott“, sagte Emilia und nahm einen Schluck vom lauwarmen Kaffee. Dass Eltern immer auf Sensationen erpicht waren, dachte sie. In diesem Moment läutete Emilias Handy.
„Oh … es ist Rafael!“
Sie nahm den Anruf entgegen und bat den Freund, einen kleinen Moment zu warten. Sie wollte mit ihm ungestört telefonieren.
„Rafael. Sag mal, hat er immer noch diesen schrecklichen Bart, der ihn aussehen lässt, als wäre er permanent schmutzig?“
„Ich werde ihm zu Weihnachten eine Enthaarungscreme schenken.“
Emilia sprang vom Küchentisch auf und lächelte der Mutter nochmals zu. Ob sie wusste, dass sie bereits regelmäßig mit Rafael schlief? Wahrscheinlich vermutete sie es, sie verdrängte es aber vehement - wie alles, was ihr unangenehm war.
In ihrem Zimmer angekommen, sagte sie in das Handy: „Jetzt bin ich allein.“
„Na, du!“, rief Rafael gut gelaunt in den Hörer.
„Na, du selber“, gab Emilia keck zurück.
„Gut geschlafen?“
„Hervorragend.“
„Von mir geträumt?“
Sie kicherte. „Nein, einen Alptraum hatte ich nicht.“
„Das wagst du nur zu sagen, weil du nicht vor mir stehst. Du bist ein schlimmes Mädchen. Ich werde dich bei der nächsten Gelegenheit übers Knie legen.“
„Und was weiter?“
„Das wirst du dann schon sehen. Apropos sehen. Sehen wir uns heute Nachmittag?“
„Hatten wir das nicht abgemacht?“, fragte Emilia verwundert.
„Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dabei bleibt“, meinte Rafael. „Kannst dich schon mal freuen.“
„Worauf?“
„Auf eine sturmfreie Bude. Meine Eltern sind freundlicherweise für zwei Tage nach München gefahren. Wir haben das Haus für uns allein.“
„Na, wenn das keine gute Nachricht ist“, kicherte Emilia amüsiert.
Die Stunden zogen sich wie zähflüssiger Sirup. Am schlimmsten war die letzte mit der Klassenlehrerin Heike Wagenhoff, deren »Lieblingsschülerin« Emilia war.
„Emilia, sagen Sie uns dies …“ – „Emilia, erklären Sie uns das …“ – „Stellen Sie sich vor, Emilia, Sie haben ein kleines Unternehmen, das rote Zahlen schreibt …“ – „Emilia, schreiben Sie folgendes an die Tafel …“ – „Was muss man hierbei berücksichtigen - Emilia?“ – „Wie würden Sie dieses Problem lösen - Emilia?“
Manchmal hatte Emilia echt den Eindruck, sie würde sich mit der Wagenhoff allein in der Klasse befinden.
„Emilia. Emilia. Emilia …“
Sie kam kaum dazu, an Rafael zu denken, aber wenn er ihr ganz kurz einfiel, wurde sie von einem Gefühl angenehmer Vorfreude erfüllt. Sie war sehr gern mit ihm allein. Wenn seine Eltern nicht da waren, nutzten sie das immer weidlich aus. Was hatten sie in dem großen Haus nicht schon alles angestellt. Ein leises Lächeln erschien auf Emilias Lippen.
„Emilia, was gibt es zu grinsen?“, wollte die Wagenhoff, die in ihrem Leben wohl noch nie gelacht hatte, unfreundlich wissen.
„Nichts, Frau Wagenhoff“, antwortete Emilia rasch - und dann war die Stunde endlich um.
„Heute hatte dich die Wagenhoff mal wieder fast pausenlos im Visier“, sagte Alexander Zedlitz beim Verlassen des Schulgebäudes mitfühlend.
Emilia zuckte gleichmütig die Schultern und erwiderte: „Dieses eine Jahr verkrafte ich sie noch, aber danach will ich nie wieder von ihr hören.“
„Sie kann verdammt lästig sein.“
„Ich habe gelernt, mit ihr zu leben.“
„Mir würde sie gewaltig auf den Geist gehen“, meinte Alexander. „Wenn du möchtest, nehme ich dich auf meinem Vespa Roller mit.“
„Ich bin selbst mit dem Mofa da“, erwiderte Emilia.
„Mein Pech.“
Das Bedauern war ernst gemeint, denn Alexander hatte sehr viel für Emilia übrig. Deshalb versuchte er auch immer, ihr irgendeinen Gefallen zu tun. Leider gab es Rafael. Alexander wusste, dass es ihm nie möglich sein würde, Rafael auszubooten, aber er war so ehrlich, zuzugeben, dass er es versucht hätte, wenn er auch nur die winzigste Chance gewittert hätte.
„Alexander Zedlitz!“ Die bissige Stimme der Klassenlehrerin ließ Alexander heftig zusammenzucken.
„Oje“, stöhnte er und sah Emilia unglücklich an. „Sie hat gesehen, wie ich eine Dose Bier trank.“
„Kommen Sie zurück, Zedlitz, ich habe mit Ihnen zu reden!“
„Ach, du dickes Ei“, seufzte Alexander. „Sie hat ein neues Opfer gefunden.“
„Lass dich nicht unterkriegen“, riet ihm Emilia.
„Das sagt sich so leicht“, ächzte Alexander.
„Zedlitz! Wird's bald?“
„Ich komme, Frau Wagenhoff!“ Alexander schlich wie ein geprügelter Hund zurück.
Über den Brandtners wohnte Sarah Magenheim, die seit vier Jahren blind war. Sie hatte ihr Augenlicht bei einem Autounfall verloren, den sie nicht verschuldet hatte. Ein Betrunkener hatte sie mit seinem Fahrzeug frontal gerammt, und ihr Wagen war in Flammen aufgegangen. Der Betrunkene war unverletzt geblieben, und als sie im Krankenhaus zu sich gekommen war, hatte sie nichts mehr gesehen.
Seither half ihr die Familie Brandtner, wo immer sie konnte. Emilias Vater erledigte kleinere Reparaturen, Helene Brandtner half in der Wohnung von Sarah Magenheim, und Emilia kaufte regelmäßig für sie ein. Diesmal hatte es Emilia damit sehr eilig, denn anschließend wollte sie zu Rafael fahren, nach dessen Umarmung sie sich schon sehnte. Manchmal hätte sie sich von ihm etwas mehr Zärtlichkeit gewünscht und es auch gern gesehen, wenn er auch mal näher auf ihre Interessen eingegangen wäre und die Freizeit dementsprechend gestaltet hätte - aber sie sagte sich, niemand war perfekt, auch sie nicht. Er war schon okay.
Emilia schleppte den Einkaufskorb die Treppe hinauf und läutete an der Tür, die sich kurz danach öffnete. Sarah Magenheim war eine attraktive Frau, groß und schlank. Sie hatte sich vorgenommen, ihr Schicksal fest in die Hand zu nehmen, und versuchte so viel wie möglich selbst zu erledigen.
In ihrer Wohnung fand sie sich so gut zurecht, als könne sie immer noch sehen, und sie war, obwohl das Schicksal sie so hart getroffen hatte, nie schlecht gelaunt und für alles, was man für sie tat, dankbar.
Da sie Emilia schon lange kannte, duzte sie sie. Sarah Magenheim war Emilias Vertraute, mit der sie über alles reden konnte. Obwohl ihre Nachbarin so alt war wie Emilias Mutter, verstanden sich die Frauen wie gute Freundinnen.
Emilia trug den Einkaufskorb in die Küche. Die Blindheit hatte Sarah Magenheim sehr sensibel werden