2500. Marc Pain
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Marc Pain
2500
Eine Zukunfts-Novelle
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Inhaltsverzeichnis
Befreit
Das Signal ertönte und Pan öffnete unmittelbar seine Augen. In einer fließenden und zugleich steif wirkenden Bewegung richtete er sich auf. Zeitgleich setzte er mit den Füßen auf dem Boden auf und erhob sich. Die Arme legte er an den Körper an und stand in strammer Haltung vor dem Bett. Zwischen dem Ertönen des Signals, dem Aufwachen, Wachwerden und dem Aufstehen waren gerade einmal zehn Sekunden vergangen. Mehr Zeit war dafür nicht vorgesehen. Pans Bewegungen wirkten beinahe wie die einer Maschine, eines Humanoiden, aber eben nicht wie die eines Menschen.
Normalerweise wäre er ohne zu zögern, in das angrenzende Bad gegangen, um sich in wenigen Schritten für die Arbeit in seinem Sektor fertigzumachen. Viel Zeit ließ er dabei für gewöhnlich nicht verstreichen. Jeder Tag war aufs Genauste durchstrukturiert und bot keinen Raum zum Rumtrödeln. Eine Minute war für die Rasur vorgesehen, zwei zum Duschen und eine weitere Minute, um die Arbeitskleidung anzuziehen. Pan tat das, ausschließlich das, was seiner Aufgabe diente. Immer wenn das schrille Signal ertönte, stand er auf und fünf Minuten später verließ er seine Wohnzelle. Eine Viertelstunde nach dem Erklingen des Signaltons verließen alle Arbeiter des Wohnsektors ihre Häuser und machten sich auf den Weg zur Arbeit. Sie taten dies jeden Tag. Woche für Woche, Monat für Monat - Jahr für Jahr. Und das ein Leben lang.
Doch nun, zum ersten Mal in seinem Leben, tat Pan etwas Ungewöhnliches. Etwas, das nicht der Vorschrift entsprach. Er tat gar nichts. Nach dem Aufstehen war er wie versteinert stehen geblieben und dachte nach.
Bisher hatte es ihm nicht nur an der Zeit zum Nachdenken gefehlt, er war schlichtweg nicht fähig dazu gewesen, sein Handeln zu hinterfragen. Und jetzt stand er da und fragte sich: Warum soll ich zur Arbeit gehen?
Schockiert schlug er sich die Hand vor den Mund, in der Hoffnung, seine Gedanken damit zum Schweigen zu bringen. Noch nie hatte er es auch nur für möglich gehalten, der Arbeit fernzubleiben. Freizeit war Zeitverschwendung, kontraproduktiv und gefährlich. Obendrein war freies Denken – ein freier Wille verboten.
Jetzt konnte er es und fragte sich: Wieso hab ich diese Gedanken? Warum kann ich mir diese Fragen stellen? Was hat das alles zu bedeuten?
Die neuen Gedanken verwirrten und ängstigen Pan. Außerdem war er über alle Maßen verwirrt. Bislang hatte noch keine Situation seine Fähigkeiten überstiegen. Er hatte nie etwas tun müssen, von dem er nichts verstand. Durch seine Aufgabe definierte er sich, er lebte dafür. Ohne sich jemals gefragt zu haben: warum, wofür und weshalb?
Es war gar so, als wären all diese Fragen seither unterdrückt worden und hätten sich im Geheimen zu einer gefährlichen Last angehäuft. Jetzt brachen es über ihn herein und erschlugen ihn regelrecht.
Die Flut aus Fragen übermannte ihn. Zum ersten Mal verspürte er Angst. Auch wenn er dieses Gefühl nicht benennen konnte, unterlag er den lähmenden Auswirkungen. Es war eine andere Welt, die er nach dem Aufstehen betreten hatte. Eine furchteinflößende Welt, deren Grenzen er nicht einmal erahnen konnte.
Wie kann ich diese Gedanken wieder loswerden?, fragte er sich, ohne zu wissen, zu welch seltenem Besitz er über Nacht gelangt war. Jetzt, da er sich Fragen stellen konnte, schien sein Gehirn für nichts anderes mehr empfänglich zu sein.
Seit über zehn Minuten stand er jetzt vor dem Bett und beschäftigte sich allein mit seinen Gedanken. Nur schwer konnte er sich losreißen, und zog geistesabwesend seine Hose an. Verwirrt, wie er war, vergaß er an diesem Tag das Duschen, und folgte nicht dem minutiös vorgegebenen Tagesablauf. Er machte sich für die Arbeit fertig, weil er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen.
Das akkurat zusammengelegte Hemd lag auf der ebenso perfekt gefalteten Hose. Beides befand sich im obersten Fach eines Spinds. Darunter lag ein Sockenpaar nebst einer frisch gewaschenen Unterhose. In der untersten Etage standen Arbeitsschuhe und auf einem Bügel hing eine Jacke.
Jeden Tag nach der Arbeit, warf er seine getragene und verschwitzte Kleidung in einen Wäscheschacht und jeden Morgen fand er sie gereinigt und feinsäuberlich zusammengelegt wieder vor. Darüber hatte er sich bislang keine Gedanken gemacht, genauso wenig über die geputzte Wohnzelle, die selbstreinigende Dusche und sein gemachtes Bett. Seine Haare wurden einmal in der Woche auf pflegeleichte drei Millimeter gestutzt, dass erledigte eine Robotereinheit. Alles war darauf abgestimmt, dass Pan ungehindert seiner Arbeit nachgehen konnte.
Die Arbeit und seine Aufgabe verloren, umso länger er darüber nachdachte, immer mehr an Bedeutung für ihn.
»Ich will das nicht! Ich darf das nicht!«, versuchte er sich selbst zu warnte und die Stimmen aus seinem Kopf zu verbannen. Sie ließen sich jedoch nicht so einfach verscheuchen oder fortwünschen.
Pan begann sich zu fragen, warum es verboten war zu denken. Außerdem versuchte er sich vorzustellen, was wohl auf ihn zukommen würde, jetzt, da er dieses Verbot gebrochen hatte. Zunehmend überforderte ihn die Situation, ähnlich, wie es an einer Maschine der Fall gewesen wäre, deren Zweck man nicht verstand und sie nicht richtig zu bedienen wusste. Es glich einer Neugeburt, die Pan durchlebte: alles Vergangene zählte nicht mehr und die Zukunft war ungewiss.
»Ich will, dass sie wieder verschwinden! Haut endlich ab!«, rief er aufgebracht. Es war ihm unbegreiflich, wie er das Verbot hatte brechen können.
Nachdem er seine Hose angezogen hatte, legte er sich das Hemd über den Arm und ging ins Bad. Dort hielt er sein Gesicht unter laufendes kaltes Wasser. Er musste einen klaren Kopf bekommen und die bedrückenden Gedanken fortwaschen.