Das Lied von Licht und Finsternis (Lickie-Edition). Georg Martin
eingeweiht als die zwölf Eisernen und der Pangûl. Nicht mal du wusstest etwas davon.«
»Ich hatte keine Ahnung ... Arme Isidora. Sie war ein mutiges Weib. Aber vielleicht hat sie sich selbst verraten?«
Der Ritter sah Jonathan an, als hätte er soeben eine besonders dumme Bemerkung gemacht. Dann sagte er: »Und was deinen verwegenen Fluchtplan angeht: Der Pangûl wird niemals einverstanden sein.«
»Er wird es nicht müssen.«
»Du willst den Pangûl allen Ernstes durch die Luft fliegen lassen, und das gegen seinen erklärten Willen? Der Pangûl soll fliegen lernen?«
»Er wird es nicht müssen«, wiederholte Jonathan. »Und dass wir den möglichen Verräter mit in den Plan eingeweiht haben, könnte uns sogar noch zum Vorteil gereichen, wenn wir es nur geschickt genug anstellen.«
»Ich fürchte, mein Junge, ich kann nicht mehr folgen. Aber das spielt im Augenblick auch keine Rolle. Entscheidend ist allein, was der Pangûl sagt. Ich eile jetzt zu ihm ins Regentenzimmer.«
Jonathan stieg die Treppen hinab, bis er auf Höhe der Wehrgangs war. Dann eilte er zum Südturm der Mauer, die den inneren vom äußeren Burghof trennte. Von hier aus ließ sich das Gelände rund um Eisselgaard hervorragend überblicken. Wandte Jonathan seinen Kopf nach rechts, blickte er auf den äußeren Burghof mit dem üblichen Treiben: Marktweiber, die ihre Waren feilboten (doch das Angebot war karg) oder Mahlzeiten für den schnellen Verzehr zubereiteten, Söldner, die sich die Zeit bis zum nächsten Dienstbeginn vertrieben, und überall dazwischen herumtollende Kinder, die keine Ahnung vom Ernst der Lage zu haben schienen. Schaute er in die entgegengesetzte Richtung, sah er unter sich die gewaltige Außenmauer der Burg, den Burggraben und dahinter die Südflanke des Belagerungsrings. Überall wimmelte es von Streitkräften des Erls, Berittenen und Fußvolk, Söldnern der verschiedenen Waffengattungen, dazwischen Karren mit schweren Geschützen und Feldzelte für die Truppenführer. Das gesamte leicht ansteigende Gelände zwischen dem Wald von Ebenoth und dem Burggraben glich einer belebten Straße in der Mitte einer großen Stadt. Mit dem Unterschied, dass eine gewisse Ordnung herrschte und alle dieselbe Kleidung trugen: die Rüstung der schwarzen Reiter. Sie vertrieben sich die Zeit auf ähnliche Weise wie die Menschen im Inneren der Festung. Es ist der Krieg doch ein seltsames Ding, dachte Jonathan, während er seinen Blick am Belagerungsring entlang nach Westen schweifen ließ: Diesseits und jenseits der Mauern sind es dieselben Sachen, die den Menschen bewegen und nach denen er strebt, und doch müssen sie einander gegenüberstehen, als wäre der jeweils andere ein gefräßiger siebenmäuliger Drache und nicht einer derselben Art und desselben Geblüts wie er.
Jetzt sah Jonathan nach vorn. Er überblickte die Südwestseite des äußeren Burghofs mit den Zinnen und Wehrgängen auf der Außenmauer. Dort wachten die schwer bewaffneten Söldner, die gerade Dienst hatten. Verborgen hinter den unzähligen Schießscharten neben den Zinnen ließen sie die Belagerer nie länger aus den Augen als für die Dauer eines Wimpernschlags, jederzeit bereit, Alarm zu schlagen und zu ihren schweren Waffen zu greifen, falls sich jenseits des Burggrabens etwas Bedrohliches tat. Doch beherrscht wurde auch diese Ansicht von dem unermesslichen grünen Meer des Walds von Ebenoth, der sich bis zum Horizont erstreckte und auf dessen Hintergrund die Türme und Zinnen von Eisselgaard nur unbedeutende graue Farbtupfer waren.
»Hier steckst du«, stöhnte Reinhard, als er seinen Knappen endlich gefunden hatte. Mit hängenden Schultern eilte er über die Wehrmauer auf ihn zu. »Ich hätte es mir denken können. Der Pangûl hat mich für verrückt erklärt. Und dich gleich mit.«
»Wir werden es trotzdem machen«, sagte Jonathan.
»Der Pangûl ist ein hellsichtiger Mann. Du bist verrückt.«
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