Die Jägerin - Blutrausch (Band 2). Nadja Losbohm
mit großen Augen an. Meine Kehle war trocken und wie zugeschnürt. Ich biss mir fest auf die Unterlippe, weil sie noch heftiger anfing zu beben. Ich konnte seine Frage nur beantworten, indem ich nickte. Meiner Stimme war jetzt nicht zu trauen. Und dann konnte ich einfach nicht mehr. Ich brach wieder in Tränen aus. Dieses Mal war der Anfall aber so schlimm, sodass sich mein ganzer Oberkörper krampfartig zusammenzog und mir die Knie weich wurden. Ich war kurz davor zusammenzubrechen. Doch dann spürte ich starke Arme, die sich um mich schlossen und mich davor bewahrten, zu Boden zu sinken. Liebevoll hielt mich der Pater fest und trug mich zu seinem Stuhl hinüber, wo ich mich setzen konnte. Er half mir auf, so wie er es versprochen hatte. Und ich wollte mir Mühe geben, das Gleiche für ihn zu tun. Ich wollte auch für ihn da sein, so wie er es für mich war. Genauso sollte es zwischen uns sein. Genauso hätte es vorher schon sein sollen.
10. Update
Vier Wochen vergingen, in denen wir uns wieder einander annäherten. Es war schwierig. So viel Schmerzliches war geschehen. So viele grausame Worte gesprochen worden. Aber mit jedem verstreichenden Tag ging es leichter. Hin und wieder lachten wir sogar unbeschwert und tauschten auch wieder vorsichtige Zärtlichkeiten aus.
„Was ist eigentlich in der Zwischenzeit passiert?”, fragte ich den Pater, als wir gemeinsam auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer saßen. Mein Kopf lehnte an seiner Schulter, und er hatte einen Arm um mich gelegt. Klassische Musik dudelte leise im Hintergrund. Auch wenn ich sie hasste, er liebte sie. Also ließ ich sie kommentarlos über mich ergehen. „Wie ist es draußen gelaufen? Ich habe das Gefühl, als wüsste ich gar nichts mehr”, bemerkte ich mit einem Seufzen.
Pater Michael schob mich von sich weg. Überrascht sah ich zu ihm auf. „Sieh es dir selbst an”, sagte er und zog mich vom Sofa hoch.
Wir liefen zu dem antiken Schreibtisch, und er schaltete den Computer an. Während der Rechner hochfuhr, schwiegen wir, und ich versuchte mir auszumalen, was er mir zeigen würde. Nach einer Weile hörte das Rattern des Computers auf, und der Bildschirm flimmerte in bunten Farben. Zielstrebig öffnete Pater Michael den Internetbrowser und wählte die Seite eines Nachrichtensenders an. Es schien, als hätte er sich diese Seite schon des Öfteren angesehen, so sicher klickte er hierhin und dorthin und fand umgehend die gewünschten Videoclips. Schockiert schaute ich mir einen nach dem anderen an. Es herrschte das reinste Chaos in den Straßen meiner Stadt. Von unendlich vielen mysteriösen Todesfällen war die Rede. Grausame Bilder von noch grausameren Tatorten wurden gezeigt und Unmengen an Fragen gestellt. Während ich tatenlos im Bett gelegen hatte, hatte die Welt sich weitergedreht, und ich hatte absolut keine Ahnung, was in ihr vorging. Als der letzte Clip geendet hatte, seufzte ich und lehnte mich mit meinem Hintern an den morschen Schreibtisch. „Tja, es gibt eine Menge für mich zu tun”, sagte ich mit einem gezwungenen Lächeln.
„Das heißt dann wohl, die alte Ada ist zurück?”, fragte mich Pater Michael.
„Zum Teil”, antwortete ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ich brauchte nicht auszusprechen, was ich meinte. Wir wussten beide nur zu genau, was sich alles verändert hatte. „Es sieht ganz so aus, als hätte das Interview mit dem Reporter gar nichts gebracht”, meinte ich, als mir wieder einfiel, woran ich zuletzt gearbeitet hatte. „Kam es als Zeitungsartikel heraus?”, wollte ich vom Pater wissen.
Sofort wanderte sein Blick unsicher zu Boden. „Es wurde nie gedruckt”, antwortete er leise.
„Was? Wieso nicht?”, schrie ich auf, und erschrocken fuhr er in seinem Stuhl zusammen. Pater Michael zuckte mit den Schultern. „Das bedeutet, sie wurden nicht gewarnt. Es war alles umsonst”, bemerkte ich mit einem lauten Seufzen und rieb mir über das Gesicht. Wie hatte ich mir jemals einbilden können, dass der Chef der Zeitung zusagen würde, solch einen Bericht zu drucken? Egal wie viel Unglaubliches in unserer Welt geschah, aber so eine abstruse Geschichte würde wohl niemand veröffentlichen.
„Es gab zwar keinen Zeitungsartikel. Aber Mister Meyers hat es dennoch geschafft, an die Öffentlichkeit zu gehen”, verriet mir der Pater plötzlich. Verblüfft schaute ich ihn an. Wieso hatte er mir das nicht gleich gesagt? Mann! Ich hasse es, wenn er das tut! „Mister Meyers rief dich vor einiger Zeit auf deinem Mobiltelefon an. Du konntest nicht rangehen, weil…”, er geriet mit seiner Erklärung kurz ins Stocken, als er sich daran erinnerte, wie ich halb wahnsinnig und halb verhungert in meinem Schlafzimmer gelegen hatte. Pater Michael räusperte sich und fuhr fort: „Ich habe das Gespräch entgegengenommen, und er teilte mir mit, dass er ein Video aufgezeichnet und soeben ins Internet gestellt hatte.”
Ich sah, wie er sich zum Computer umdrehte und wieder anfing, etwas in die Tastatur einzugeben. Eine andere Internetseite öffnete sich. Nach ein paar Mausklicks hatte er das gewünschte Video gefunden. Ein kleines schwarzes Fenster mit einem weißen Dreieck war zu sehen. Pater Michael führte den Cursor dorthin und klickte darauf. Sofort ging die Vorführung los.
Etwa sechseinhalb Minuten später war das Filmchen vorbei, und ich starrte den Monitor an. Meine Blicke trafen sich mit denen Pater Michaels auf der spiegelnden Oberfläche des Monitors und starrten sich an.
„Wow!”, brachte ich nur hervor und sah, wie der Pater nickte.
„Er hat sein Bestes gegeben”, meinte er und schaltete den Computer aus.
„Und trotzdem hat es nichts genützt”, erwiderte ich. „All die Mühe, die wir, die er sich gegeben hat, hat nicht ausgereicht. Niemand hat den Ernst der Lage begriffen und die Warnung verstanden.” Plötzlich fühlte ich mich erschöpft und müde, als wenn mich der Pater gerade aufs Laufband geschickt hätte. Wieso hatten die Menschen nicht darauf gehört? Waren sie denn wirklich so ignorant, um zu verstehen, in welcher Gefahr sie Nacht für Nacht schwebten?
„Mister Meyers hat sein Versprechen gehalten. Er hat einen Weg gefunden, die Story zu veröffentlichen. Er hat ein großes Risiko auf sich genommen”, holte mich die Stimme des Paters aus meinen trüben Gedanken hervor. Er klang allerdings danach, als hätte er nie damit gerechnet, dass der Reporter sein Wort halten würde. Auch jetzt schwang seine Abneigung, die er immer noch nicht abgelegt hatte, hörbar mit.
„Was meinst du, wie es ihm geht?”, fragte ich ihn. Ob er etwas von dem Mann gehört hatte?
„Ich weiß nicht. Ich habe seit jenem Tag, als wir telefonierten, nichts mehr von ihm gehört”, antwortete der Pater. Er erhob sich von seinem Stuhl und blieb vor mir stehen.
„Ich möchte ihn besuchen”, sagte ich kurz entschlossen und wusste, dass es richtig war. Ich musste einfach sehen, wie es ihm ging. War er okay oder war auch er Opfer eines Monsters geworden, vor denen er andere gewarnt hatte? Aber vor allem wollte ich ihm für seine Arbeit danken.
Pater Michael sagte nichts. Für einige Minuten musterte er mich nachdenklich. Missbilligend verzog sich sein Mund. Ich sah, dass er einen inneren Kampf ausfocht. Er wollte zwar, dass ich meine Aufgabe wieder aufnahm und auf die Straße ging. Aber so schnell dann wohl doch nicht. Schließlich nickte er, wobei es eine merkwürdige Kreuzung zwischen einem Bejahen und einem energisch ablehnenden Kopfschütteln war. Aber ich verstand es als Einwilligung.
„Danke, Michael”, sagte ich und gab ihm einen Kuss. Bevor er seine Meinung ändern und sich auf mich stürzen konnte, um mich aufzuhalten, huschte ich schnell aus dem Wohnzimmer.
11. Die zwei UNs - UNerwartete UNhöflichkeit
Mein erster Ausflug. Der Erste nach einer langen, langen Zeit. Es war so ungewohnt, hinaus in die Nacht zu gehen wie an meinem allerersten Tag hier. Als ich in dem Portal stand, verharrte ich für einige Minuten dort und lauschte angestrengt in die Dunkelheit des frühen Novemberabends hinein. Es war kühl, aber nicht so sehr, wie es eigentlich hätte sein müssen um diese Jahreszeit herum. Meine Augen suchten die Umgebung nach etwas Verdächtigem ab, aber sie fanden nur die Bäume und Sträucher, an deren Ästen und Zweigen immer noch das Herbstlaub hing. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Dass sich die Monster vor meiner Haustür Nacht für Nacht versammelten und darauf lauerten, dass ich hinaustrat und sie mich noch auf der Schwelle erledigen konnten? Doch