Diez Hermanas. Georg Vetten
als sie wenige Augenblicke später die Tür hinter sich zuschmeißt. Schnellen Schrittes ergreift sie die Flucht.
Szene 6
Innenaufnahme: 21:40 Uhr! Tagungsraum. Verzweifelte Menschen versuchen dem Saal, der den sicheren Tod für sie bedeutet, zu entfliehen. Der Erstickungstod ist grausam. Blut und Schaum treten den Sterbenden aus Mund-, Nasen- und Augenhöhlen.
Mit dem Abheben des Hubschraubers bricht eine neue Zeitrechnung an. Aira betätigt den Fernzünder. Sekunden später explodiert der Hotelkomplex in einem infernalischen Feuerball.
2011 - 15. 3., 10:25
Neun Monate später
Großbritannien
London, Kensington
Stratford Road
Szene 7
Innenaufnahme: Spärlich eingerichtetes Wohnzimmer. Durch verstaubte Jalousien dringen kalte Sonnenstrahlen. Auf einem chinesisch anmutenden Sideboard thront ein großer Flachbildschirm. Auf dem Boden und an den Wänden stapeln sich Bücher, Landkarten und in willkürlichen Farben beschriftete Aktenordner. Mittendrin eine weiße Schlafcouch mit bunten Kissen drapiert. Ein schwarzer Haarschopf schaut unter einer karamellfarbenen Wolldecke hervor. Die zweiflügeligen Türen des alten Kleiderschrankes stehen offen. Davor befinden sich wahllos verstreut T-Shirts, Hosen und Röcke. Die winzige Küchenzeile hingegen wirkt aufgeräumt. Lediglich drei schmutzige Weingläser und eine zur Neige getrunkene Rotweinflasche stören das Bild der Ordnung. Die Appartementtür ist mit sieben Ketten verriegelt.
Schweißgebadet war Sibel auf ihrer Schlafcouch erwacht. Der Straßenlärm drang an ihre Ohren. Zum wiederholten Male war sie nun von diesem Albtraum aus dem Schlaf gerissen worden.
Sie schaute auf den Wecker: 10:25 Uhr. Sie schloss noch einmal für einen kurzen Moment die Lider. Doch Augenblicke später erschienen sie wieder, die Bilder der Explosion!
Als sie das Schildkrötenhospital erreichte, die damals größte Einrichtung Neuseelands zur Rettung verletzter Meeresschildkröten, brannten die Nebengebäude bereits lichterloh.
Etwa zweihundert Meter vom Strand entfernt kreuzte das Rettungsboot. Von weitem glaubte Sibel Jan, zu erkennen. Hatte er ihr zugewunken? Wollte er ihr etwas mitteilen?
Zu spät! Augenblicke später explodierte das Boot mit ohrenbetäubendem Getöse. Zerfetzte Bootsteile und menschliche Gliedmaßen flogen in hohem Bogen auf den heißen Sandstrand. Als Sibel über Jans Turnschuh stolperte, in dem dessen abgerissener Unterschenkel steckte, war sie ohnmächtig zusammengebrochen.
Die Tragödie hatte die Behörden in den kommenden Wochen und Monaten in Atem gehalten. Doch zu einer Aufklärung kam es nie. Nur eine Person schien davon überzeugt zu sein, die Hintermänner des feigen Anschlags zu kennen: Sibels Mutter Vici. Niemand schenkte ihr Gehör, als sie das Matriarchat Zustras für den feigen Anschlag verantwortlich machte. Doch Vici weihte ihre Tochter in die Machenschaften der Sekte Yzuhawa ein. Sie erzählte ihr von ihrer eigenen Jugend und ihrer Flucht vor dem Matriarchat im Alter von 15 Jahren*. „Vici – Auf der Flucht“, Roman Georg Vetten, epubli 2016
Dieser spezielle Geheimbund ist in Frauenhand. Ich war damals eine Schülerin Zustras und bin geflohen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie nach wie vor auf der Suche nach mir sind, hatte sie geflüstert.
Sie sprach von Geheimbünden – die der Katholiken, der Moslems, der Mafia, IRA, RAF, Klu Klux Klan und Al-Quida. Ihre Worte klangen Sibel noch immer im Ohr: Es gibt Hunderte von Organisationen, die im Untergrund arbeiten, um die Macht für ihre Ziele zu missbrauchen. Doch das Matriarchat Zustras, Yzuhawa, ist das Schlimmste und Brutalste!!!
Was sind schon ein paar Umweltaktivisten, wenn es um die Ausbeutung von Ölvorkommen vor unseren Küsten geht, hatte ihre Mutter damals die Ermittler mit verächtlicher Miene provoziert. Sie hatte die Aufklärungsarbeit der Institutionen offen kritisiert und sich damit keine Freunde gemacht.
Eines Abends hatte sie schließlich beschlossen: Wir verschwinden! Die stecken hier alle unter einer Decke!
Sibel war dem Ratschlag ihrer Mutter gefolgt. Beide verließen Neuseeland mit Ziel Europa. Sibel, damals 18 Jahre alt, verlor von heute auf morgen ihre Heimat. Zunächst kamen sie bei Bekannten in London unter. Ein Jahr später zog es ihre rastlose Ma schließlich nach Deutschland. Du stehst schon lange auf dem Nestrand und flatterst mit den Flügeln, hatte sie gemurmelt. Du kommst alleine klar, Sibel!
Ab und an telefonierten sie, und wenn es die finanziellen Möglichkeiten erlaubten, besuchte Vici ihre Tochter zwei Mal pro Jahr. Vor vier Jahren dann die unglaubliche Nachricht: Ihre Mutter hatte sich noch einmal verliebt und brachte wenig später die kleine Fernanda zur Welt. Mit einmal hatte Sibel eine Schwester. Bei dem Gedanken an die Kleine, die ihrer Mutter und damit auch ihr so ähnelte, huschte ein Lächeln über ihre Lippen.
Sibel erhob sich. Sie fühlte sich gerädert, öffnete die schwere Tür des roten Kühlschranks und nahm einen ausgiebigen Schluck aus der Milchtüte, bevor sie sich mit schweren Schritten ins Bad des Einzimmer-Appartements schleppte. Ein Blick in den Spiegel genügte: Wer mit Jungs feiert, darf sich am nächsten Morgen nicht beschweren! Sie grinste ihrem Spiegelbild bemitleidend zu: Hmmm – und was will dieser Steve von dir? Papperlapapp, ich finde nie mehr einen Mann, brummte sie halblaut. Doch ich kann auch nicht bis zu meinem Lebensende trauern, flüsterte sie, während sie die Wimpern tuschte. Mikel jedoch, der hat was. Sibels Laune hob sich beim bloßen Gedanken an den dunkelblond gelockten Sänger. Er hat ein nettes Lächeln, dachte sie.
Vor fünf Wochen war sie mit ihrer Freundin Liz durch die angesagtesten Live-Klubs in Londons East End gezogen. Schließlich waren sie im 'Drop Club' gelandet. Die Band auf der Bühne spielte eine Mischung aus Trash, Ska und Rock'n'Roll-Punk.
Sie haben ein Auge auf uns geworfen, hatte ihr Liz nach einer Weile ins Ohr geflüstert. Die Jungs hatten die Stimmung aufgeheizt und verließen erst nach einem zweistündigen Programm die Bühne.
Sibel und Liz hatten sich anschließend noch auf einen Drink an der Bar niedergelassen. Und siehe da, Liz hatte den richtigen Riecher. Denn keine fünf Minuten später ließ sich der Drummer mit einem vernehmlichen Grunzen auf dem freien Barhocker nieder. Was folgte, war die übliche Anmache:
Hi, ich bin Steve. Und ich wette, ihr vertragt noch einen Gin Tonic und seid ganz heiß darauf, uns kennenzulernen. Das da ist übrigens Mikel. Habt ihr schon mal solch einen verrückten Sänger und Gitarristen gesehen? Wir sind übrigens keine Brüder, auch wenn es den Anschein machen sollte.
Sibel lächelte unwillkürlich, als sie an die Situation zurückdachte: Brüder? Unmöglich! Beide wiesen mit ihren 1,85 Metern Größe zwar Gardemaß aus, doch optisch unterschieden sie sich wie Ying und Yang. Steve, der Drummer, trug sein pechschwarzes Haar im Johnny-Rotton-Stil. Seine Gesichtszüge waren scharf gezeichnet: kantiges Kinn, drei Tage Bart. Die Hakennase war ein wenig zu groß geraten, die Lippen schmal, die Augen braun und ausdrucksstark. Alles in allem wirkte er ein wenig abgerockt. Dass er jedoch durchaus eitel war, verrieten seine blank geputzten ´Sacho´-Stiefeletten ´Oregon´. Er trug eine abgewetzte, schwarze Röhre von `True Religion´ – und die dazu passende Motorradlederjacke, in Schwarz.
Mikel, der Sänger, wirkte hingegen wie ein großer Junge. Der Bartwuchs auf den Wangen erinnerte an feinen Flaum. Seine naturblonden Locken bändigte er mit einem kleinen Zopf. Unmittelbar ins Auge fiel sein Grübchen im Kinn und das Muttermal, das darüber zu wachen schien. Seine graublauen Augen strahlten ausdrucksstark. Und auch sein Schlabberlook verriet Geschmack, wenn auch einen ganz anderen, als der von Steve. Er trug ´Doc Martens´, Baggy Jeans von ´Cipo & Baxx´ und dazu ein einfaches, weißes T-Shirt – unbedruckt!
Was