Gorloin. Thomas Hoffmann
Lyana ihren Bogen auf der Lederhaut ablegen wollte, sagte der Krieger: „Bögen und Messer sollt ihr behalten. Wir sehen, dass ihr Krieger eines fremden Volks seid, und Messer und Bogen sind die Waffen des Kriegers. Es wäre eine Schande, einem Krieger seine Waffe zu nehmen, mit der er sich verteidigt.“
Ich legte Helm und Schild ab und legte mein Schwert daneben. Insgeheim betete ich ein Dankgebet zu meinem Stern, dass ich meinen Dolch behalten konnte. Sven setzte den Rucksack ab und legte seinen Zweihänder behutsam auf die Lederdecke. Das Schwert blitzte auf, als er es ablegte.
„Diese Waffe kann niemand berühren außer mir, ohne sich zu verletzen,“ sagte Sven zu dem vor uns stehenden Krieger.
„Niemand wird deine Waffe anrühren,“ antwortete ihm der Krieger. „Solltest du sie nicht mehr verwenden können, werden wir sie außerhalb unserer Grenzen vergraben oder im Wasser versenken.“
Sven stierte ihn mit zusammengebissenen Zähnen an. Dann warf er Helm und Kettenhemd auf die Decke. Der Krieger sah ihm ohne jede Regung zu. Während Kat Helm, Schild und Schwert ablegte, griff Sven in seinen Rucksack und holte sein Bootsmesser hervor. Mit trotzigem Gesichtsausdruck schob er es in seinen Gürtel. Der Elbenkrieger nickte anerkennend. Auch Lyana legte ihr Schwert ab.
Die Männer schlugen die Lederhaut um unsere Waffen und verschnürten sie zu einem festen Paket. Einer der Krieger nahm den Packen auf die Schulter.
„Wohin bringt ihr unsere Waffen?“ wollte Kat wissen.
Der Krieger, der bisher zu uns gesprochen hatte, deutete in die Baumkronen am Rand der Siedlung. „Auf eine der Aussichtsplattformen. Die Plattformen sind Tag und Nacht mit Wachen besetzt. Niemand wird dort eure Waffen stehlen. Falls ihr sie zurückerhaltet, werden sie vollständig und unversehrt sein.“
Wir vier wechselten stumme Blicke.
„Nehmt eurem Lasttier das Gepäck ab und bindet das Tier dort an den Pfosten,“ befahl uns der Krieger, indem er auf ein nahes Langhaus deutete. „Ihr selbst müsst euch unter das Dach setzen und warten, bis der Rat zusammengetreten ist.“
Als wir mit dem Gepäck zu unseren Füßen an der Lehmwand der Langhütte auf der niedrigen Bank saßen, holte ich einen Wasserschlauch hervor und trank ein paar Züge. Dann reichte ich ihn an Kat weiter. Ich fühlte mich ausgetrocknet nach dem langen Marsch. Mein Magen verlangte nach Essen, aber offensichtlich wollten die Elben uns nichts anbieten. Seit wir uns auf der Bank niedergelassen hatten, schien niemand mehr Notiz von uns zu nehmen, doch eine Gruppe von Kriegern mit geschulterten Bögen blieb in der Nähe. Reihum tranken wir aus dem Wasserschlauch. Sven holte die letzten Dörräpfel aus dem leer gewordenen Proviantbeutel und reichte sie herum. Ich tastete in meiner Hosentasche nach dem Griff meines Klappmessers.
Zwei Bögen, ein Waidmesser, ein Bootsmesser, ein Klappmesser und ein magischer Dolch gegen ein Heer von Bogenschützen, dachte ich mit bitteren Gefühlen.
Lyana legte stumm ihre Hand auf meine.
Eine Frau beim Feuer reichte den Kriegern, die mit uns in die Siedlung gekommen waren, einen Krug, aus dem sie reihum tranken. Andere Frauen gaben ihnen Holzschalen in die Hand, die sie aus einem großen Topf füllten. Die Krieger verteilten sich mit dem Gesicht zum Feuer auf Bänke und löffelten mit Holzlöffeln ihr Essen. Fedurin stieß einen langen Eselsschrei aus.
„Das arme Tier hat Hunger und Durst,“ fauchte Kat wütend. „Ich dachte, Elben sind edle, hochgesinnte Wesen. Diese Waldelben machen auf mich einen ganz und gar rohen, unzivilisierten Eindruck. Das sind Wilde!“
Sie hatte noch nicht zu Ende geschimpft, als ein junges Mädchen mit einem Eimer Wasser herankam, den sie vor Fedurin hinstellte. Der Esel soff das Wasser gierig. Eine andere Frau brachte einen Arm voll Heu und Kastanien für den Packesel. Die Frauen vermieden es, in unsere Richtung zu blicken.
„Der kriegt was, und uns lassen sie hier rumsitzen!“ stieß Kat hervor, als sie ihre Sprache wiederfand.
„He du, Krieger!“ rief Sven einen jungen Mann an, der nicht weitab mit geschultertem Bogen stand.
Der junge Krieger drehte sich zu uns um und blickte uns teilnahmslos an.
„Diesem unvernünftigen Tier gebt ihr zu essen und zu trinken,“ sagte Sven laut. „Sind wir in euren Augen weniger als Tiere, dass ihr uns die Gastgeberpflichten verweigert?“
Lyana sah Sven mit großen Augen an. Der Krieger musterte ihn. Seine Hand ruhte am Messergriff.
„Du sprichst in fremder Sprache, Krieger eines fremden Volks,“ sagte er in flüssiger Reichssprache. „Aber deine Worte ergeben Sinn!“
Er rief den Frauen am Feuer etwas in seiner melodischen Sprache zu. Bald darauf brachten Mädchen uns Holzlöffel, Schalen mit dampfendem Brei und einen Tonkrug mit Wasser. Der Brei schmeckte fade und mehlig und ein wenig nussig. Mein Magen jubelte über die warme Kost.
„Die sind nicht so unzivilisiert hier,“ schmatzte Sven. „Man muss nur wissen, wie man mit ihnen reden muss.“
***
Auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers stand ein Lehmhaus mit steilem Dach. Es hatte keine Fenster. Das Haus war höher und breiter als die Wohnhütten, in denen sich Raum an Raum reihte. Der Eingang war breit genug, dass zwei Männer nebeneinander hindurchgehen konnten. Die Türpfosten waren aus dicken, mit Schnitzwerk versehenen Stämmen gefertigt.
Die Krieger am Feuer standen einer nach dem anderen auf und gingen zum Eingang des Hauses. Weitere Krieger kamen aus der Siedlung und traten in das Gebäude.
„Das wird die Halle sein, in der sie ihren Kriegsrat abhalten,“ mutmaßte Kat düster.
Ein Krieger kam von der Versammlungshalle her. Die Hand am Messergriff stellte er sich vor uns.
„Die Ratsversammlung ist zusammengetreten,“ sagte er in hartem Ton. „Kommt nun!“
Der Innenraum des Hauses war eine einzige große Halle. Mehrere Pfostenreihen trugen die Dachkonstruktion. Längs der Wände erhellten Pechfackeln die Halle. Die Krieger saßen in dichten Reihen auf niedrigen Bänken hintereinander. Der Raum war gedrängt voll bis auf einen schmalen Gang, der vom Eingang zur Stirnseite der Halle verlief. Außer unseren Bewachern hatte keiner der Krieger seinen Bogen dabei.
Es war vollkommen still. Die Krieger sahen uns mit unergründlichen Mienen entgegen, während wir zwischen den Bänken hindurch nach vorn gingen. Ein mannsgroßer Lederschild war an der Stirnwand der Halle angebracht. Er war mit geometrischen Mustern in roten und schwarzen Farben bemalt. Hinter dem Schild waren zwei gekreuzte, zwölf Fuß lange Speere mit breiten Klingen befestigt.
Vor der Stirnwand strahlte eine mit glühenden Holzkohlen gefüllte Herdeinfassung Wärme aus. Der Bereich zwischen der Herdstelle und der Wand war freigehalten worden. Fünf Männer hockten dort mit untergeschlagenen Beinen. Sie waren in rotbraun gemusterte Decken gehüllt. Ihr langes, von Stirnbändern gehaltenes Haar war weiß, die blasse Gesichtshaut faltig und vertrocknet. Sie sahen uralt aus, aber sie blickten uns mit scharfen, wachen Augen entgegen.
Unsere Bewacher bedeuteten uns, vorne an der Seitenwand Platz zu nehmen, wo wir von allen Anwesenden gesehen werden konnten. Der Krieger, der zuerst mit Lyana gesprochen hatte, trat vor und erstattete den Alten, die der Kriegerversammlung gegenüber saßen, in der Elbensprache einen kurzen Bericht. Dann wurde Lyana aufgefordert, aufzustehen. In der Sprache der Herren des Waldes antwortete sie auf Fragen der fünf Alten und aus den Reihen der Krieger. Sie wirkte immer unsicherer, je mehr Fragen ihr von einzelnen Kriegern entgegengeschleudert wurden. Kat, Sven und ich wechselten besorgte Blicke.
Während Lyana noch versuchte, Antworten auf Fragen zu finden, hauchte Kat mir zu: „Die Hauswand, an der wir sitzen - meinst du...“
„Die Wand krieg' ich weg,“ flüsterte ich zurück. „Danach wird's biestig. Ich seh' nicht, wie wir uns bei einer Verfolgungsjagd vor ihren Pfeilen in Sicherheit bringen können.“
„Kannst du nicht Nebel erzeugen oder so was?“