Oma, wie ist es, wenn man alt wird?. Gisela Fiebig-Habermann
man dann auch etwas versäumt hat, was man nicht mehr nachholen kann.
Es muss sich in unserer Seele ein großes Buch befinden, da schreibt unsere Gegenwart wichtige Dinge hinein, die wir in unserem Leben erfahren, die dann irgendwie und irgendwann wieder nachzulesen sind. Oder blättert unsere Seele selbst in diesem Buch und sucht uns das passende Bild für die jetzige Situation?". "Wie meinst du das Oma?", fragte Vedra neugierig. "Schau, wenn ich heute mit dem Rad unterwegs bin, erfreue ich mich an den Kornfeldern und ich bin glücklich, wenn ich eine Lerche zwitschern höre, so wie ich diese damals als kleines Kind bei meiner Oma im Kornfeld hörte, steht das in meinem "Seelenbuch". Das ist dann ein Moment, in dem ich sehr glücklich bin. Das Glücksgefühl für bestimmte Dinge ist mir geblieben, obwohl ich heute etwas schwer höre, vernehme ich das Zwitschern der Lerchen ganz klar. Es gibt aber leider nicht mehr so viele dieser wunderbaren Vögel.
Eigentlich müsste ich ja mein Hörgerät tragen. Weil ich es aber selten in mein Ohr steckte, bringe ich deine Mami manchmal auf die Palme, wenn ich sie nicht verstehen kann und sie deshalb so laut reden muss." "Hm, ja aber warum steckst du denn dein Hörgerät nicht in deine Ohren, dann würdest du noch besser hören?", fragte mich meine Enkeltochter. "Das ist schon richtig, was du sagst, aber die Stöpsel im Ohr erzeugen so einen Juckreiz, der den ganzen Tag nicht auszuhalten ist, erwiderte ich, "das müsstest du mal ausprobieren, dann würdest du es verstehen", fügte ich noch ergänzend hinzu. Vedra schaute mich etwas mitleidig an. "Ja, aber was ich dir jetzt eigentlich sagen wollte, mit dem Buch in der Seele: Ich meine, was in der vergangenen Zeit in dein Seelenbuch eingetragen wurde, bestimmt in Zukunft dein Wesen. Die Liebe zur Natur, zu bestimmten Tieren und zu bestimmten Orten".
Erinnerungen an die Vertreibung aus Schlesien
„Oma, erzähl, warum wohnst du jetzt in Franken. du bist doch eigentlich in Schlesien geboren ?“, wollte Vedra wissen. Ich fuhr mit meiner Erzählung fort: „Es war Krieg und wir Schlesier, wie auch viele andere Menschen aus dem Osten von Deutschland, wurden aus ihrer Heimat vertrieben, weil diese von Russen eingenommen wurde.
Da meine Oma einen Bauernhof mit Pferden hatte, packten wir unsere wichtigsten Dinge auf einen Wagen und die Pferde mussten diesen Wagen ziehen. Ich saß mit noch einem Mädchen vom Dorf ganz oben auf den gepackten Sachen und wir zogen gegen Westen. Als der Krieg zu Ende war, hatten uns die Besatzungsmächte mit ihren Lastautos in die verschiedenen Orte in Westdeutschland verteilt. In der Tschechoslowakei mussten wir alles zurücklassen, was wir bei der Flucht in den Westen mitgenommen hatten, unsere Pferde, unseren Wagen und unsere Kisten.
Wir hatten nur uns, meine Mutti, meine Oma und meine Tanten. Die männlichen Mitglieder der Familie waren alle im Krieg. Mein Vater, meine Onkels, die zu dieser Zeit gerade erst 16, 17 und 19 Jahre alt waren. Jetzt befanden wir uns in der amerikanischen Zone. Deshalb verteilten uns die amerikanischen Soldaten in Franken und Bayern. Wir wurden in Buckenhof bei Erlangen in einem Gasthaus abgeladen. Erst musste ich mit meiner Mutti in einem Saal schlafen. Wir waren bei den Menschen nicht sehr willkommen. Wir wurden wie Eindringlinge behandelt, obwohl wir ja Deutsche waren“.
„Oma, im Krieg wurde doch geschossen, so sieht man es jetzt im Fernsehen, wenn Krieg in den anderen Ländern ist. Hattest du da keine Angst“, wollte Vedra zaghaft wissen. Ich schwieg einen Augenblick, ich holte das Geschehene in mein Gedächtnis zurück. Ich sah viele Bilder, die ich als Kind erlebte. Ich sah, wie am 13. Februar Dresden brannte und aus dieser brennenden Stadt ein Zug herausrollte. Ich sah einen Wald, aus dem weinende junge Mädchen herausrannten und sich uns anschlossen, weil sie von den russischen Soldaten vergewaltigt wurden. Ich sah ein Gewehr, das auf mich und meine Mutter gerichtet wurde, weil wir nicht schnell genug fertig waren, um dem Russen in eine Gemeinschaftsunterkunft zu folgen. Ich sah, wie unsere Pferde geschlachtet wurden und wir uns dann zum Essen holen anstellen mussten, um von dem Pferdefleisch etwas abzubekommen. Plötzlich befand ich mich wieder ganz im Krieg; ich war doch damals gerade 5 Jahre geworden. Diesen Geburtstag hatte ich auf der Flucht erlebt ohne Geburtstagskuchen, ohne Geschenke und ohne Geburtstagsparty.
Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich nicht antworten konnte.
Vedra holte mich wieder mit ihrem lang gezogenen Wort: „O m a“, zurück in das Jetzt. Sie stellte erneut die Frage: „Hattest du Angst?“. Ich sah Vedra an und antwortete: „Heute kann ich sagen, Angst hatte ich nicht, man vertraut als Kind den Erwachsenen, der Mutter, der Oma und der Tante. Sie waren ja immer da. Aber im Unterbewusstsein ist doch Angst in der Seele geblieben. Es gibt eben heute noch bestimmte Dinge oder Ereignisse, die in mein Leben kommen, vor denen ich Angst habe, die aber mit dem Erlebten verbunden sind“.
Jetzt wurde Franken meine neue Heimat. Hier bin ich zur Schule gegangen. Es war ein sehr langer Weg für ein kleines 6-jähriges Mädchen, das vor 7 Uhr von zu Hause losmarschieren musste, um den 4 km langen Schulweg zu schaffen. Schulbusse gab es noch nicht, ein Dampfzug fuhr, aber nicht zu dieser Zeit. Meine Eltern hatten kein Auto. Ein Auto in der Familie war etwas Besonderes“.
Nach einer kleinen Pause sagte ich zu Vedra: „Schätzchen, wenn deine Mami rechtzeitig kommt, werde ich heute noch zu mir nach Hause fahren, denn morgen früh habe ich einen Arzttermin“. „Magst du bis dahin noch Stadt-Land mit mir spielen?“, fragte Vedra. „Ja hol schnell zwei Blatt Papier und 2 Stifte, dann können wir gleich beginnen“. Sie war schnell wieder zurück und wir machten unsere Vorlagen für das Spiel. Dabei fragte Vedra: „Oma, warum gehst du morgen zum Arzt, was tut dir denn weh?“. „Es ist nur eine Routineuntersuchung. Die sollte man immer wahrnehmen. So kann man vielleicht sehr früh erkennen, wenn etwas im Körper nicht mehr in Ordnung ist. Außerdem brauche ich ein Rezept für meine Blutdrucktabletten“, erklärte ich ihr. „Blutdrucktabletten, warum muss man die einnehmen, muss man damit das Blut drücken?“, wollte Vedra wissen. Ich musste lachen. „Nein, Vedra, die Tabletten bewirken, dass das Blut besser in den Adern fließen kann. Im Alter sind die Adern nicht mehr so durchlässig und da braucht das Blut mehr Kraft, um gut durchfließen zu können. Die Tabletten helfen dem Blut, dass es besser fließt“. Diese Erklärung musste Vedra gereicht haben. Sie forderte mich auf: „Komm Oma, jetzt fangen wir an, ich habe schon für die Spalten die Striche gezogen, ist wohl ein bisschen krumm geworden“. „Aber das macht doch nichts“, beruhigte ich sie. Vedra fing an: „Ich sag A und du sagst halt“. Ich: „A, b , c, d“. „Halt,“schrie Vedra, „ D alles mit D“, antwortete ich. Also alles mit D.
Ich erinnerte mich an meine Jugend, denn ich war bei diesem Spiel sehr gut. Damals konnte ich mich total auf dieses Spiel konzentrieren. Vedra ist erst 9 Jahre, da kann ich noch gewinnen, aber ich denke, wenn sie 14 Jahre ist, habe ich keine Chance mehr, da wird sie mich übertreffen. Dann wird mein Gedächtnis die Dinge nicht mehr so schnell abrufen können. Heute werde ich noch Sieger sein. Aber ich will sie noch gewinnen lassen. Es macht so viel Spaß mit ihr zu spielen, denn sie bemüht sich, schnell zu sein.
Ich hörte das Auto meiner Tochter und beschloss, später nach Hause zu fahren.
Auf der Heimfahrt gingen mir alle schönen Dinge, die ich mit ihr erleben darf, nochmal durch den Kopf. Zuhause angekommen, wollte ich noch einiges erledigen, aber ich hatte keine Lust mehr. Ich dachte: Gisela, bist du faul geworden! Früher hätte es dich gestört, wenn du was aufgeschoben hättest. Nein, das kann ich ja morgen machen. Ich bin Rentnerin mit so viel Zeit. Ja, die Zeit ist da, aber sie ist so schnell vertan, weil man für alles viel länger braucht.
Ich setzte mich auf meinen Balkon, dachte über den heutigen Tag nach und überlegte, was ich in den nächsten Tagen noch zu erledigen hatte. Ich genieße die schöne Abendsonne. Genießen, das kann ich jetzt im Alter viel intensiver.
Nach einem gemütlichen Fernsehabend gehe ich ins Bett. Ich bleibe gern lange wach, dafür fällt mir das Aufstehen am nächsten Morgen sehr schwer. Das hat nichts mit dem Alter zu tun, das war schon immer so, das steckt in unseren Genen.
Am nächsten Tag hatte ich beschlossen, mit dem Rad zum Arzt zu fahren. Das ist der Sport, den ich jetzt noch betreiben kann und der mir sehr viel Freude macht. Mit dem Rad unterwegs zu sein, heißt: Bewegung in der frischen Luft und in der Natur. Optimal für unsere Sinne, der