Wir statt Gier. Gordon Müller-Eschenbach
Fließband bis in die Chefetage, verbindlich gelebt werden und nicht von Egothemen kontaminiert werden dürfen. Wie aber ist es um die Wertekultur in deutschen Unternehmen bestellt?
Leitbilder sind für die meisten Top-Manager heute so etwas wie ungeliebte Stiefkinder: Sie sind schwer greifbar, man muss sich auf sie einstellen, sich ernsthaft mit ihnen beschäftigen, und sie sind nicht besonders begabt in Mathe. Und doch gehören sie zum Unternehmen wie der verzogene Stiefsohn zur zweiten Ehe – man kann sie nicht einfach ignorieren.
Entsprechend ist es um die Qualität der meisten Leitbilder heute bestellt. In der Regel sind sie bloße Instrumente der Markenkommunikation und vollgestopft mit inkongruenten Wertkonstrukten, dass es einem schwindlig werden kann. Sie geben nicht wider, was das Unternehmen ausmacht, sondern spiegeln Trends aus der Marktforschung und statistisch erhobene Bedürfnisse der sogenannten Zielgruppe. Was sie in aller Regel nicht spiegeln, sind die Menschen und die Ideen, die das Unternehmen von innen heraus befeuern. Kein Wunder also, dass sich kaum ein Manager mit ihnen identifizieren oder gar in seiner Personalführung an ihnen orientieren kann.
Ein besonders extremes Beispiel dafür sind die Leitbilder konfessioneller Krankenhäuser, die naturgemäß meist einem Wertekanon folgen, der in seiner Urform nur schwer mit den operativen Aufgaben eines gewinnorientiert arbeitenden Unternehmens vereinbar ist. Und doch haben sich die meisten Vorstände jener Kliniken bei der reinen Lehre christlicher Theologie bedient, als es branchenübergreifend unabdingbar wurde, dass Unternehmen, die etwas auf sich halten, mit einem Leitbild aufwarten mussten.
Worst-Practice-Beispiel 2: Leitbilder konfessioneller Krankenhäuser
Gemeinsam mit einigen Kollegen habe ich 2011 die Leitbilder konfessioneller Krankenhäuser in der ersten Studie dieser Art in Deutschland umfassend analysiert. Die Studie deckte mit 509 Kliniken 70 Prozent aller konfessionellen Krankenhäuser in Deutschland ab – die insgesamt immerhin ein Drittel aller Krankenhäuser in der Bundesrepublik ausmachen.
Die Ergebnisse hielten einige Überraschungen parat, die uns in der Summe zu der Erkenntnis führten, dass die Krankenhausleitbilder das Potenzial, das ihre christliche Werteorientierung bietet, bei weitem nicht ausreichend nutzen. So erfuhren die christlichen Werte in der Mehrzahl der Leitbilder eine so unzeitgemäße und praxisfremde Interpretation, dass sie gar nicht dazu geeignet waren, sich auf die Motivation, also den seelischen Antrieb der Mitarbeiter auszuwirken. Sie machten in der Gesamtheit der Leitbilder zudem nur 18 Prozent der Aspekte aus, die als handlungsleitend in den Leitbildern benannt wurden, und waren damit im Schnitt fast gleich gewichtet mit den meist wertfernen pekuniären Aspekten (12 Prozent), die ein Krankenhaus in der Regel ebenso wenig wie andere Unternehmen bei der wertorientierten Markenkommunikation voranbringen.
Ein Leitbild, eine Marke profitiert nicht davon, dass sie etwa Wirtschaftlichkeit als Leitwert des Unternehmens ausgibt – diese abstrakte Aussage trifft auf jedes Unternehmen zu, das darauf angewiesen ist, Gewinn oder doch zumindest Kostendeckung zu erwirtschaften. Ähnlich unspezifisch und damit für die Werteorientierung unbrauchbar sind Leitwerte wie „Entwicklung“ (45 Prozent) und „Zielorientierung“ (32 Prozent), wenn diese nicht praxisnah und umsetzungsorientiert definiert werden.
Die Gruppe von Aspekten, in der man bei einem konfessionellen Unternehmen hingegen die Motivatoren vermuten würde, die die Gemeinschaft der Mitarbeiter zusammenhält und die Seele des Unternehmens charakterisieren, sind die operationalisierbaren, lebenstüchtigen christlichen Werte. Leider ging es in der Mehrzahl der Leitbilder hier genauso hölzern und unzeitgemäß zu wie in der Gruppe der betriebswirtschaftlichen Aspekte: Nächstenliebe etwa, die eher als Grundvoraussetzung gelten sollte, wurde in 54 Prozent der Krankenhausleitbilder als Leitwert des Unternehmens angeführt – und damit viermal so häufig wie die Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiter in Glaubensfragen, die in einem zukunftsorientierten Unternehmen – auch christlicher Prägung – für die Außenwirkung des Unternehmens um ein Vielfaches wertvoller wäre.
Existenziell wichtig wird die zeitgemäße Ausdifferenzierung solcher Werte schon in Anbetracht der absehbaren Personaldilemmata, die in den nächsten Jahren auf die Krankenhäuser zukommt und für die Patienten ohnehin längst Realität ist. Stattdessen werden nicht operationalisierbare Werte wie „Botschaft Jesu Christi“ (33 Prozent) und „Evangelium“ (24 Prozent) zum Gegenstand der Leitbilder gemacht. Das sind Wertmuster, die insbesondere mit Blick auf die zunehmende Ausdifferenzierung der Patientendemografie keinen Wert für die Positionierung der Gesundheitsunternehmen haben. Vor allem aber sind es Wertmuster, die in ihrer unzeitgemäßen Interpretation völlig ungeeignet als Verhaltenskompass und Motivationsmotor für die Mitarbeiter der Krankenhäuser sind. Operationalisierbare Werte wie Fairness und Teamorientierung hingegen versinken in den meisten Krankenhausleitbildern in der Bedeutungslosigkeit.
Aspekte, die für ein Krankenhaus, das als Unternehmen an einem dem – zumal verletzlichen, weil kranken – Menschen dienenden Markt platziert ist, absolut selbstverständlich sein sollten, geraten in vielen Kliniken ins Hintertreffen: Respekt gegenüber dem Patienten wird viel zu selten vorausgesetzt. Auch der Bezug zur Gemeinnützigkeit, also dem Dienst am Menschen, oder einer bedingten Unterordnung wirtschaftlicher Aspekte unter jene der Diakonie – was nicht nur jeder Notfallpatient sich von einem Krankenhaus wünschen würde – sucht man in den meisten Leitbildern vergeblich. Von einem dezidierten Serviceverständnis fehlt – wie so häufig in Deutschland – ohnehin in fast allen Leitbildern jede Spur.
Leitbilder, die so ethikfern gewichten, die so altbacken auf traditionellen, nicht operationalisierbaren und oft auch nicht mehr zeitgemäßen Werten aufbauen, anstatt sich dem Schatz an christlichen Werten anhand zeitgemäßer Interpretationen zu bedienen, der ihnen naturgemäß zur Verfügung steht, sind praktisch nutzlos für die Zwecke, denen sie eigentlich dienen sollten: Sie sind nicht geeignet, um das Unternehmen nach außen als ethisch sauber und – an einem so breit aufgestellten und gleichzeitig sensiblen Markt wie dem Gesundheitsmarkt besonders wichtig – werteprogressiv darzustellen.
Oft wird vom Klinikmanagement vergessen, dass nicht nur die Patienten während ihres Aufenthalts direkt erfahren, wie sehr die Klinik die (selbst) gesetzten Erwartungen an Wertekonformität erfüllt, sondern eine oder zwei weitere Generationen durch die Freunde, Kinder und Enkel der Patienten in diese Erfahrung mit eintauchen – bei jedem einzelnen Besuch. Jeder „Touchpoint“ eines Patienten oder Besuchers mit Klinikpersonal, dritten Dienstleistern, Atmosphäre und kollegialem Umgang wird im individuellen Erfahrungsspeicher fest eingebrannt. So baut sich schnell ein ganz bestimmtes Bild von den „gelebten Werten“ und möglichen Diskrepanzen einer Klinik auf. In Zeiten der Social Networks und zukünftiger Bewertungsplattformen im Gesundheitssektor kommt eine zusätzliche Dynamik durch die Weitervermittlung dieser Eindrücke im Internet auf.
Viel wichtiger noch: Starre, nicht dem Zeitgeist entsprechende Leitbilder sind nicht geeignet, um das Unternehmen von innen heraus anzutreiben. Schon heute ist absehbar, dass das deutsche Gesundheitswesen in den nächsten Jahren kreativ sein muss, um seine angespannte Personalsituation im Griff zu behalten. Dann sind Kliniken im Vorteil, die ihren Angestellten im von Kostendruck geprägten Gesundheitssektor einen Arbeitsplatz bieten, der ihnen ermöglicht eben jene Werte zu leben, die sie zu dieser Karriereentscheidung geführt haben. Kein Angestellter hingegen wird sich für ein Unternehmen entscheiden, das mit den Evangelien als Leitwert aufwartet und gleichzeitig Effizienz in der Positionierung vor Respekt setzt.
Noch bedenklicher: Heilberufe gehören zu den emotional anspruchsvollsten überhaupt. Dass immer mehr Ärzte den Wunsch entwickeln, unter den dramatischen wirtschaftlichen Bedingungen in vielen Kliniken das Handtuch zu werfen, reiht sie ein in die Gruppe der ambitionierten High Performer, denen aus extrinsischen Gründen verweigert wird ihre Werte zu leben.
Die seelische Unterforderung des mittleren Managements
Sehr häufig ist im Zusammenhang mit beruflicher Stagnation, Orientierungslosigkeit und allgemeinen Karrierethemen speziell im mittleren Management von der Gefahr des Burnouts die Rede. Diese Gefahr entsteht durch die Überforderung gerade von High Performern durch ein Übermaß an operativer Verantwortung, wie sie etwa mein Coachee