Franz Kafka – Das Schloss. Franz Kafka
der alte gichtische Vater, der mehr mit Hilfe der tastenden Hände als der sich langsam schiebenden steifen Beine vorwärts kam, die Mutter mit auf der Brust gefalteten Händen, die wegen ihrer Fülle auch nur die winzigsten Schritte machen konnte. Beide, Vater und Mutter, gingen schon, seitdem K. eingetreten war, aus ihrer Ecke auf ihn zu und hatten ihn noch lange nicht erreicht. Die Schwestern, Blondinen, einander und dem Barnabas ähnlich, aber mit härteren Zügen als Barnabas, große starke Mägde, umstanden die Ankömmlinge und erwarteten von K. irgendein Begrüßungswort. Er konnte nichts sagen. Er hatte geglaubt, hier im Dorf habe jeder für ihn Bedeutung und es war wohl auch so, nur gerade diese Leute hier bekümmerten ihn gar nicht. Wäre er imstande gewesen, allein den Weg ins Wirtshaus zu bewältigen, er wäre gleich fortgegangen. Die Möglichkeit, früh mit Barnabas ins Schloss zu gehen, lockte ihn gar nicht. Jetzt in der Nacht, unbeachtet, hätte er ins Schloss dringen wollen, von Barnabas geführt, aber von jenem Barnabas, wie er ihm bisher erschienen war, einem Mann, der ihm näher war als alle, die er bisher hier gesehen hatte, und von dem er gleichzeitig geglaubt hatte, dass er weit über seinen sichtbaren Rang hinaus eng mit dem Schloss verbunden war. Mit dem Sohn dieser Familie aber, zu der er völlig gehörte und mit der er schon beim Tisch saß, mit einem Mann, der bezeichnenderweise nicht einmal im Schloss schlafen durfte, an seinem Arm am hellen Tag ins Schloss zu gehn, war unmöglich, war ein lächerlich hoffnungsloser Versuch.
K. setzte sich auf eine Fensterbank, entschlossen dort auch die Nacht zu verbringen und keinen Dienst sonst von der Familie in Anspruch zu nehmen. Die Leute aus dem Dorf, die ihn wegschickten oder die vor ihm Angst hatten, schienen ihm ungefährlicher, denn sie verwiesen ihn im Grund nur auf ihn selbst, halfen ihm, seine Kräfte gesammelt zu halten, solche scheinbare Helfer aber, die ihn statt ins Schloss, dank einer kleinen Maskerade, in ihre Familien führten, lenkten ihn ab, ob sie wollten oder nicht, arbeiteten an der Zerstörung seiner Kräfte. Einen einladenden Zuruf vom Familientisch beachtete er gar nicht, mit gesenktem Kopf blieb er auf seiner Bank.
Da stand Olga auf, die sanftere der Schwestern, auch eine Spur mädchenhafter Verlegenheit zeigte sie, kam zu K. und bat ihn, zum Tisch zu kommen. Brot und Speck sei dort vorbereitet, Bier werde sie noch holen. „Von wo?“ fragte K. „Aus dem Wirtshaus“, sagte sie. Das war K. sehr willkommen. Er bat sie, lieber kein Bier zu holen, aber ihn ins Wirtshaus zu begleiten, er habe dort noch wichtige Arbeiten liegen. Es stellte sich nun aber heraus, dass sie nicht so weit, nicht in sein Wirtshaus gehn wollte, sondern in ein anderes, viel näheres, den Herrenhof. Trotzdem bat K., sie begleiten zu dürfen, vielleicht, so dachte er, findet sich dort eine Schlafgelegenheit; wie sie auch sein mochte, er hätte sie dem besten Bett hier im Hause vorgezogen. Olga antwortete nicht gleich, blickte sich nach dem Tisch um. Dort war der Bruder aufgestanden, nickte bereitwillig und sagte: „Wenn der Herr es wünscht.“ Fast hätte K. diese Zustimmung dazu bewegen können, seine Bitte zurückzuziehen, nur Wertlosem konnte jener zustimmen. Aber als nun die Frage besprochen wurde, ob man K. in das Wirtshaus einlassen werde, und alle daran zweifelten, bestand er doch dringend darauf, mitzugehen, ohne sich aber die Mühe zu nehmen, einen verständlichen Grund für seine Bitte zu erfinden; diese Familie musste ihn annehmen, wie er war, er hatte gewissermaßen kein Schamgefühl vor ihr. Darin beirrte ihn nur Amalia ein wenig mit ihrem ernsten, geraden, unrührbaren, vielleicht auch etwas stumpfen Blick.
Auf dem kurzen Weg ins Wirtshaus – K. hatte sich in Olga eingehängt und wurde von ihr, er konnte sich nicht anders helfen, fast so gezogen wie früher von ihrem Bruder – erfuhr er, dass dieses Wirtshaus eigentlich nur für Herren aus dem Schloss bestimmt sei, die dort, wenn sie etwas im Dorf zu tun haben, essen und sogar manchmal übernachten. Olga sprach mit K. leise und wie vertraut, es war angenehm mit ihr zu gehen, fast so wie mit dem Bruder. K. wehrte sich gegen das Wohlgefühl, aber es bestand.
Das Wirtshaus war äußerlich sehr ähnlich dem Wirtshaus, in dem K. wohnte. Es gab im Dorf wohl überhaupt keine großen äußeren Unterschiede, aber kleine Unterschiede waren doch gleich zu merken, die Vortreppe hatte ein Geländer, eine schöne Laterne war über der Tür befestigt. Als sie eintraten, flatterte ein Tuch über ihren Köpfen, es war eine Fahne mit den gräflichen Farben. Im Flur begegnete ihnen gleich, offenbar auf einem beaufsichtigenden Rundgang befindlich, der Wirt; mit kleinen Augen, prüfend oder schläfrig, sah er K. im Vorübergehen an und sagte: „Der Herr Landvermesser darf nur bis in den Ausschank gehn.“ „Gewiss“, sagte Olga, die sich K.s gleich annahm, „er begleitet mich nur.“ K. aber, undankbar, machte sich von Olga los und nahm den Wirt beiseite. Olga wartete unterdessen geduldig am Ende des Flurs. „Ich möchte hier gerne übernachten“, sagte K. „Das ist leider unmöglich“, sagte der Wirt. „Sie scheinen es noch nicht zu wissen, das Haus ist ausschließlich für die Herren vom Schloss bestimmt.“ „Das mag Vorschrift sein“, sagte K., „aber mich irgendwo in einem Winkel schlafen zu lassen, ist gewiss möglich.“ „Ich würde Ihnen außerordentlich gern entgegenkommen“, sagte der Wirt, „aber auch abgesehen von der Strenge der Vorschrift, über die Sie nach Art eines Fremden sprechen, ist es auch deshalb unausführbar, weil die Herren äußerst empfindlich sind; ich bin überzeugt, dass sie unfähig sind, wenigstens unvorbereitet, den Anblick eines Fremden zu ertragen; wenn ich Sie also hier übernachten ließe und Sie durch einen Zufall – und die Zufälle sind immer auf Seite der Herren – entdeckt würden, wäre nicht nur ich verloren, sondern auch Sie selbst. Es klingt lächerlich, aber es ist wahr.“ Dieser hohe, fest zugeknöpfte Herr, der, die eine Hand gegen die Wand gestemmt, die andere in die Hüfte, die Beine gekreuzt, ein wenig zu K. herabgeneigt, vertraulich zu ihm sprach, schien kaum mehr zum Dorf zu gehören, wenn auch noch sein dunkles Kleid nur bäuerisch festlich aussah. „Ich glaube Ihnen vollkommen“, sagte K., „und auch die Bedeutung der Vorschrift unterschätze ich gar nicht, wenn ich mich auch ungeschickt ausgedrückt habe. Nur auf eines will ich Sie noch aufmerksam machen, ich habe im Schloss wertvolle Verbindung und werde noch wertvollere bekommen, sie sichern Sie gegen jede Gefahr, die durch mein Übernachten hier entstehn könnte und bürgen Ihnen dafür, dass ich imstande bin, für eine kleine Gefälligkeit vollwertig zu danken.“ „Ich weiß“, sagte der Wirt und wiederholte nochmals, „das weiß ich.“ Nun hätte K. sein Verlangen nachdrücklicher stellen können, aber gerade diese Antwort des Wirtes zerstreute ihn, deshalb fragte er nur: „Übernachten heute viele Herren vom Schloss hier?“ „In dieser Hinsicht ist es heute vorteilhaft“, sagte der Wirt gewissermaßen lockend, „es ist nur ein Herr hiergeblieben.“ Noch immer konnte K. nicht drängen, hoffte nun auch schon, fast aufgenommen zu sein, so fragte er nur noch nach dem Namen des Herrn. „Klamm“, sagte der Wirt nebenbei, während er sich nach seiner Frau umdrehte, welche in sonderbar abgenützten, veralteten, mit Rüschen und Falten überladenen, aber feinen städtischen Kleidern herangerauscht kam. Sie wollte den Wirt holen, der Herr Vorstand habe irgendeinen Wunsch. Ehe der Wirt aber ging, wandte er sich noch an K., als habe nicht mehr er selbst, sondern K. wegen des Übernachtens zu entscheiden. K. konnte aber nichts sagen, besonders der Umstand, dass gerade sein Vorgesetzter hier war, verblüffte ihn. Ohne dass er es sich selbst ganz erklären konnte, fühlte er sich Klamm gegenüber nicht so frei wie sonst gegenüber dem Schloss, von ihm hier ertappt zu werden, wäre für K. zwar kein Schrecken im Sinne des Wirtes, aber doch eine peinliche Unzukömmlichkeit gewesen, so etwa als würde er jemandem, dem er zu Dankbarkeit verpflichtet war, leichtsinnig einen Schmerz bereiten; dabei aber bedrückte es ihn schwer, zu sehen, dass sich in solcher Bedenklichkeit offenbar schon die gefürchteten Folgen des Untergeordnetseins, des Arbeiterseins zeigten und dass er nicht einmal hier, wo sie deutlich auftraten, imstande war, sie niederzukämpfen. So stand er, zerbiss sich die Lippen und sagte nichts. Noch einmal, ehe der Wirt in einer Tür verschwand, sah er zu K. zurück. Dieser sah ihm nach und ging nicht von der Stelle, bis Olga kam und ihn fortzog. „Was wolltest du vom Wirt?“ fragte Olga. „Ich wollte hier übernachten“, sagte K. „Du wirst doch bei uns übernachten“, sagte Olga verwundert. „Ja, gewiss“, sagte K. und überließ ihr die Deutung der Worte.
3. Kapitel
[Frieda]
Im Ausschank, einem großen in der Mitte völlig leeren Zimmer, waren an den Wänden, bei Fässern und auf ihnen, einige Bauern, die aber anders aussahen, als die Leute in K.s Wirtshaus. Sie waren reinlicher und einheitlicher in graugelblichen groben Stoff gekleidet, die Jacken waren