Das letzte Bild. Marc Pain
den Gedanken nicht immer ganz bei der Sache war. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Sie haben mich zu Recht von der Kasse ins Lager versetzt, aber ich kann ihnen versichern, es wird zu keinen weiteren Fehlern, meinerseits, kommen. Seitdem ich im Lager bin, sind auch keine Fehler mehr aufgetreten. Trotzdem kann ich es verstehen, wenn Sie mich auch weiterhin nicht an der Kasse sehen wollen.«
Dass ich mit dieser Entscheidung mehr als zufrieden war, musste mein Chef ja nicht wissen. Hingegen könnte ich das Gehalt, wenn er mich wieder an die Kasse befördern würde, gut gebrauchen. Noch weniger Gehalt würde ich allerdings nicht verkraften. Ich würde mir einen Zweitjob suchen müssen und dann hätte ich gar keine Zeit mehr für meinen Sohn.
»Dass Sie im Lager fehlerfrei gearbeitet haben, ist ja eine glatte Lüge! Es wurden entweder falsche oder zu wenig Ware bestellt und am Ende bleibt alles wieder nur an mir hängen. Mit Ihnen habe ich mehr Arbeit, als ohne Sie.«
Ich wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, da ich nicht für die Bestellungen zuständig war. Jedoch sagte ich nichts – es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt ein Widerwort zu leisten – das hatte noch nie etwas an seiner Entscheidung geändert.
»Außerdem weiß ich, dass Sie froh darüber sind, nicht mehr an der Kasse arbeiten zu müssen und ich hätte Sie nur zu gern in dieser Position gelassen. Das kann ich jedoch meinen Kunden und vor allem meinem Geschäft nicht antun.«
Meine Hände waren klitschnass vor lauter Schweiß und mein Magen knurrte, während er sich schmerzvoll zusammenzog.
Zu welchen Strafarbeiten wollte er mich diesmal bloß verdonnern?
Ich betete, dass wenigstens mein Gehalt von seiner Bestrafung verschont blieb.
»Ich weiß nicht, was für private Probleme Sie plagen und ehrlich gesagt interessiert es mich einen feuchten Kehricht.«
Das glaubte ich ihn aufs Wort.
»Ich werde mich kurzfassen. Es wäre jetzt an der Zeit, dass ich Sie zum dritten Mal abmahnen müsste – das habe ich aber noch nie getan. Sie sind für mein Geschäft nicht länger tragbar. Frau Walkina, Sie sind gefeuert!«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war der Auffassung gewesen, dass es meinem Chef viel mehr gab, wenn er mich erniedrigen konnte. Jedoch waren seine Worte eindeutig gewesen und kurz nachdem er sie ausgesprochen hatte, wendete er sich erneut dem Aktenordner zu und würdigte mich keines weiteren Blickes mehr.
Umgehend schossen mir Tränen in die Augen. Ich verließ das Büro, bevor ich zu weinen begann. Dieser Demütigung wollte ich mich nicht aussetzen – ihm die Genugtuung nicht geben, mich so am Boden zerstört zu sehen. Ich zog die Tür hinter mir zu und sofort lief die erste dicke Träne an meiner Wange hinunter. Meine Unterlippe fing unkontrolliert an zu zittern und ich ließ mich auf einer leeren Europalette nieder und schlug mir die Hände schützend vors Gesicht.
»Was ist passiert, Sandra?« Es war Martin, der mit besorgter Stimme den Grund meiner Trauer erfragte. Er setzte sich neben mich auf die Palette und im Augenwinkel vernahm ich seine besorgten Blicke.
»Herr Friedrichs – er hat mich gefeuert.«
»Was?« Martin war außer sich.
»Aber ich habe in letzter Zeit keine Fehler gemacht, dessen bin ich mir hundertprozentig sicher«, redete ich einfach weiter.
Die letzten Worte flüsterte ich schluchzend vor mich hin. Ich legte meine Hände auf die Knie und sah in die Augen meines Ex-Kollegen. Krampfhaft versuchte ich mich zusammenzureißen, um nicht erneut losheulen zu müssen.
»Du weißt so gut wie ich, dass Herr Friedrichs keine Fehler seiner Angestellten benötigt, um sie fertigzumachen. Ich kann deine Trauer und den Schock über die Kündigung gut verstehen. Letzten Endes ist es doch nur gut, dass du endlich weg von diesem Tyrannen bist. Du hast viel zu viel Potenzial für eine Kassiererin oder um Regale einzuräumen. Nutze die Kündigung, indem du dir einen Beruf suchst, der dich ausfüllt und glücklich macht oder der wenigstens besser bezahlt wird.«
Martins Worte waren freundlich und hätten mir in einer anderen Situation wahrscheinlich sehr geschmeichelt. Doch war ich zu besorgt um die Miete für die Wohnung und meinen Sohn, als dass mich seine Worte hätten aufbauen können.
Wie soll ich jetzt für die Miete und ausreichend Essen sorgen?
Das Arbeitslosengeld würde jedenfalls keine große Hilfe sein.
»Aber du weißt doch, dass ich einen Sohn habe und das mein Vermieter mir bereits mit der Kündigung meiner Wohnung gedroht hat, wenn ich für eine weitere Miete nicht ganz aufkommen sollte. Was soll ich jetzt nur machen? Ich weiß nicht mehr weiter.«
Martins Gesichtsausdruck sagte mir, dass er auch keine Antwort auf meine Frage hatte. Trotzdem rechnete ich es ihm hoch an, das er immerhin versuchte mich trösten zu wollen.
»Ich werde jetzt nach Hause gehen und Lisa anrufen. Vielleicht kann sie mir weiterhelfen. Trotzdem danke, Martin.«
Ich erhob mich und auch Martin stand auf.
»Dafür nicht, Sandra. Du hast ja meine Handynummer - also wenn du willst, wenn ich dir irgendwie unter die Arme greifen kann, ruf mich einfach an - egal wann!«
Ich bedankte mich ein weiteres Mal und ging danach zu meinem Spind, der ebenfalls im Lagerraum stand. Meinen Kittel und die Arbeitsschuhe schmiss ich in das unterste Fach und zog meine eigenen Schuhe und einen dunkelgrünen Stoffmantel an. Geistesabwesend verließ ich das Geschäft und ging zur nahegelegenen U-Bahn-Haltestelle.
Der Anzeigetafel entnahm ich, dass die Bahn in fünf Minuten einfahren würde und dass es eine Umleitung auf dieser Linie gab. Die Umleitung betraf mich glücklicherweise nicht, da ich vorher aussteigen musste, um in die S-Bahn zu wechseln, die mich zu meiner Haltestelle bringen würde. Wenn es zu keinen unangekündigten Umleitungen oder Sperrungen kommen würde, was durchaus zur Tagesordnung gehörte, dürfte ich in spätestens 30 Minuten daheim sein. Ich würde eine gute Stunde früher, als für gewöhnlich, zuhause sein - eine Tatsache, die nur mäßig erquickend war, in Anbetracht der schlechten Nachricht, die ich im Gepäck hatte.
Nach einer halben Stunde stieg ich an der Haltestelle Wandsbeker Chaussee aus. Von dort lief ich - weiterhin in sorgenvollen Gedanken vertieft, die knapp hundert Meter bis zu meiner Wohnung.
Einen Fahrstuhl besaß das Gebäude, in dem mein Sohn und ich lebten, nicht. So lief ich, jeden Tag, mehrere Male die Stufen bis in den fünften Stock hinauf und hinab. Vor meiner Haustür ging ich noch einmal in mich und atmete tief durch. Ich wollte auf keinen Fall, dass Aaron etwas von meinen Sorgen mitbekam. Er hatte in seinen jungen Jahren schon genug erleiden müssen.
Sein Vater hatte uns vor zwei Jahren verlassen. Er war mir schon seit der Hochzeit vor elf Jahren fremdgegangen. Zudem hatte er mich des Öfteren geschlagen. Ich schwieg bis heute darüber – meinem Sohn zur Liebe. Für eine 19-jährige Schlampe verließ Tim uns schließlich und ließ einen verwirrten und todtraurigen Jungen zurück.
Ich drehte den Schlüssel im Schoss, und mit einem Klicken öffnete sich die Wohnungstür. Wie jeden Tag stürmte mein Sohn sofort in den Flur und sprang mir vor Freude in die Arme.
»Hi mein Schatz - hattest du einen schönen Tag? Hallo Anneliese, ist etwas Ungewöhnliches passiert?«
Mein Sohn umarmte mich lange, während ich mit meiner Hand durch sein blondes, mittellanges Haar strich. Anneliese, seine Tagesmutter, guckte aus der Küche hervor, um mich zu begrüßen.
»Außer, dass ich so früh nicht mit Ihnen gerechnet habe, gab es keine besonderen Vorkommnisse. Aber ich glaube Aaron hat eine tolle Nachricht für Sie!«
Ich sah in die großen, leuchtenden Augen meines Sohnes und zwang mir ein relativ breites Lächeln ab.
»Wir haben heute die Mathearbeit zurückbekommen und jetzt rate mal, was ich für eine Zensur habe?«
Seitdem sein Vater uns verlassen hatte, wurden Aarons Leistungen in der Schule drastisch schlechter. Dass er jetzt eine offensichtlich gute Zensur