Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen. Anna Milow
mich waren die Erwachsenen eine Art verschworene Gemeinschaft, die die wichtigen Dinge des Lebens für sich behielten und sich im Beisein von Kindern über Metaphern und Augenzwinkern verständigten. Mit Metaphorik und Gleichnissen kannte ich mich aus. Ich war ein großer Fan der Evangelien, in welchen es hieß: Mit dem Himmelreich ist es wie mit diesem und jenem. Das Evangelium Matthäus 25,14-30 und Lukas 19,12-27 faszinierte mich besonders. Es handelt von dem Mann, der auf Reisen ging und seinen Dienern Talente überließ mit der Aufgabe, diese zu mehren. Damals, so erinnere ich mich, war ich schon fest entschlossen, meine Talente nicht in der Erde zu vergraben.
Ich hatte dieses verschwörerische Verhalten der Erwachsenen mehr als einmal beobachtet. Ich hatte gesehen, wie sie sich vielsagend ansahen, wahrgenommen, wie sie plötzlich aufhörten zu sprechen, oder so taten, als wäre dies und das belanglos, wenn ich den Raum betrat. Es musste ungeheuer bedeutend sein, was sie über die Geheimnisse des Lebens wussten. Wenn ich in diese Geheimnisse irgendwann eingeweiht würde, raubten sie mir den Atem, da war ich mir sicher. Vielleicht würde mein Herz sogar für einen Moment stillstehen. Aber mit einem so kleinen Mädchen wie mir sprach eben niemand. Auch der Geschwätzigste unter ihnen nicht. Man sprach sogar in meiner Gegenwart meistens über mich. Oder eben zu mir. Das waren dann in der Regel Anweisungen. Man würde mir nichts, gar nichts erzählen!, dachte ich resigniert und haderte mit meiner gesellschaftlichen Stellung, meinem Alter und meinem Dasein als Kind. Obwohl ich damals schon ganz sicher wusste: So wie die Großen will ich nicht werden. So nicht! Ich werde ein anderer Erwachsener. Ein lieber Erwachsener, ein zugewandter Erwachsener. Und nicht so elend langweilig. So nervig.
Ich könnte an dieser Stelle noch berichten, was ich alles unternommen habe, um die heiß ersehnten Antworten auf alle meine Fragen zu bekommen. Ich lernte zum Beispiel sehr früh lesen und las alles, was ich in den Regalen meiner Eltern und meiner Großtante an Gedrucktem fand. Irgendwann konnte ich es einfach. Lesen. Die Buchstaben hatte ich mir in dem ein- oder anderen Heimatblättchen erarbeitet, Bilder und Buchstaben kombiniert. Gehört, was meine Großtante sagte oder vorlas. Nachgeschaut, wie es geschrieben war. Ich war fasziniert, dass Nichtlesen ab sofort nicht mehr möglich war. Das meiste, was ich in Büchern, in Zeitungen, auf Beipackzetteln und Gebrauchsanweisungen entzifferte, verstand ich noch nicht oder brachte es in einen völlig falschen Zusammenhang. Im Liboriusblatt, der Zeitung aus der Metzgerei, im Lukkulus und in der Kirchenzeitung las ich die Witze. In derFrau und Mutter gab es keine Witze. Daher hielt ich die Zeitung für ernst und langweilig. Eine Zeitung ohne Witze war keine gut gelaunte Zeitung. Warum lesen Erwachsene diese ernsten Zeitungen?, fragte ich mich. Wieso freuten sie sich eigentlich nicht den ganzen Tag, sie waren doch frei? Nur Kinder hielt man irgendwie in unsichtbaren Mauern gefangen.
An der Bibel, sie stand bei Tante Sophie in mehreren Ausgaben im Regal, faszinierten mich die Ziffern vor den Zeilen. Ich sah die Bibelexemplare ehrfürchtig an und dachte: Ja, wenn sie das Geschriebene nicht abgezählt hätten, würden sich sicher alle in diesem dicken Buch mit den dünnen Seiten und den langen, langen Texten mit den klitzekleinen Buchstaben verlieren oder gar einige Zeilen vergessen. Ob das je schon einmal ein schlauer Mensch ALLES gelesen hat?
Manchmal blieb ich bei den Versen des Alten Testamentes hängen und sah den erhobenen Finger wie ein Wasserzeichen durch die Zeilen schimmern. Unverständlich und sehr beunruhigend empfand ich im Neuen Testament das Evangelium nach Johannes. Mit jemandem darüber zu reden, getraute ich mich nicht. Sie hätten ja dann gemerkt, dass ich lesen konnte und dann wahrscheinlich die interessanteste Lektüre vor mir verschlossen oder versteckt. Das durfte auf keinen Fall geschehen, wurde doch meine Neugier auf das Lebendige und das, was die Welt im Innersten zusammenhält, immer größer, je mehr ich las.
Einmal war es nahe daran, dass mein Geheimnis aufgedeckt worden wäre. Tante Sophie und ich schnitten mit Wonne die Milchpunkte von den Milchtüten aus. Die schickten wir ein und bekamen wunderschöne Bildchen zu den verschiedensten Themen, wie Tieren, Pflanzen oder fremden Ländern. Die dazu gehörenden Sammelalben bestellte Tante Sophie gleich mit. Ich sehe uns beide im kleinen Esszimmer: Sie saß am Tisch, hatte ein Album vor sich liegen und ich stand schräg dahinter und schaute über ihre Schulter. Wir sortierten Bilder ein, blätterten immer wieder die Seiten um und sprachen darüber, was auf den Bildern zu sehen war, manchmal stundenlang. So hatten wir einmal neue Tierbilder einzukleben und ich las ihr wie sonst auch den Text auf den Bildern vor. Das kam ihr nicht seltsam vor, weil sie wohl dachte, ich würde die Tiere erkennen und benennen. Als ich aber nun auch exotische Exemplare, die mir eigentlich nicht bekannt sein konnten benannte, stutzte sie: „Sag' mal, kannst du das lesen?“ Ich hatte sie gefragt, was ein Gürteltier sei. Mir wurde ganz warm. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Gut, dass sie mein Gesicht in diesem Moment nicht gesehen hatte. Ich habe nichts darauf geantwortet und sie hat auch nicht mehr gefragt.
Ich kontrollierte in den darauf folgenden Tagen die Bücher in den Regalen und an den verschiedenen Plätzen. Offensichtlich war nichts weggeräumt worden. Also, falls sie eine Ahnung hatte, sagte sie nichts. Das tat sie oft: nichts sagen.
Wie auch immer – ich lag im Bett, ertrug das Geschnatter meiner kleinen Schwester und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie war, Gott sei Dank, mit dem Schlafsack am Bett festgebunden. Wie meistens, hatte sie überhaupt keine Lust zu schlafen und war hellwach. Wenn ich ihr keine Antwort gab, wurde sie immer lauter und eindringlicher. So konnte ich mich nicht konzentrieren. Also gab ich ihr Antworten. Irgendwann war sie dann eingeschlafen und ich hatte die nötige Ruhe nachzudenken.
Endlich konnten meine Gedanken einen Faden zum heiß ersehnten Büstenhalter spinnen: Ich müsste zu Gertruds Laden, er lag etwa sechshundert Meter vom kleinen Häuschen entfernt. In diesen Laden wurde ich hin und wieder von den Damen meiner Familie mitgenommen, wenn diese sich dort mit Unterwäsche, neuen Pullovern oder Wolle versorgten. Ich liebte es Susanna, Sophies Tochter, meine Mutter oder Tante Sophie zu Gertrud zu begleiten. Gertrud war eine sehr freundliche Frau mittleren Alters, immer perfekt gekleidet und mit äußerst gepflegten Händen. Wenn sie auf die Leiter stieg und zum Beispiel einen Pullover aus den hohen Regalen holte, breitete sie ihn anschließend auf der Ladentheke aus und ihre Fingernägel klimperten dabei auf dem Glas der Thekenoberfläche. Ich war jedes Mal hingerissen. Dabei sah sie ihre Kunden fragend an. Dann wartete sie ab. Dann strich sie wieder über den Pullover, beschrieb, was man alles mit ihm machen könnte und wie er zu pflegen sei, sagte „Hmhm“ und aus welchem Material er wäre und klimperte dabei. Sie machte das einfach toll. Außerdem roch es in dem kleinen Ladengeschäft immer ganz wunderbar nach frischer Wäsche. Und Gertrud verkaufte auch Büstenhalter! Das wusste ich genau. Sie hatte bestimmt auch die neusten Modelle. Klar hatte sie diesen Büstenhalter aus der Reklame im Fernsehen! Die Frauen mussten doch Schlange danach stehen. 10 Jahre jünger! Ich war wie besessen darauf, diesen Büstenhalter anzuziehen, nur ein einziges Mal. Völlig egal, dass er mir nicht passte. Darüber machte ich mir gar keine Gedanken. Er wirkte bestimmt, auch wenn man ihn nur über die Schulter legte. Und selbst, wenn er mich nur fünf Jahre jünger gemacht hätte – es würde reichen, um zu entdecken, wo ich damals war. Und wer ich war. Und bei wem ich war – bevor meine Mutter mich geboren hatte. Ich spürte ein aufgeregtes Kribbeln im ganzen Körper. Konnte es etwas Interessanteres geben?
Ich musste warten, bis mich wieder jemand mit zu Gertrud nahm. Das wäre eine Strategie. Und dann? Es wäre Tante Sophie sicher unangenehm, wenn ich Gertrud einfach fragen würde, ob ich den Büstenhalter einmal anfassen dürfte. Das hätte ja möglicherweise gereicht. Was würde Tante Sophie dazu sagen? Sie wäre sehr peinlich berührt, würde es herunterspielen und ich wäre zwar bei Gertrud, aber den Büstenhalter würde ich nicht bekommen. Immerhin wusste ich, dass Büstenhalter etwas sehr Privates waren. Und nur etwas für Mädchen und Frauen, die bereits groß waren und einen Busen hatten. Ich war weder groß, noch hatte ich einen Busen. Heimlich, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, betrachtete ich mich im Spiegel. Meine sehr helle, fast weiße Haut hatte dort, wo Frauen einen Busen hatten, nicht mehr als zarte, rosa Flecken. Ich erinnere mich, wie enttäuscht ich war: über meinen Körper und das langsame Wachstum.
Ich überlegte was Susanna, Sophies Tochter, wohl sagen würde. Sie würde sicher eher lachen und sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippen. „Du spinnst doch wohl“, sagte sie manchmal, wenn ich Fragen stellte, die ihr komisch vorkamen. Falls sie mich verstand, würde sie mir