Liebesgeschichten des Orients. Franz Blei
das eine nicht auf Kosten des andern, blickt nie weg, um heimlich zu grinsen. Das sexuelle Grinsen ist wie die schmutzige Literatur eine europäische Verfallserscheinung, die Rabelais noch nicht kannte und die zuerst im England des frühen 17. Jahrhunderts auftauchte und gerade hier, wo eine moralische Orthodoxie sondergleichen eine bis auf das Harmloseste gereinigte und so gefälschte Literatur erzeugt, dass sich in einem richtigen englischen Familienroman auch heute noch ein Brautpaar nie einen Kuss gibt. Diese Störung des Gleichgewichtes im Sinnlichen musste die heimliche Pornographie hervorrufen, die im 19. Jahrhundert ihre höchste Blüte erreichte; und sie musste eine Unsicherheit in Urteil, Anschauung, Behandlung zur Folge haben, die Flaubert wegen der Madame Bovary, Baudelaire wegen der Fleurs du Mal den Prozess wegen Unsittlichkeit machte. Baudelaire erzählt in seinem Tagebuch von einem Besuch, den er mit einer gemeinen Straßendirne dem Louvre abstattet, den das Mädchen zum ersten Mal sieht, und er berichtet den Ausspruch der Prostituierten vor den alten Meistern, dass ›diese Schweinereien ein Skandal seien und sie sich nur wundere, dass man derlei dulde‹! Aber es urteilt der sogenannte Gebildete nicht anders, der die bronzene Plastik eines weiblichen Leibes »künstlerisch« bewundert, um doch das nackt tanzende Modell dieser Plastik dem Staatsanwalt wegen Unsittlichkeit anzuzeigen.
Ich weiß nicht mehr, in welchem Lande es war, noch wie der Richter hieß, der mit einer praktischen Definition der Scham diesen Fall entschied: eine junge schöne Dame vergnügte sich in ihrem Landhaus damit, vor einigen Freunden nackt zu tanzen. Die nicht ganz schließende Jalousie eines Fensters gestattet es Passanten, indiskret zu sein, und einige dieser Neugierigen rächten sich an ihrem Vergnügen durch eine Anzeige bei Gericht. Der Richter ließ diese Neugierigen und die Dame sich entkleiden, wies auf die also Nackten hin und sagte zum Volke: »Hier, seht euch jene an, die sich beklagen, eines Abends durch ein schlecht schließendes Fenster die Haut dieses Mädchens hier gesehen zu haben.« Man kennt aus solchen Prozessen immer nur die Amtsperson, welche jene Personen vertritt, welche den sittlichen Anstoß genommen haben, – diese Personen selber bleiben im Dunkel. Aber man weiß längst, dass ihre merkwürdigen Instinkte das Licht sehr zu scheuen haben; man weiß, dass ihre sittliche Entrüstung immer nur der nachfolgende Ärger über ein ohnmächtiges geschlechtliches Vergnügen ist; durch die Anzeige rächen sie sich an dem unfreiwilligen und von ihnen missbrauchten Objekt ihrer schmutzigen Geschlechtlichkeit. Die Sittlichkeitsschnüffelei ist der Geschlechtsgenuss des Impotenten.
Die Stücke dieser Sammlung orientalischer Liebesgeschichten gehören fast ohne Ausnahme einer frühen Zeit des Schrifttums an und einer noch weiter zurückliegenden Zeit ihrer mündlichen Verbreitung. Denn es ist kein Zweifel, dass das meiste schon lange erzählt wurde, bis es einen fand, der niederschrieb, was man erzählte. Der Übersetzer hat gut daran getan, zwei neuere Stücke, ein indisches und ein japanisches, des Kontrastes halber aufzunehmen: beide diese Stücke zeigen die gleiche Wertlosigkeit, gemessen an dem alten Erzählergut; man spürt in beiden den schlechten europäisch-modernen Einfluss. Die sparsame Auswahl aus dem Schatzhause von Tausendundeiner Nacht dürfte der Umstand motivieren, dass dieses große Erzählwerk, das größte des Orients, in vielen Ausgaben bekannt ist.
Die Truhe
Aus dem Arabischen
Ueddah, vom Lande Jemen, war berühmt unter den Arabern für seine Schönheit. Er und Om-el-Bonain, Tochter von Abd-el-Asis, dem Sohne Meruans, liebten sich, als sie noch Kinder waren, schon so sehr, dass eins vom andern nicht einen Augenblick getrennt sein mochte.
Als Om-el-Bonain die Frau des Ualid-Ben-Abd-el-Malek wurde, verlor Ueddah den Verstand. Nachdem er lange Zeit in einem Zustand von Wirrnis und Weh hingebracht hatte, begab er sich nach Syrien und fing an, täglich um die Wohnstätte Ualids, des Sohnes Maleks, umher zu streifen, ohne zuerst eine Möglichkeit zu finden, sein Begehren zu erreichen. Zuletzt begegnete er einem jungen Mädchen, das er durch beharrliche Fürsorge an sich zu fesseln verstand. Als er meinte, ihr vertrauen zu können, fragte er sie, ob sie Om-el-Bonain kennte.
»Freilich, sie ist ja meine Herrin«, antwortete das junge Mädchen.
»Nun denn«, fuhr Ueddah fort, »deine Herrin ist meine Base, und willst du ihr Nachricht von mir bringen, so wirst du ihr gewiß Vergnügen bereiten.«
»Ich will sie ihr gern bringen«, erwiderte das junge Mädchen. Und darauf lief sie alsbald zu Om-el-Bonain, um ihr Nachricht von Ueddah zu geben.
»Gib acht, was du sagst!«, rief diese, »wie? Ueddah lebt?« – »Gewiß«, erwiderte das Mädchen. »Geh und sag ihm«, fuhr alsbald Om-el-Bonain fort, »er soll nicht weggehen, bis ihm von mir eine Botschaft gekommen ist.« Dann traf sie ihre Maßnahmen, um Ueddah bei sich einzulassen, und daselbst hielt sie ihn versteckt in einer Truhe. Sie ließ ihn heraus, um mit ihm zusammen zu sein, wenn sie sich in Sicherheit glaubte; und wenn jemand kam, der ihn hätte sehen können, so ließ sie ihn wieder in die Truhe gehen.
Eines Tages geschah es, dass man Ualid eine Perle brachte, und er sagte zu einem seiner Diener: »Nimm diese Perle und bringe sie Om-el-Bonain.«
Der Diener nahm die Perle und brachte sie Om-el-Bonain. Er ließ sich aber nicht anmelden und trat ein in einem Augenblick, als sie mit Ueddah zusammen war, also dass er einen Blick in das Gemach Om-el-Bonains werfen konnte, ohne dass sie danach acht hatten. Der Diener Ualids entledigte sich seines Auftrags und bat Om-el-Bonain, ihm etwas zu geben für das Kleinod, das er ihr gebracht hatte. Sie verweigerte ihm das streng und gab ihm einen Verweis. Voll Zorn auf sie, ging der Diener fort, begab sich zu Ualid, sagte ihm, was er gesehen, und beschrieb ihm die Truhe, in die er Ueddah steigen gesehen hatte.
»Du lügst, Sklave ohne Mutter! du lügst!«, sagte Ualid. Und ungestüm lief er zu Om-el-Bonain.
Es waren im Gemache mehrere Truhen; er setzte sich auf die, in welcher Ueddah verborgen war und die ihm der Sklave beschrieben hatte, und sagte zu Om-el-Bonain: »Gib mir eine von diesen Truhen.« – »Sie gehören dir alle ebenso wie ich selbst«, antwortete Om-el-Bonain. – »Nun denn«, fuhr Ualid fort, »ich wünsche die zu haben, auf der ich sitze.« – »In dieser sind Sachen, die eine Frau notwendig braucht«, sagte Om-el-Bonain. »Ich will ja nicht diese Sachen, die Truhe möchte ich haben«, fuhr Ualid fort. »Sie ist dein«, antwortete sie.
Alsbald ließ Ualid die Truhe forttragen und ließ zwei Sklaven rufen, denen befahl er, eine Grube in die Erde zu graben so tief, bis Wasser käme. Dann näherte er seinen Mund der Truhe und rief: »Man hat mir etwas gesagt von dir. Hat man mir Wahres gesagt, so sei jede deiner Spuren von dir getrennt, so sei jede Kunde von dir begraben. Hat man mir Falsches gesagt, so tue ich nichts Schlechtes, wenn ich eine Truhe vergrabe; dann wird nur Holz begraben.« Er ließ dann die Truhe in die Grube stoßen und Steine und Erde, die man aufgeworfen hatte, darauf schütten.
Seitdem besuchte Om-el-Bonain unablässig jene Stätte und weinte daselbst, bis man sie eines Tages fand ohne Leben, das Gesicht auf der Erde.
Die Kurtisane und der Kaufmann
Aus dem Sanskrit
In der Stadt Mattura in Bengalen lebte eine Kurtisane von großer Schönheit namens Vasavadatta, die sich heftig in den jungen Upapusta, den Sohn eines reichen Kaufmanns, verliebte, als zum ersten Mal ihre Augen auf ihn fielen. Sie schickte ihre Magd zu ihm, ihm sagen zu lassen, dass sie ihn mit Freuden in ihrem Hause empfinge. Aber Upapusta kam nicht. Er war keusch und voll Frömmigkeit; er besaß das Wissen; er beobachtete das Gesetz und lebte nach den Lehren Buddhas. Deshalb verachtete er die Liebe dieser Frau.
Da geschah es bald darauf, dass Vasavadatta wegen eines Verbrechens zum Verlust der Hände, Füße, Ohren und der Nase verurteilt wurde. Man führte sie auf einen Kirchhof und das Urteil wurde vollstreckt. Man ließ Vasavadatta an dem Orte, wo sie ihre Strafe erlitten hatte. Sie lebte noch.
Ihre treue Dienerin war bei ihr und jagte mit einem Fächer die Fliegen weg, damit die Arme ungepeinigt von ihnen sterbe. Während sie dies fromme Werk tat, sah sie einen Mann herbei kommen, nicht wie ein Neugieriger, sondern wie einer in tiefer Demut. Ein Kind hielt über ihn einen Sonnenschirm. Als die Dienerin den jungen Upapusta erkannte, raffte sie in Eile die abgehauenen Gliedmaßen ihrer