Französische Sprachwissenschaft. Elissa Pustka

Französische Sprachwissenschaft - Elissa Pustka


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nicht suggerieren, dass französische Textnachrichten immer und durchgehend auf diese Weise geschrieben werden. Korpora wie sms4science dokumentieren vielmehr, dass hier die Variation enorm ist. Insbesondere bestehen große Unterschiede zwischen den Schreiber*innen, wie die folgenden beiden Liebes-SMS zeigen:

      Putain mon amour je t aime trop j sui trop fou d toi c pa poss je ne voi k toi mon amour t la seule ke j aime je t aime+ke tt mon bébé d amour je t aime pour la vie (15-jähriger Junge; FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006: 63)

      Michel, je ne t’ai pas oublié, bien au contraire. Comment le pourrais-je ? Je suis folle de toi… Je n’ai pas eu l’opportunité d’envoyer un sms. Je suis prudente, je ne veux pas que Jm ait des doutes en me voyant lancer des sms en pleine nuit. Tu me manques bcp. Ta voix me manque. Je t’aime. (FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006: 56)

      Im Korpus finden sich in der Tat die meisten in den Massenmedien kolportierten SMS-Charakteristika in der Altersgruppe von 15 bis 25 Jahren. Es zeigt aber auch, dass language texto nicht mit Jugendsprache gleichzusetzen ist. Textnachrichten schreiben Menschen jeden Alters. Allerdings geht der SMS-Slang auch in die Jugendsprache ein, z. B. die Aussprache [o.ka.ɛl.ɛm] (OKLM) für au calme (s. o.). In Comics finden sich ebenfalls typische Ausdrücke des language texto wieder (mehr zur französischen Jugendsprache in Kapitel 10.2.2, mehr zur Comic-Sprache in Kapitel 1.1.3).

      Eine ungeahnte Vielfalt zeigt sich auch bei der näheren Betrachtung einzelner Wörter. So erscheint das Wort aujourd‘hui allein im belgischen sms4science-Subkorpus in insgesamt 40 Varianten: Am häufigsten sind <aujourd’hui> (191/654 Okkurrenzen), <ajd> (123 Okkurrenzen) und <auj> (118 Okkurrenzen). Dabei macht die Standard-Schreibung 29 % und die drei häufigsten Varianten gemeinsam bereits 67 % der Fälle aus. Seltenere Formen sind <aujourd hui> (ohne Apostroph), <aujourdhui> (zusammengeschrieben), <ojourdui> (mit pseudo-phonetischer ‘Transkription’ des <au> als <o>), die Abkürzung <oj> und die Form <ojrd8> fast ohne Vokale und mit Rebus sowie zahlreiche seltenere Kombinationen dieser Elemente. Durch die automatische Wortergänzung und Autokorrektur auf dem Smartphone hat diese Variation inzwischen allerdings wieder abgenommen.

      WhatsApp: von der SMS zum Chat

      Der technische Wandel hat schließlich zu einer Zunahme der Dialogizität geführt, wie der folgende drei Minuten andauernde Chatverlauf zwischen zwei jungen Männern aus dem Korpus What‘s up, Switzerland? zeigt.

       WhatsApp -Chatverlauf (2014)

       À vous !

      Notieren Sie alle Merkmale des langage texto im WhatsApp-Chatverlauf im Kasten!

      1.1.3 Inszenierte Mündlichkeit

      Die französische Nähesprache begegnet einem nicht nur im Alltagsgespräch und im texto, sondern auch in der Kunst: Literatur, Theater, Comic, Film, Fernsehen, Hörspiel und Musik imitieren und inszenieren gesprochene Sprache. Von authentischer Mündlichkeit ist diese sogenannte fingierte – d. h. vorgetäuschte bzw. erdichtete – Mündlichkeit aber weit entfernt:

      Wenn Merkmale, die üblicherweise oder gelegentlich der Mündlichkeit zugeordnet werden, in Literatur auftauchen, dann verweisen sie gleichermaßen auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Mündlichkeit in geschriebenen Texten ist nie mehr sie selbst, sondern stets fingiert und damit eine Komponente des Schreibstils und oft auch der bewußten Schreibstrategie des jeweiligen Autors. (GOETSCH 1985: 203)

      So nehmen Leser*innen und Hörer*innen beispielsweise den Wegfall des ne der Negation oder die Verdoppelung der Pronomina in moi je als mündlich wahr – auch wenn diese Phänomene graphisch realisiert sind oder zumindest schriftlich vorbereitet wurden, etwa bei Theaterstücken und Drehbüchern.

      Authentizität

      Die naheliegendste Funktion fingierter Mündlichkeit ist die „Herstellung der Illusion einer Sprache der Nähe“ (GOETSCH 1985: 217). Die Nähesprache soll Authentizität transportieren, Lebendigkeit erzeugen und damit die Leser*innen tiefer in die Geschichte eintauchen lassen. Dieses Ziel war in der Epoche des Naturalismus besonders wichtig. Der französische Schriftsteller Émile Zola untersuchte sogar selbst die Sprache des Arbeitermilieus, bevor er diese in seinen Roman L’Assommoir (1877) einfließen ließ. Hierfür wurde er seiner Zeit heftig kritisiert. Im Vorwort des Buchs verteidigt er sich:

      On s’est fâché contre les mots. Mon crime est d’avoir eu la langue du peuple. (…) ma volonté était de faire un travail purement philologique, que je crois d’un vif intérêt historique et social. (…) C’est une œuvre de vérité, le premier roman sur le peuple, qui ne mente pas et qui ait l’odeur du peuple. (ZOLA [1877] 1996: 47)

      Während der Schriftsteller seinen Figuren – bzw. einigen davon an einigen Stellen – in der direkten Rede Alltagssprache in den Mund legt, verwendet er für den récit aus Perspektive des Erzählers die Literatursprache. Dies wird am folgenden Ausschnitt aus L’Assommoir deutlich: In der Rede des Arbeiters Coupeau findet sich die Negation ohne ne (aber auch mit), faut statt il faut, ça und moi je, im unmittelbar darauffolgenden récit das passé simple (disparut) und l’on statt on.

       Direkte Rede im Roman: L’Assommoir von Zola (1877)

      – Ah ! quand vous l’empêcherez de se miner, par exemple ! dit Coupeau, la bouche pleine. Si vous n’étiez pas là, je parie qu’elle se lèverait pour me couper mon pain… Tiens-toi donc sur le dos, grosse dinde ! Faut pas te démolir, autrement tu en as pour quinze jours à te remettre sur tes pattes… Il est très bon, ton ragoût. Madame va en manger avec moi. N’est-ce pas, madame ?

      La sage-femme refusa ; mais elle voulut bien boire un verre de vin, parce que ça l’avait émotionnée, disait-elle, de trouver la malheureuse femme avec le bébé sur le paillasson. Coupeau partit enfin, pour annoncer la nouvelle à la famille. (…)

      – Je t’amène la séquelle ! cria Coupeau. Tant pis ! ils ont voulu te voir… N’ouvre pas le bec, ça t’est défendu. Ils resteront là, à te regarder tranquillement, sans se formaliser, n’est-ce pas ?… Moi, je vais leur faire du café, et du chouette !

      Il disparut dans la cuisine. Maman Coupeau, après avoir embrassé Gervaise, s’émerveillait de la grosseur de l’enfant. Les deux autres femmes avaient également appliqué de gros baisers sur les joues de l’accouchée. (ZOLA [1877] 1996: 128)

      Sprachpolitisches Engagement

      Im darauffolgenden Jahrhundert wagt Raymond Queneau es, einen ganzen Roman im sogenannten néofrançais zu schreiben: Zazie dans le métro (1959). Für den Autor ist das gesprochene Französisch das Französisch von morgen – so wie das Vulgärlatein, also das gesprochene Latein, das sich einst zu den romanischen Sprachen weiterentwickelte (vgl. Kapitel 5.2). Er sieht Schriftsteller als Geburtshelfer bei der Weiterentwicklung des néofrançais zur neuen Schriftsprache:

      Avant d’écrire, l’écrivain choisit, autant que possible, la langue dans laquelle il va rédiger ce qui lui semble nécessaire d’être dit. […] Un problème se pose actuellement aux écrivains français, bien que la plupart d’entre eux ne s’en doutent même pas. […] il y a deux langues distinctes : l’une qui est le français qui, vers le XVe siècle, a remplacé le ‘francien’ […], l’autre, que l’on pourrait appeler le néo-français, qui n’existe pas encore et qui ne demande qu’à naître. […] L’accouchement sera laborieux. L’écrivain


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