Mörder im eigenen Dezernat. Denise Remisberger
Die Kabel daran sahen aus wie vom Wetter zerzaust und waren ausserdem zu kurz für die nächste Steckdose, sodass Laura wegen zehn Zentimeter fehlenden Kabels extra ein ellenlanges Verlängerungskabel in die Ästhetik ihres Schlafzimmers hätte bugsieren müssen.
«Die müsste ich mitnehmen und im Geschäft neu verkabeln, die sind zu speziell, und das nötige Material muss auch zuerst bestellt werden. Will heissen, ich muss wiederkommen.»
Da er ihr den Rücken zudrehte, sah sie nicht, dass er lächelte. Seine Stimme war kontrolliert und verriet nichts.
«Ja, natürlich, ist in Ordnung.»
Auch Laura konnte ausgeglichen tönen, obwohl sie sich darüber freute, dass es noch nicht vorbei war.
«Wie heissen Sie eigentlich?», wollte Laura wissen, als er eine Stunde später am Gehen war.
«Trevor. Also, ich meine natürlich, Engelmann.»
«Trevor Engelmann. Also, Trevor Engelmann, bis bald.»
«Bis auf bald, ja.» Er lächelte schon wieder, doch diesmal sah sie es.
6
Birke drückte sich schlotternd in eine Hausecke gegenüber dem Gebäude der Kantonspolizei, das, passend, im Klosterareal der Altstadt zu finden war. Hier lebten sie auch nach strengen Regeln, die nicht ihre eigenen waren. Fremdbestimmt, sozusagen.
Kaspar schwebte in ihrer Nähe, um auf seinen Mörder zu zeigen, sobald dieser endlich aus den Büroräumen herauskommen würde.
«Da, das ist er. Dieser kugelförmige Zwerg dort mit der Hornbrille.»
Heraus stampfte ein kleiner dicker Mann mit einer strähnigen Frisur auf einem halbkahlen Kopf, eingebettet in zwei heraufgezogene Schultern, mit einem nervösen, ständig das Territorium absuchenden Blick im aufgedunsenen Gesicht.
«Du meine Güte!», rief Birke aus. «Und dem hast du vertraut?»
«Ja, ich bin halt so. Ich weiss.»
«Servus», rief jemand hinter dem Mörder-Fahnder her und wedelte mit einem Blatt Papier in der Luft herum.
Der Rufer war eigentlich ein angenehmer Anblick: gerader Rücken, muskulös, aber nicht zu viel, eine grauweisse Lockenmähne, die ein interessantes Gesicht umwehte, eine grosse Nase, dichte Augenbrauen und gut sichtbare Wangenknochen. Mund und Augen aber hatten nichts Angenehmes: der Mund war ein dünner verkrampfter Strich, die Augen klein und der Ausdruck darin ein bisschen panisch. Immer voll der Angst, etwas einzubüssen, etwas, das er gar nie verdient hatte und darum auch nicht wirklich besass: die natürliche Autorität in einer Kaderposition.
«Und der dort ist der Stellvertretende Polizeichef Nulbert Kies. Die beiden haben sich verbündet.»
«Bei denen in der Aura haben sich ein paar kraterartige Risse gebildet», sandte Birke ihre Beobachtung in Gedanken an Kaspar.
«Wenn ’s nur das wäre. Sie hecken etwas Konkretes aus, etwas Destruktives. Und es hat mit Beförderung zu tun. Ungerechtfertigter Beförderung, versteht sich.»
Kaspar konzentrierte sich auf die Gedankengänge des Stellvertretenden Polizeichefs.
«Nulbert Kies will Polizeichef werden und will dafür Servus Blom benutzen. Er hat ihm gerade versprochen, ihn zu seinem Stellvertreter zu machen, wenn es dann so weit sein wird. Und dann wollen die beiden hier aufräumen. Nicht nur bei der Kantonspolizei, sondern sie fantasieren auch darüber, gleich die ganze Stadt umzukrempeln. Ich sehe sie schon die Grabenhalle schliessen wegen zu rockiger Musik.»
«So weit dürfen wir es wirklich nicht kommen lassen, Kaspar.»
«Wir müssen den Polizeichef beschützen; auf den haben sie es zuerst und vor allem abgesehen.»
7
Auf dem Nachhauseweg nach ihrem Dienst radelte Laura Peter übers Kopfsteinpflaster, denn auf den St. Galler Strassen wurden sämtliche Fahrräder ignoriert. Irgendwie war es noch nicht ins allgemeine Autofahrerbewusstsein gedrungen, dass es sie überhaupt gab.
Als Laura vor einem Monat, herkommend vom Bohl, am Café Seeger vorbei zum Bahnhof wollte, also geradeaus in einer Spur, in der auch rechts abgebogen werden durfte, wurde sie übersehen und musste händefuchtelnd ihren Weg erkämpfen, während die Ampel bereits auf Gelb umgeschaltet hatte. In anderen Städten befanden sich rechts auf der jeweiligen Spur die Velowege. Hier gab es sie nur stückweise. Durchgehend waren sie ausschliesslich in der Fussgängerzone auf den Pflastersteinen markiert, sodass die Einkaufstaschen der Lädelnden in den Speichen der Velos ihren Widerstand fanden.
Aber um diese Zeit, drei Uhr morgens, hallte das metallene Geräusch von Lauras Fahrgestell die Wände der Altstadt hoch vor lauter Leere.
Als sie um eine Ecke bog, fuhr sie beinahe über ein Paar Beine, das zu jemandem gehörte, der auf dem Boden, an eine Hauswand gelehnt, hockte. Das Kinn des Mannes war auf seine Brust gesunken.
Laura riss einen Stopp, kniete sich neben den Mann und hob seinen Kopf an.
«Gregor», schrie sie entsetzt auf, als sie Polizeichef Gregor Bohlbrühl identifizierte.
Der gab keinen Ton von sich.
Laura rief einen Krankenwagen auf ihrem privaten Handy und wartete, bis er endlich kam, um dann hinter ihm her Richtung Kantonsspital zu radeln.
Weit war es nicht, und bis sie dort ankam, hatten sie Gregor noch nicht mal auf die Intensivstation gelegt.
«Sind Sie eine Verwandte?», quäkte ein Pfleger mit der Kaffeetasse in der Hand und einem gelben Wolljäckchen um die Schultern.
«Geh’n Sie schlafen», rief ihm die hinter der Bahre hereilende Laura zu.
Laura verkrümelte sich in eine Ecke des freudlosen Raumes, in dem der inzwischen leise stöhnende Gregor untersucht wurde.
«Er hat eine Stichverletzung, junge Frau», kommentierte der Arzt, indem er sich kurz zu ihr umdrehte. «Allerdings geht sie nicht sehr tief. So wie der Mantel und der gefütterte Nierengurt des Opfers zerschnitten sind, hat sich der Herr hier noch rechtzeitig abgedreht, sodass das Messer, wahrscheinlich ein dünnes Stilett, abgerutscht ist. Nicht, dass er kein Blut verloren hätte, aber das Ärgste war der Schock, der ihn ohnmächtig werden liess, sodass er weder die Blutung stillen noch aus dieser Kälte in den nächsten Hauseingang kriechen und die Ambulanz hätte verständigen können. Sein Blutkreislauf scheint auch im Normalzustand schwach zu sein. Hätten Sie ihn nicht jetzt gefunden, Frau Peter, wäre er erfroren, noch bevor ihn all sein Blut hätte verlassen können.»
8
Als Gregor Bohlbrühl erwachte, war alles ungewohnt weiss. Weisses Bettzeug und weisse Wände ohne Bilder oder kostbare Schränke von vor ein paar Jahrhunderten, die den weissen Verputz auf angenehme Weise unterbrochen hätten. Und metallfarben. Bettgestell, Tischchen, beides metallen. Hier sah es aus wie in einem Spital. Also musste er sich wohl auch in solch einem befinden.
Gregor Bohlbrühl versuchte, sich zu erinnern. Doch es kam ihm nichts in den Sinn. Ausser, dass er die Polizeiwache morgens um kurz vor drei Uhr verlassen hatte, um in seine Altstadtwohnung im obersten Stock zu laufen.
Gregor Bohlbrühls Herkunft war nicht dieselbe wie die seiner Arbeitskolleginnen und -kollegen. Seine Mutter, Frau Professorin, und sein Vater, der ein Vermögen verdient hatte mit Public Relations, hatten seine Wahl, zur Polizei zu gehen, für ziemlich blöde gehalten.
Er drückte einmal auf die Klingel über seinem Bett und wartete.
«Was ist passiert?», fragte er die hereinkommende Schwester mit brüchiger Stimme.
«Einen Moment bitte, ich hole den Doktor.» Und schon war sie wieder weg.
Nach etwa einer Viertelstunde stand ein Mann neben seinem Bett,