Der Traum. Emile Zola

Der Traum - Emile Zola


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       Émile Zola

       Der Traum

      Inhaltsverzeichnis

       Impressum

       Kapitel I

       Kapitel II

       Kapitel III

       Kapitel IV

       Kapitel V

       Kapitel VI

       Kapitel VII

       Kapitel VIII

       Kapitel IX

       Kapitel X

       Kapitel XI

       Kapitel XII

       Kapitel XIII

       Kapitel XIV

      Impressum

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       Kapitel I

      Während des strengen Winters 1860 fror die Oise zu, dicker Schnee bedeckte die Ebenen der unteren Picardie1; und dazu kam vor allem ein heftiger Wind aus Nordosten, der Beaumont am Weihnachtstag fast im Schnee begrub. Der Schneefall, der gleich am Morgen eingesetzt hatte, wurde gegen Abend noch stärker, und während der ganzen Nacht türmten sich die Schneemassen. In der Oberstadt, in der Rue des Orfèvres, an deren Ende die Nordfront des Querschiffes der Kathedrale gleichsam eingekeilt ist, stob der Schnee, getrieben vom Wind, und schlug an das SanktAgnesTor, das uralte romanische, beinahe schon gotische Tor, das unter dem kahlen Giebel mit Skulpturen reich verziert war. Am nächsten Morgen lag er dort bei Tagesanbruch fast drei Fuß hoch.

      Die Straße schlief noch, träge von dem Feiern am Heiligen Abend. Es schlug sechs Uhr. In der Dunkelheit, die beim langsamen und beharrlichen Flockenfall bläulich wirkte, lebte nur eine undeutliche Gestalt, ein kleines neunjähriges Mädchen, das unter die Bogenrundungen des Tores geflüchtet war, dort, vor Kälte zitternd, die Nacht zugebracht und, so gut es ging, vor Wetter und Wind Schutz gesucht hatte. Die Kleine war in Lumpen gehüllt, der Kopf mit einem Stoffetzen umwickelt, die nackten Füße steckten in groben Männerschuhen. Zweifellos war sie dort erst gestrandet, nachdem sie lange die Stadt durchstreift hatte, denn sie war hier vor Müdigkeit hingesunken. Für sie war dies das Ende der Welt, niemand und nichts mehr, äußerste Verlassenheit, nagender Hunger, mörderische Kälte; und in ihrer Schwäche von der schweren Last ihres Herzens erstickt, gab sie den Kampf auf, es blieb nur dieses rein körperliche mechanische Zurückweichen, der Instinkt, hin und her zu rücken, sich in diese alten Steine zu verkriechen, wenn ein Windstoß den Schnee aufwirbelte.

      Stunden um Stunden verrannen. Lange hatte sie sich an den Mittelpfeiler zwischen den beiden ganz gleichen Toröffnungen gelehnt, der eine Statue der heiligen Agnes2 trug, der dreizehnjährigen Märtyrerin, eines kleines Mädchens wie sie selbst, mit dem Palmenzweig in der Hand und einem Lamm zu seinen Füßen. Und im Giebelfeld über dem Torbogen entrollte sich als Hochrelief in naiver Gläubigkeit die ganze Legende der Jesus angelobten, kindlichen Jungfrau: wie ihre Haare länger wurden und sie umhüllten, als der Statthalter, dessen Sohn sie zurückwies, sie nackt in die verrufenen Häuser schickte; wie die Flammen des Scheiterhaufens ihren Gliedern auswichen und die Henker verbrannten, sobald sie das Holz anzündeten; die Wunder ihrer Gebeine, wie Constantia, des Kaisers Tochter, vom Aussatz geheilt wird, und die Wunder, die ihr Bildnis gewirkt, wie der Priester Paulinus, gequält vom Verlangen, ein Weib zu nehmen, auf den Rat des Papstes den mit einem Smaragd geschmückten Ring dem Bildnis hinhielt, das den Finger ausstreckte und ihn dann wieder zurückzog, den Ring behaltend, den man da noch sieht, wodurch Paulinus von aller Versuchung erlöst wurde. In der Spitze des Giebelfeldes wird Agnes im Glorienschein schließlich in den Himmel aufgenommen, wo ihr Bräutigam Jesus sich mit ihr, die ganz klein ist und so jung, vermählt, indem er ihr den Kuß ewiger Wonnen gibt.

      Aber wenn der Wind durch die Straße fegte, peitschte der Schnee von vorn, weiße Packen drohten die Schwelle zu versperren; und das Kind wich nun nach den Seiten zurück, zu den Jungfrauen hin, die über dem Säulenstuhl der Leibung standen. Das waren die Gefährtinnen von Agnes, die Heiligen, die ihr Gefolge bildeten: drei zu ihrer Rechten, Dorothea3, die im Gefängnis von wunderbarem Brot ernährt wurde, Barbara4, die in einem Turme lebte, Genoveva5, deren Jungfräulichkeit Paris rettete; und drei zu ihrer Linken, Agatha6, der man die Brustwarzen abgedreht und ausgerissen hatte, Christina7, die von ihrem Vater gefoltert wurde, der ihr ihr eigenes Fleisch ins Gesicht warf, Cäcilia8, die von einem Engel geliebt wurde. Über ihnen noch mehr Jungfrauen, drei dichte Reihen von Jungfrauen stiegen mit den Bögen der Archivolten empor, schmückten die drei Bogenrundungen mit einem Blühen sieghaften und keuschen Fleisches, das hienieden gemartert, in den Folterqualen zermalmt, droben von einer Schar Cherubim empfangen wurde, beseligt vor Entzücken inmitten der himmlischen Heerscharen.

      Und schon lange wurde die Kleine durch nichts mehr geschützt, als es endlich acht Uhr schlug und der Tag heraufzog. Wäre sie in den Schnee getreten, so hätte er ihr bis zu den Schultern gereicht. Das uralte Tor hinter ihr war damit überzogen, war gleichsam mit Hermelin ausgeschlagen, ganz in Weiß, und sah aus wie eine Ruhebank unten an der grauen Fassade, die so kahl und so glatt war, daß nicht eine Flocke daran hängenblieb. Die großen Heiligengestalten der Leibung vor allem waren darin eingehüllt, von ihren weißen Füßen bis zu ihrem weißen Haar, und strahlten von Reinheit. Weiter oben hoben sich die Szenen des Giebelfeldes, die kleinen Heiligengestalten der Bogenrundungen in scharfen Konturen ab, mit einem hellen Strich auf den dunklen Grund gezeichnet; und das bis zur höchsten Seligkeit, bis zur Vermählung der Agnes, die die Erzengel unter einem Regen weißer Rosen zu feiern schienen. Die Statue der kindlichen Jungfrau, die mit ihrem weißen Palmenzweig, mit ihrem weißen Lamm auf dem Pfeiler stand, war von weißer Reinheit, hatte einen unbefleckten schneeigen Leib in dieser starren Reglosigkeit der Kälte, die das mystische Emporschwingen der sieghaften Jungfräulichkeit um sie her zu Eis erstarren ließ. Und zu ihren Füßen die andere, das unglückselige Kind, das auch weiß von Schnee war, so starr und weiß, daß man hätte glauben können, es werde zu Stein, unterschied sich nicht mehr von den großen Jungfrauengestalten.

      Ein Klappern an den schlafenden Häuserfronten, ein Fensterladen, der zurückschlug, veranlaßte indessen die Kleine hochzublicken. Es war rechts von ihr, im ersten Stock des Hauses, das an die Kathedrale grenzte. Eine sehr schöne Frau, eine kräftige Brünette von ungefähr vierzig Jahren, hatte sich soeben aus dem Fenster gebeugt; und trotz des schrecklichen Frostes ließ sie ihre nackten Arme eine Minute lang draußen, da sie gesehen hatte, wie sich das Kind bewegte. Mitleidsvolle Verwunderung machte ihr ruhiges Gesicht traurig. Dann schloß sie erschauernd wieder das Fenster. Sie bewahrte nur die flüchtige Vision eines kleinen blonden Mädchens mit Veilchenaugen und einem Stoffetzen um den Kopf; ein längliches Gesicht, ein vor allem


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