Der Traum. Emile Zola

Der Traum - Emile Zola


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Lebendiges mehr außer dem leichten Hauch des Atems.

      Mechanisch blickte das Kind immer noch empor und betrachtete das Haus, ein sehr altes, gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erbautes schmales Haus mit nur einem Stockwerk. Es klebte an der Seite der Kathedrale zwischen zwei Strebepfeilern, wie eine Warze, die zwischen zwei Zehen einer Riesengestalt gewachsen ist. Und so angelehnt, hatte es sich erstaunlich erhalten mit seinem steinernen Unterbau, seinem mit Klinkern geschmückten Fach werk im ersten Stock, seinem Dachstuhl, dessen Gebälk einen Meter über den Giebel hinausragte, seinem vorspringenden Treppentürmchen an der linken Ecke, dessen winziges Fenster noch die Bleieinfassungen von einst hatte. Das Alter jedoch hatte Ausbesserungen erfordert. Das Ziegeldach mußte aus der Zeit Ludwigs XIV.9 stammen. Man erkannte unschwer die Arbeiten, die um jene Zeit vorgenommen worden waren: eine in die Bekrönung des Türmchens gebrochene Luke, Fensterrahmen aus Holz, die überall die Einfassungen der ursprünglichen Butzenscheiben ersetzten, die drei zusammenhängenden Fensteröffnungen im ersten Stock, aus denen man durch Vermauern der mittleren zwei gemacht hatte, was der Hausfront die Symmetrie der anderen, neueren Gebäude der Straße verlieh. Im Erdgeschoß waren die Veränderungen ebenso sichtbar, eine geschnitzte Eichentür an Stelle der eisenbeschlagenen alten Tür unter der Treppe und die große Arkade in der Mitte, bei der man den unteren Teil, die Seite und die Spitze zugemauert hatte, so daß nur noch eine rechteckige Öffnung da war, eine Art breites Fenster an Stelle der spitzbogenförmigen Fensteröffnung, die ehemals auf die Straße hinausging.

      Ohne an etwas zu denken, betrachtete das Kind noch immer dieses ehrwürdige, saubergehaltene Handwerksmeisterhaus, und es las gerade die Worte, die auf einem gelben Schild, das links neben der Tür angenagelt war, in alten schwarzen Buchstaben geschrieben standen, »Hubert, Meßgewandmacher«, als das Klappen eines Fensterladens es von neuem aufhorchen ließ. Dieses Mal war es der Laden des viereckigen Fensters im Erdgeschoß: nun beugte sich ein Mann hinaus mit vergrämtem Gesicht. Adlernase, höckeriger Stirn, die von dichtem, trotz seiner kaum fünfundvierzig Jahre schon weißem Haar umkränzt war; und auch er verweilte eine Minute und betrachtete die Kleine aufmerksam, während sich eine schmerzliche Falte um seinen großen sanften Mund zog. Sodann sah sie, wie er hinter den kleinen grünlichen Fenstern stehenblieb. Er wandte sich um, er machte eine Handbewegung, seine sehr schöne Frau erschien wieder. Seite an Seite standen sie nun und rührten sich beide nicht mehr, ließen die Kleine nicht mehr aus den Augen und sahen tieftraurig aus.

      Seit vierhundert Jahren bewohnte das Geschlecht der Huberts, bei denen sich das Gewerbe des Kunststickers vom Vater auf den Sohn vererbte, dieses Haus. Ein Meßgewandmachermeister hatte es unter Ludwig XI.10 bauen, ein anderer unter Ludwig XIV. ausbessern lassen; und der jetzt lebende Hubert stickte hier Meßgewänder wie alle seines Stammes. Mit zwanzig Jahren hatte er ein sechzehnjähriges Mädchen, Hubertine, mit solcher Leidenschaft geliebt, daß er sie, obgleich die Mutter, eine Beamtenwitwe, sie ihm verweigerte, entführt und dann geheiratet hatte. Sie war von wunderbarer Schönheit, das war beider ganzer Roman, beider Freude und beider Unglück. Als sie acht Monate später schwanger ans Totenbett ihrer Mutter trat, enterbte diese sie und verfluchte sie, so daß das Kind starb, das noch am selben Abend geboren wurde. Und die starrköpfige Beamtenwitwe, die nun in ihrem Sarg auf dem Friedhof lag, hatte noch immer nicht verziehen, denn das Ehepaar hatte trotz seines glühenden Wunsches kein Kind mehr bekommen. Nach vierundzwanzig Jahren beweinten sie noch immer jenes Kind, das sie verloren hatten, und gaben jetzt die Hoffnung auf, die Tote jemals zu erweichen.

      Von den Blicken der beiden verwirrt, hatte die Kleine sich wieder hinter dem Pfeiler der heiligen Agnes verkrochen. Auch beunruhigte sie das Erwachen der Straße: die Läden wurden geöffnet, Leute kamen aus den Häusern. Die Rue des Orfèvres, deren Ende an die Seitenfront der Kirche stößt, wäre eine richtige Sackgasse, denn nach der Apsis hin war sie durch das Haus der Huberts verstopft, wenn nicht die Rue Soleil, ein schmaler Gang, ihr zur anderen Seite hin einen Ausgang schaffte, indem sie bis zur Hauptfassade auf dem Place du Cloître am Seitenschiff entlanglief; und es kamen zwei Kirchgängerinnen vorbei, die einen erstaunten Blick auf die kleine Bettlerin warfen, die sie in Beaumont nicht kannten. Es schneite noch immer langsam und beharrlich, die Kälte schien mit dem fahlen Tageslicht zuzunehmen, man hörte nur ein fernes Geräusch von Stimmen in der dumpfen Dichte des großen weißen Leichentuches, das die Stadt zudeckte.

      Doch das Kind, das scheu war und sich seiner Verlassenheit schämte wie einer Schuld, wich noch weiter zurück, als es plötzlich vor sich Hubertine stehen sah, die aus dem Haus getreten war, um selber Brot zu holen, weil sie kein Hausmädchen hatte.

      »Kleine, was machst du da? Wer bist du?«

      Und sie antwortete nicht, sie verbarg ihr Gesicht. Jedoch sie fühlte ihre Glieder nicht mehr, das Leben schwand aus ihr, als wäre ihr zu Eis erstarrtes Herz stehengeblieben. Als die liebe Frau mit einer Gebärde taktvollen Mitleids den Rücken gewandt hatte, sank sie, am Ende der Kraft, auf die Knie, glitt wie ein Stückchen Stoff in den Schnee, dessen Flocken sie schweigend begruben.

      Und als die Frau, die mit ihrem noch warmen Brot zurückkam, sie so auf der Erde erblickte, trat sie wiederum näher.

      »Na, Kleine, du kannst doch unter diesem Tor nicht bleiben.«

      Da nahm Hubert, der auch herausgekommen war und auf der Schwelle des Hauses stand, ihr das Brot ab und sagte;

      »Nimm sie doch, bring sie herein!«

      Ohne etwas hinzuzufügen, nahm Hubertine die Kleine in ihre kräftigen Arme.

      Und das Kind wich nicht mehr zurück, es ließ sich forttragen wie einen Gegenstand, mit seinen aufeinandergepreßten Zähnen, seinen geschlossenen Augen, war ganz erfroren und leicht wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelein.

      Sie gingen wieder ins Haus, Hubert schloß die Tür, während Hubertine mit ihrer Bürde durch das zur Straße hin gelegene Zimmer ging, das als gute Stube diente und in dem vor dem großen viereckigen Fenster einige gestickte Stoffbahnen als Muster auslagen. Dann ging sie in die Küche hinüber, die fast unversehrt erhaltene ehemalige Gesindestube mit ihren hervortretenden Balken, ihrem an zwanzig Stellen ausgebesserten Fliesenboden, ihrem riesigen Kamin mit dem Steinmantel. Die Geräte, Töpfe, Kessel und Schmorpfannen auf den Brettern waren ein oder zwei Jahrhunderte alt, alte Fayencen, altes Steingut, altes Zinn. Aber im Feuerloch des Kamins stand ein moderner Herd, ein breiter gußeiserner Herd, dessen Kupferbeschläge blitzten. Er glühte rot, man hörte, wie das Wasser im Kessel kochte. Auf einer Ecke wurde eine Kasserolle mit Milchkaffee warm gehalten.

      »Weiß Gott! Hier ist es besser als draußen«, sagte Hubert, indem er das Brot auf einen schweren Tisch im Stile Ludwigs XIII.11 legte, der die Mitte des Raumes einnahm. »Setz das arme Herzchen nahe an den Herd, da wird sie gleich auftauen.«

      Schon setzte Hubertine das Kind hin; und beide schauten zu, wie es wieder zu sich kam. Der Schnee auf seinen Kleidern schmolz, fiel in schweren Tropfen hernieder. Durch die Löcher in den groben Männerschuhen sah man die zerschundenen kleinen Füße, während sich unter dem dünnen Kleid die starren Glieder abzeichneten, dieser erbarmungswürdige Elends und Schmerzensleib. Ein langer Schauer überlief die Kleine, sie schlug entsetzt die Augen auf und fuhr auf wie ein Tier, das sich beim Erwachen in der Falle gefangen sieht. Ihr Gesicht schien in den unterm Kinn geknoteten Lumpen zu versinken. Die Huberts glaubten, ihr rechter Arm sei verkrüppelt, so fest drückte sie ihn unbeweglich an ihre Brust.

      »Beruhige dich, wir wollen dir nichts Böses tun ... Woher kommst du denn? Wer bist du denn?«

      Je mehr man zu ihr sprach, um so verstörter wurde sie, und sie wandte den Kopf, als stünde jemand hinter ihr, der sie schlagen wollte. Sie musterte die Küche mit verstohlenem Blick, die Fliesen, die Balken, die blitzenden Küchengeräte; dann ging ihr Blick durch die beiden unregelmäßigen Fenster, die in der ehemaligen Fensteröffnung belassen worden waren, nach draußen, durchforschte den Garten bis zu den Bäumen des Bischofspalastes, dessen weiße Umrisse die Mauer im Hintergrund überragten, schien erstaunt darüber, dort links an einer Allee die Kathedrale mit den romanischen Fenstern der Kapellen ihrer Apsis wiederzufinden. Und von neuem überlief sie ein heftiger Schauer in der Wärme des Herdes, die sie zu durchdringen begann; und sie senkte den Blick wieder zu Boden und rührte sich nicht mehr.

      »Bist du aus Beaumont?


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