Schuld und Sühne. Fjodor Dostojewski
gewesen sei ... Er ließ sie als Witwe, mit drei kleinen Kindern, in einem fernen und wilden Landkreise, in dem ich mich damals aufhielt, zurück, in einer so hoffnungslosen Armut, die ich, obwohl ich schon manches gesehen habe, gar nicht beschreiben kann. Auch ihre Verwandten hatten sie verstoßen. Sie war aber stolz, viel zu stolz ... Und dann bot ich ihr, sehr geehrter Herr, der ich auch ein Witwer war und eine vierzehnjährige Tochter von meiner ersten Frau hatte, meine Hand an, da ich solche Qual nicht mitansehen konnte. Auf welche Stufe von Not sie herabgesunken war, können Sie daraus ersehen, daß sie, die gebildet und wohlerzogen war und aus einer bekannten Familie stammte, sich bereit erklärte, mich zu heiraten. Ja, sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend heiratete sie mich! Denn sie konnte sonst nirgends hin. Verstehen Sie es, verstehen Sie es, verehrter Herr, was es heißt, wenn man nirgends mehr hin kann? Nein! Das verstehen Sie noch nicht ... Und ich erfüllte meine Pflichten ein ganzes Jahr fromm und heilig und rührte dieses (er wies mit dem Finger auf die Schnapsflasche) nicht an, denn ich habe Gefühl. Aber auch damit stellte ich sie nicht zufrieden; und da verlor ich auch noch meine Stelle, und zwar nicht durch eigene Schuld, sondern wegen einer Änderung im Etat; und nun erst griff ich danach! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir, nach Irrfahrten und vielen Schicksalsschlägen, endlich in diese großartige und mit zahlreichen Denkmälern geschmückte Residenzstadt geraten sind. Und hier bekam ich einen Posten ... Ich bekam ihn und verlor ihn gleich wieder. Verstehen Sie das? Diesmal verlor ich ihn aus eigener Schuld, denn ich hatte den Strich erreicht ... Jetzt bewohnen wir ein halbes Zimmer bei der Wirtin Amalie Fjodorowna Lippewechsel; wovon wir aber leben und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Viele andere Leute wohnen dort außer uns ... Es geht dort furchtbar zu, ein wahres Sodom ... hm! ... ja ... Indessen ist meine Tochter aus erster Ehe herangewachsen, und was sie, meine Tochter, als sie heranwuchs, von ihrer Stiefmutter alles auszustehen hatte, das verschweige ich. Denn Katerina Iwanowna ist zwar von großmütigen Gefühlen erfüllt, aber eine hitzige und gereizte Dame, sehr streng, und läßt einen gar nicht zu Worte kommen ... Jawohl! Nun, ich will davon lieber nicht sprechen! Eine Erziehung hat meine Ssonja, wie Sie sich wohl denken können, nicht genossen. Vor vier Jahren versuchte ich einmal, sie in Geographie und Weltgeschichte zu unterrichten; da ich aber in diesen Dingen nicht gut beschlagen bin und auch keine ordentlichen Lehrbücher hatte, denn die Bücher, die vorhanden waren ... hm! sie sind jetzt nicht mehr da, diese Bücher, – so endigte damit der ganze Unterricht. Beim Cyrus von Persien blieben wir stehen. Später, als sie schon erwachsen war, las sie einige Romane, und vor kurzem bekam sie durch Vermittlung des Herrn Lebesjatnikow das Buch ›Physiologie‹ von Lewes – kennen Sie es? – sie las es mit großem Interesse und teilte auch uns einige Bruchstücke daraus mit: das ist ihre ganze Bildung. Nun wende ich mich an Sie, verehrter Herr, mit einer privaten Frage: wieviel kann nach Ihrer Meinung ein armes, doch ehrliches junges Mädchen durch ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie verdient keine fünfzehn Kopeken im Tag, verehrter Herr, wenn sie ehrlich ist und über keine besonderen Talente verfügt, und auch das nur, wenn sie unermüdlich arbeitet! Und da hat ihr noch der Staatsrat Klopstock, Iwan Iwanowitsch – haben Sie von ihm nichts gehört? – nicht nur das Geld für das Nähen von einem halben Dutzend holländischer Hemden bis heute nicht bezahlt, sondern sie auch noch unter Beleidigungen hinausgeworfen, indem er mit den Füßen trampelte und sie mit einem unanständigen Worte beschimpfte, unter dem Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und schief genäht sei. Meine Kinder sind aber hungrig ... Und Katerina Iwanowna geht händeringend im Zimmer auf und ab und hat rote Flecken auf den Wangen, was bei dieser Krankheit immer der Fall ist. ›Du lebst,‹ sagte sie, ›du Müßiggängerin, bei uns, ißt und trinkst und hast es warm‹; was ist das aber für ein Essen und Trinken, wenn selbst die kleinen Kinder oft drei Tage lang keine Brotrinde zu sehen bekommen! Ich aber lag damals ... ach, was soll ich viel reden! – ich lag betrunken da und hörte meine Ssonja sagen (sie ist sonst schweigsam und hat ein so sanftes Stimmchen ... blond ist sie, das Gesichtchen immer bleich und mager), ich hörte sie sagen: ›Wie, Katerina Iwanowna, soll ich auf eine solche Sache eingehen?‹ Darja Franzewna, ein übles und der Polizei gut bekanntes Frauenzimmer hat sich aber schon an die dreimal durch die Wirtin erkundigt. ›Warum nicht?‹ antwortet Katerina Iwanowna zum Spott: ›Was sollst du es hüten? So eine Kostbarkeit!‹ Sie dürfen sie aber nicht anklagen, mein Herr, nein, nicht anklagen! Dies war nicht bei gesundem Verstand gesagt worden, sondern in Erregung aller Gefühle und angesichts der kranken und weinenden Kinder, die nichts gegessen haben, und auch mehr in beleidigender Absicht, als im genauen Sinne des Wortes ... Denn Katerina Iwanowna hat mal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, und sei es auch nur aus Hunger, fängt sie sie gleich zu schlagen an. So sehe ich, wie Ssonjetschka so gegen sechs Uhr abends aufsteht, ihr Tüchlein umnimmt, das Mäntelchen anzieht und die Wohnung verläßt und in der neunten Stunde wieder heimkommt. Sie kam heim, ging gleich auf Katerina Iwanowna zu und legte vor ihr schweigend dreißig Rubel auf den Tisch. Kein Wörtchen sprach sie dabei, sah sie nicht mal an, sondern nahm nur unser großes grünes Drap-de-dames-Tuch (wir haben so ein gemeinsames Drap-de-dames-Tuch), bedeckte damit ganz den Kopf und das Gesicht und legte sich aufs Bett mit dem Gesicht zu der Wand, bloß die Schultern und der ganze Körper zitterten. Ich aber lag noch im gleichen Zustande wie früher ... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, auch ohne ein Wort zu sagen, an Ssonetschkas Bettchen herantrat und den ganzen Abend zu ihren Füßen kniete und ihr die Füße küßte und nicht aufstehen wollte, und dann schliefen sie beide zusammen ein, umschlungen ... beide ... beide ... jawohl ... und ich ... ich lag betrunken da.«
Marmeladow verstummte, als versagte ihm die Stimme. Dann schenkte er sich plötzlich ein Gläschen ein, trank es aus und räusperte sich.
»Seit jener Zeit, mein Herr,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »seit jener Zeit wurde meine Tochter, Ssonja Ssemjonowna, infolge eines unglücklichen Umstandes und auf Anzeige übelwollender Menschen, wozu Darja Franzewna besonders viel beitrug, weil man ihr angeblich nicht die gebührende Achtung erwiesen hatte, – gezwungen, einen gelben Paß zu nehmen und konnte infolgedessen nicht mehr bei uns bleiben. Denn auch unsere Wirtin, Amalie Fjodorowna wollte es nicht zulassen (vorher hatte sie aber die Darja Franzewna bei ihren Bemühungen unterstützt), und auch der Herr Lebesjatnikow ... hm! ... Nun, der Ssonja wegen kam es eben zu dieser Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna. Anfangs hatte er sich selbst um Ssonetschka beworben, plötzlich stieg er aber aufs hohe Roß: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mensch, in der gleichen Wohnung mit so einer leben?‹ Katerina Iwanowna wollte es sich aber nicht bieten lassen und trat für Ssonja ein ... So kam die Geschichte ... Ssonjetschka besucht uns aber meistens in der Abenddämmerung, sie hilft Katerina Iwanowna und unterstützt uns nach Kräften mit Geldmitteln ... Sie wohnt beim Schneider Kapernaumow, mietete bei ihm ein Zimmer; dieser Kapernaumow ist aber lahm und stottert, und auch seine ganze zahlreiche Familie stottert. Auch seine Frau stottert. Sie wohnen alle in einem Zimmer, Ssonja hat aber ihr eigenes Zimmer mit einem Alkoven ... Hm! ... ja ... Es sind bettelarme Menschen und stottern alle ... ja ... Also ich stand damals am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob beide Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? Nun, dann kennen Sie einen göttlichen Mann nicht! Er ist ein Stück Wachs ... Wachs vor dem Antlitz des Herrn; er schmilzt wie Wachs! ... Es traten ihm sogar einige Tränen in die Augen, als er mich anzuhören geruhte. ›Nun,‹ sagte er, ›Marmeladow, du hast schon einmal meine Hoffnungen getäuscht ... Ich stelle dich aber wieder an, auf meine persönliche Verantwortung‹, so sagte er mir. ›Merk es dir und geh!‹ Ich küßte den Staub seiner Füße, in Gedanken natürlich, denn in Wirklichkeit hätte er es mir gar nicht erlaubt, denn er ist doch ein hoher Würdenträger und von der neuen politischen und gebildeten Gesinnung; ich kam nach Hause, und als ich erklärte, daß ich wieder einen Posten habe und Gehalt bekommen werde – mein Gott, was gab es da ...«
Marmeladow hielt wieder in großer Erregung inne. In diesem Augenblick kam von der Straße ein ganzer Trupp schon ohnehin betrunkener Säufer, und vor dem Eingange ertönten die Klänge eines von ihnen gemieteten Leierkastens und die gleichsam gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das einen Gassenhauer sang. Es gab großen Lärm. Der Wirt und die Bedienung widmeten sich den neuen Gästen. Marmeladow schenkte ihnen keine Beachtung und fuhr in seiner Erzählung fort. Er schien sehr schwach, doch je mehr er trank, um so redseliger wurde er. Die Erinnerungen an den Erfolg, den er neulich im Dienste gehabt hatte, belebten ihn