Die Erziehung der Gefühle. Gustave Flaubert
der Schnurr- und Kinnbart wie ein Stutzer aus der Zeit Ludwigs XIII. trug. Er fragte ihn nach der Ursache der Unordnung.
»Ich weiß es nicht,« erwiderte der andere, »und sie ebenfalls nicht! Das ist jetzt so Mode! Ein guter Spaß!«
Und er brach in Lachen aus.
Die Petitionen wegen der Reformen, die man in der Nationalgarde unterzeichnen ließ, vereint mit der Volkszählung Humanns und noch andere Ereignisse, hatten seit sechs Monaten zu unerklärlichen Zusammenrottungen in Paris geführt, die sich so häufig wiederholten, daß die Zeitungen gar nicht mehr davon redeten.
»Es fehlt an Grazie und an Farbe,« fuhr Frédérics Nachbar fort. »Mir deucht, mein Herr, daß wir entartet sind! In dem guten Zeitalter Ludwigs des Elften, ja, selbst Benjamin Constants gab es mehr Meuterei unter den Scholaren. Ich finde sie friedlich wie die Hammel, dumm wie das Rindvieh und tauglich zu Gewürzkrämern, meiner Treu! Und das nennt man die Jugend der Hochschulen!«
Er breitete die Arme weit aus, wie Frédéric Lemaitre in »Robert Macaire«.
»Jugend der Hochschulen, ich segne dich!«
Dann redete er einen Lumpensammler an, der im Rinnstein vor dem Laden eines Weinhändlers in Austernschalen wühlte:
»Gehörst du auch dazu, zu der Jugend der Hochschulen?«
Der Greis hob sein garstiges Gesicht, in dem man inmitten eines grauen Bartes eine rote Nase und zwei stupide, vertrunkene Augen unterschied.
»Nein, du gleichst mir eher einem jener Galgenstricke, die man hier und da mit vollen Händen Gold ausstreuen sieht… O! streue, mein Patriarch, streue es aus! Verführe mich mit den Schätzen Albions! Are you English? Ich weise die Gaben von Artaxerxes nicht zurück! Laß uns ein wenig von der Zollunion reden.«
Frédéric fühlte, daß jemand seine Schulter berührte, und drehte sich um. Es war Martinon, auffallend blaß.
»Sieh!« – rief er mit einem tiefen Seufzer. »Wieder ein Aufruhr!«
Er fürchtete, kompromittiert zu werden, und beklagte sich. Besonders beunruhigten ihn die Männer in Blusen, als gehörten sie einem Geheimbunde an.
»Gibt es denn Geheimbünde?« fragte der junge Mann mit dem Schnurrbart. »Das ist ein alter Kniff der Regierung, um die Bürger zu erschrecken!«
Aus Furcht vor der Polizei forderte Martinon ihn auf, leiser zu sprechen.
»Sie glauben noch an die Polizei? Wie können Sie übrigens wissen, ob ich nicht selber ein Spitzel bin?«
Und er betrachtete ihn in solcher Weise, daß Martinon, sehr erschrocken, zuerst gar nicht den Scherz verstand. Die Menge stieß sie vorwärts, und sie waren alle drei gezwungen, sich auf die kleine Treppe im Gang zu flüchten, die zu dem neuen Hörsaal führte.
Bald teilte sich die Menge, mehrere Köpfe entblößten sich; man begrüßte den berühmten Professor Samuel Rondelot, der, in einen weiten Mantel gehüllt, seine silberne Brille in die Höhe schob und keuchend in seinem Asthma mit ruhigen Schritten daherkam, um seine Vorlesung zu halten. Dieser Mann war einer der Sterne der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, ein Rivale von Zachariae und Ruhdorff. Die neue Würde eines Pair von Frankreich hatte nichts in seinem Wesen verändert. Man wußte, daß er arm war, und zollte ihm große Ehrfurcht.
Indessen riefen einige hinten vom Platz:
»Nieder mit Guizot!«
»Nieder mit Pritchard!«
»Nieder mit den Verkauften!«
»Nieder mit Louis-Philippe!«
Die Menge drängte sich gegen das geschlossene Tor des Hofes und verhinderte so den Professor am Weitergehen. Er blieb an der Treppe stehen. Bald wurde er auf der letzten der drei Stufen bemerkt. Er sprach; ein Murren übertönte seine Stimme. So sehr man ihn eben noch geliebt hatte, jetzt haßte man ihn, denn er repräsentierte die Obrigkeit. Bei jedem Versuch, sich Gehör zu verschaffen, begannen die Rufe von neuem. Mit einer großen Geberde forderte er die Studenten auf, ihm zu folgen. Allgemeines Geschrei antwortete ihm. Verächtlich zuckte er die Achseln und verschwand in den Gang. Martinon hatte die Gelegenheit benutzt, um gleichzeitig zu verschwinden.
»Dieser Feigling!« sagte Frédéric.
»Er ist vorsichtig!« erwiderte der andere.
Die Menge brach in Beifallsbezeugungen aus, denn dieser Rückzug des Professors war ein Sieg für sie. Aus allen Fenstern schauten Neugierige. Einige stimmten die Marseillaise an; andere machten den Vorschlag, zu Béranger zu gehen.
»Zu Laffite!«
»Zu Chateaubriand!«
»Zu Voltaire!« brüllte der junge Mann mit dem blonden Schnurrbart.
Die Polizisten versuchten einzugreifen, indem sie so sanft wie möglich sagten:
»Gehen Sie, meine Herren, gehen Sie auseinander, ziehen Sie sich zurück!«
Einer schrie: »Nieder mit den Totschlägern!«
Das war seit den September-Unruhen die gewöhnliche Drohung. Alle wiederholten sie. Man verspottete die Wächter der öffentlichen Ordnung und pfiff sie aus; sie entfärbten sich; einer von ihnen konnte nicht widerstehen, einen jungen Mann, der ihm zu nahe kam und ihm ins Gesicht lachte, so grob zurückzustoßen, daß er fünf Schritt weiter vor dem Laden des Weinhändlers auf den Rücken fiel. Alle stoben auseinander; aber fast unmittelbar darauf rollte er ebenfalls, von einem wahren Herkules zu Boden geschlagen, dessen Haarschopf wie ein Bündel Werg unter einer Wachstuchmütze hervorquoll.
Einige Minuten an der Ecke der Rue Saint-Jacques aufgehalten, hatte er sich einer Schachtel, die er trug, schnell entledigt, sich auf den Polizisten gestürzt, und ihn unter sich festhaltend, bearbeitete er sein Gesicht mit heftigen Faustschlägen. Die andern Polizisten eilten herbei, allein der schreckliche Bursche war so stark, daß mindestens vier nötig waren, ihn zu bändigen. Zwei schüttelten ihn am Kragen, zwei andere zogen ihn an den Armen, ein fünfter versetzte ihm Rippenstöße mit dem Knie, und alle nannten ihn Brigant, Mörder, Aufrührer. Mit nackter Brust, die Kleider in Fetzen, beteuerte er seine Unschuld; mit kaltem Blut könne er kein Kind schlagen sehen.
»Ich heiße Dussardier! Bei Gebr. Valinçart, Spitzen- und Modeneuheiten, Rue de Cléry. Wo ist mein Karton?« Er wiederholte: »Dussardier!… Rue de Cléry. Mein Karton!«
Aber er beruhigte sich und ließ sich mit stoischer Miene auf die Wache in der Rue Descartes führen. Eine Flut von Leuten folgte ihm. Frédéric und der junge Mann mit dem Schnurrbart gingen, voll Bewunderung für den Kommis und empört über die Gewalttätigkeit der Obrigkeit, dicht hinter ihm. Je weiter man vorwärts schritt, desto geringer wurde die Menge.
Die Polizisten drehten sich von Zeit zu Zeit wütend um; und da es für die Lärmer nichts mehr zu tun, für die Neugierigen nichts mehr zu sehen gab, entfernten sich nach und nach alle. Passanten, denen man begegnete, betrachteten Dussardier und machten laut boshafte, beleidigende Bemerkungen. Eine alte Frau rief sogar an ihrer Tür, daß er ein Brot gestohlen habe; diese Ungerechtigkeit steigerte die Erbitterung der beiden Freunde. Endlich langte man vor der Wache an. Es waren nur noch etwa zwanzig Personen da. Der Anblick der Soldaten genügte, sie zu zerstreuen.
Frédéric und sein Kamerad forderten kühn die Herausgabe des soeben Verhafteten. Die Schildwache drohte, sie selber einzustecken, wenn sie noch weiter davon redeten. Sie fragten nach dem Wachthauptmann, nannten ihre Namen, stellten sich vor als Studenten der Rechte und beteuerten, daß der Gefangene ihr Kollege sei.
Man ließ sie in einen völlig kahlen Raum eintreten, in dem sich vier Bänke längs der verräucherten, gemauerten Wände hinzogen. Im Hintergrunde öffnete sich ein Schiebefenster. Darauf erschien das robuste Gesicht Dussardiers, der mit seinem zerzausten Haarschopf, den kleinen, freimütigen Augen und der Stumpfnase dunkel an die Physiognomie eines treuen Hundes erinnerte.
»Du erkennst uns nicht?« sagte Hussonnet.
Das war der Name des jungen Mannes mit dem