Echte Kerzen wären schon schöner. Neue Weihnachtsgeschichten. Ingrid Kaltenegger
Echte Kerzen wären schon schöner
Neue Weihnachtsgeschichten
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: Apostrophe/shutterstock
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961925-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020650-8
PETRA HARTLIEB
Bergkristall oder: Weihnachten in einem fremden Land
Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht, und Schnee alle Fluren deckt, das Fest der Weihnacht.
Bergkristall, Adalbert Stifter
Unser Land feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Schöneres denken, als das Eid al Fitr, das Zuckerfest, an dem die Menschen nach dreißig Tagen Fasten ein ausgelassenes Fest feiern. Schon Tage vorher wird gebacken, gekocht und dekoriert, und die Geschenke für die Kinder werden vorbereitet. Die Familien kommen zusammen, und vorbei sind die Tage der Entbehrungen und des Verzichts.
Aber in unserem Land gibt es Krieg, Zerstörung und Verfolgung, und so haben sich über die Jahre viele Menschen aufgemacht, um anderswo ein besseres Leben zu führen.
Nun versuchen sie verstreut auf der ganzen Welt so gut es eben geht, ihre Heimat in der Fremde zu finden. Meist ist das nicht leicht, und doch gibt es Gegenden, in denen es nicht so schwierig ist, denn durch Geschichte, Schicksal oder Zufall sind Orte entstanden, an denen sich viele von ihnen niederließen.
Ein Dorf ist es nicht, es befindet sich mitten in einer großen Stadt, und doch vergehen oft Wochen, bis die Bewohner ihr Viertel einmal verlassen, denn alles, was man zum Leben braucht, gibt es hier.
Vor den Lokalen sitzen Männer mit langen Bärten und weiten Mänteln, die Wasserpfeifen rauchen. Frauen mit Kopftüchern gehen über den Markt, sie ziehen schwere Einkaufswägen und müde Kinder hinter sich her. Es riecht nach Schaffleisch und Pfefferminztee, und es gibt Schriftzeichen, die nicht so aussehen, wie man sie in diesem Land üblicherweise gebraucht.
Wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man, dass die Welt jenseits der großen Straße eine andere ist. Andere Leute, andere Geschäfte, ja, selbst die Häuser sehen anders aus, die Lichter in den Fenstern leuchten nicht so grell, die Autos, die neben den Gehsteigen parken, sind kleiner und moderner.
Kein Ortsschild, keine Grenze trennt das Viertel von den anderen, lediglich in jede Himmelsrichtung geht eine Straße, und gegen Westen und Osten liegen die Gleise der Straßenbahn im Asphalt.
In einem der zentralsten Häuser am Markt ist der Bäcker untergebracht, von weitem riecht man die frischen Fladenbrote, bestreut mit Sesamsamen; und die Süßigkeiten in den Schaufenstern lassen die vorbeigehenden Kinder an der Hand ihrer Mutter langsamer werden.
Mhamed stand seit drei Jahren nahezu jeden Tag in der Backstube, die Sommer wie Winter lediglich durch ein kleines Fenster zum Hinterhof gekühlt wurde. Den Teig konnte er inzwischen ohne Waage zusammenrühren, blind konnte er die Brote formen, und seine Nase sagte ihm, wann er die fertigen Laibe aus dem Ofen ziehen musste.
Vorne im Verkaufsraum stand er weniger gerne, er liebte die Ruhe hinten in der Backstube. Die Hitze, die der Ofen ausstrahlte, machte ihm nichts aus, hatte er doch das Gefühl, dass er, seit er in diesem Land war, immerzu fror. Was er aber gerne machte, war, die verschiedenen Brote so in den großen Schaufenstern zu platzieren, dass die Leute, die daran vorbeigingen, einen rechten Appetit bekamen.
In seinem früheren Leben war Mhamed ein Handelsvertreter gewesen, einer, der immer auf Reisen gewesen war und es geliebt hatte, fremde Städte zu sehen, in Hotelzimmern zu übernachten, neue Menschen kennen zu lernen. Doch eines Tages konnte man in seinem Land nirgendwo mehr hinreisen, und selbst wenn, hätte er keine Produkte mehr gehabt, die er hätte verkaufen können, und selbst wenn, hätte es keine Geschäfte mehr gegeben, die ihm diese Produkte abgekauft hätten.
Nun stand er also hier, in der Backstube eines fremden Landes, in das ihn das Schicksal geführt hatte, und knetete Brot, gab ein paar Löffel Salz dazu, streute Sesamsamen obendrauf, so als hätte er nie etwas anderes getan.
Faizah kannte er seit seiner Kindheit. Sie hatte im Nachbardorf gelebt, und ihre Väter waren über hundert Ecken miteinander verwandt gewesen, doch erst als sie sich als junge Erwachsene bei einem Opferfest gegenübergesessen hatten, waren ihm ihre grünen Augen aufgefallen. Das Tuch hatte sie nachlässig übers Haar gezogen, und immer wieder hatte er hinschauen müssen, ob da nicht irgendwo eine Strähne hervorblitzte. Die Verlobungszeit war kurz gewesen, denn der Krieg war schließlich auch in ihre Dörfer gekommen, und so hatten die Eltern gegen eine Hochzeit plötzlich nichts mehr einzuwenden gehabt, sie hatten wohl gedacht: Wer weiß, vielleicht können Mhamed und Faizah einander gegenseitig beschützen.
Wenn er die Augen schloss, dann sah er Faizahs strahlend grüne Augen, und er erinnerte sich, wie sie das erste Mal vor ihm ihr Tuch vom Kopf gezogen hatte in der Nacht ihrer Hochzeit, auf der sie gefeiert hatten, als gäbe es kein Morgen.
Ihre Augen waren immer noch grün, doch da war kein Strahlen mehr, und ihr Tuch trug sie hier, in der neuen Heimat, so eng gebunden, dass nicht ein einziges Haar daraus hervorlugte. Er vermisste die Nächte, in denen sie im kleinen Vorgarten ihres Hauses gesessen, den Sternenhimmel betrachtet und stundenlang über Gott und die Welt geredet hatten. Der kleine Bassam hatte drinnen in seiner Wiege geschlafen. Auch damals war nicht alles gut gewesen, aber der Krieg schien einen Bogen um ihren Landstrich zu machen.
Nun war ihre Sprache nur noch voll zärtlicher Worte, wenn sie mit den Kindern sprach, und gemeinsam gelacht hatten sie schon lange nicht mehr. Auch gab es keinen Vorgarten, in dem sie sitzen konnten. Ihre kleine Wohnung über der Bäckerei hatte nur zwei Zimmer, beide Fenster gingen in den engen Hof, die Sterne konnte man nicht sehen, dafür roch es Tag und Nacht nach frisch gebackenem Brot.
Gleich im ersten Jahr nach ihrer Hochzeit hatte Faizah einen Sohn geboren, dem sie den Namen Bassam, der Lächelnde, gegeben hatten. Die Namensgebung war geradezu prophetisch gewesen, denn ihr Erstgeborener war ein ruhiges, freundliches Kind. Als Faizah einige Jahre darauf wieder in freudiger Erwartung gewesen war, war es in ihrem Dorf für Männer zu gefährlich geworden und Mhamed hatte beschlossen, das Land zu verlassen. Faizah war zurückgeblieben, die Trennung hatte ihnen beiden Angst gemacht, aber mit einem Vierjährigen an der Hand und einem Ungeborenen im Bauch hätte man diese Reise nicht antreten können. Und nun, lange vier Jahre später, lebten sie als Familie in diesem fremden Land. Er hatte eine gute Arbeit, sie hatten ein Dach über dem Kopf und genug zum Leben. Bassam, das immer vergnügte Kind, war ernst und nachdenklich geworden, Sanna, die kleine Tochter, wich ihrem großen Bruder und der Mutter kaum von der Seite. Doch in Faizahs grüne Augen war das Strahlen nicht zurückgekehrt.
Die Eltern hatten keine Probleme damit, dass auch Bassam in der Schule ein Türchen des Adventskalenders öffnen durfte, kleine Weihnachtsgeschenke bastelte und der begeisterten Sanna Geschichten über das Jesuskind erzählte. Ihre Nachbarn in der alten Heimat waren Christen gewesen, sie hatten eine enge Freundschaft gepflegt und kurzerhand alle Feste gemeinsam gefeiert – die der Christen und die der Muslime. So waren auch sie in den Tagen vor Weihnachten in einer freudigen Stimmung, überlegten, was sie am Heiligen Abend kochen sollten, und Faizah hatte sogar ein paar kleine Geschenke besorgt, eine Puppe für Sanna und ein Puzzle für Bassam.
Am Tag vor dem Heiligen Abend, wie es hier