Polizeidienst en français. Elko Laubeck
die sie regelrecht jugendlich wirken ließ. Unweit des Polizeipräsidiums setzten sie sich an einen Tisch auf der Straßenterrasse einer kleinen Brasserie. Es herrschte trotz der Mittagshitze reges Treiben auf den Straßen.
„Ihr habt es ja richtig heiß hier“, redete Pocher über das Wetter. „Ich glaube, daran muss ich mich erst noch gewöhnen. In Köln hat es heute Morgen noch geregnet. Entschuldigen Sie, wenn ich das frage, aber damit hatte ich einfach nicht gerechnet: Ist die französische Kriminalpolizei immer so charmant?“
Madame Lapin lachte und bedankte sich für das Kompliment. „Nun, wir machen unseren Job, und wir versuchen, trotzdem fröhlich zu sein, uns unser Leben nicht vermiesen zu lassen, obwohl wir in vorderster Front an den dunklen Abgründen menschlichen Daseins arbeiten, in der Verbrechensbekämpfung eben. Man muss dem ganzen kriminellen Sumpf, mit dem wir es zu tun haben, etwas entgegensetzen. Ja, ich lebe gern. Und ich bin äußerst zufrieden mit meinem Leben.“
Die Bedienung brachte Kaffee und zwei Stücke Quiche Lorraine.
„Ich glaube, ich habe schon angefangen, mich hier sehr wohlzufühlen, nach nur einer halben Stunde Montpellier“, sagte Pocher.
Während sie aßen, erläuterte Madame Lapin die Erwartungen an die nächsten Tage. „Die Woche scheint ruhig zu werden. Renée Lebrun und ihr Kollege Pierre Moulin hatten zuletzt in Sète ermittelt. Das ist ihr Haupteinsatzgebiet. Einige Fälle sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber es liegen keine akuten Kapitalverbrechen vor. Ich denke, dass Sie mit ihnen gut klarkommen werden. Die sind sehr aufgeschlossen wie wir eigentlich alle hier. Moulin ist ein guter Kumpel und Lebrun ebenso. Unterstützen Sie sie bei der Suche nach den verschwundenen Kindern!“
„Die Quiche Lorraine ist ausgesprochen gut“, sagte Pocher beiläufig. Madame Lapin hatte eine gebräunte Haut, die leicht gewellten Haare umwehten ein Gesicht, das kleine Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln sympathisch wirken ließen. Sie hatte einen schlanken Hals und ein etwas spitzes Kinn, eine geradlinige Nase und dunkle Augen. Sie brauchte nichts zu verbergen.
„Sie sehen auch ausgesprochen gut aus“, sagte Marie-Louise Lapin. „Sie sind in den besten Jahren. Machen Sie was daraus! Ich hoffe, dass wir uns gut verstehen.“ Sie beugte sich etwas vor. Irgendwie erinnerte sie ihn an Barbara.
Sie plauderten noch eine Weile angeregt über Gott in Frankreich und die Welt und gingen dann ins Präsidium zurück. „Ich hoffe, wir sehen uns bald“, sagte Madame Lapin zum Abschied. „Leclaire bringt Sie noch zum Bahnhof. Nehmen Sie den nächsten Zug nach Agde. Die müssten jetzt eigentlich im Halbstundentakt fahren. Warten Sie noch einen Augenblick!“ Dann lehnte sie sich zurück in ihren Bürostuhl und rief den Fall mit dem mysteriösen Verschwinden der Kinder auf den Schirm ihres Rechners, inzwischen waren Bilder eingescannt. „Vielleicht wäre das Ihr Auftrag für den Anfang: Finden Sie Lucas Grospièrre, Hugo Martin und Raphaël Chapias!“
„Ich werde mir Mühe geben, Madame le Commissaire.“ Pocher lächelte seine neue Chefin etwas unsicher an. „Die verschwundenen Kinder?“
„Vom Erdboden verschluckt. Versetzen Sie sich in die Lage der Eltern, welche Not, welche Verzweiflung sie gerade erleiden und das Schlimmste befürchten. Je me réjouis de notre bonne coopération.“ Die charmante Kommissarin reichte ihm zum Abschied die Hand. „Übrigens ist Commandante Sabine Fréjus ebenfalls heute Morgen in Köln angekommen. Sie ist unsere Kollegin, die am Austauschprogramm teilnimmt, allerdings war sie hier in Montpellier im Einsatz und hatte nicht viel mit dem Team um Renée Lebrun zu tun.“
„Je m’attacherai“, sagte Pocher. „Au revoir!“
6.
Renée Lebrun und Pierre Moulin waren zu Fuß in die Altstadt gegangen. Es war zwar heiß, aber außerhalb des Polizeigebäudes, das sich ohne Klimaanlage regelrecht aufgeheizt hatte, war die Luft erträglicher, immerhin ging ein leichter Wind. Francine Chapias hatte in der Altstadt eine kleine, bescheidene Wohnung.
„Haben Sie Neuigkeiten, haben Sie etwas gehört, wo mein Sohn abgeblieben sein könnte?“ Mit diesen Worten öffnete die Sängerin erwartungsvoll die Wohnungstür.
„Non, pardonnez-moi“, sagte Renée Lebrun. „Nous pouvons entrer quand même?“
„Entrez s’il vous plaît!“
Renée und Pierre folgten der jungen Frau, die in ein schlichtes schwarzes Kleid gehüllt war, in die Wohnküche und setzten sich an den Tisch.
„Café?“, fragte die Frau.
Die beiden Polizeibeamten nickten zustimmend. „Café au lait pour moi“, ergänzte Renée Lebrun.
„Ich will nicht darum herumreden“, sagte die Beamtin, als Francine Chapias den Kaffee zubereitet hatte. „Wir wissen immer noch nicht, wo Ihr Sohn abgeblieben ist. Aber wir haben einen Verdacht. Oftmals sind es nahe Verwandte oder Bekannte, die das Vertrauen der Kinder ausnutzen, um sie für ihre, sagen wir: perversen Lüste zu gewinnen. Entschuldigen Sie bitte, es klingt vielleicht sehr hart für Sie, aber es könnte uns vielleicht weiterbringen: Gibt es im Umkreis Ihrer Familie jemanden, dem man zutrauen könnte, Ihren Sohn entführt zu haben?“
„Non“, sagte Madame Chapias. „Non! Ich habe keine Familie. Meine Eltern sind früh verstorben. Ich habe eine Schwester. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und lebt in den USA. Oh, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Sie meinen, dass so versaute Schweine dahinterstecken, die es mit kleinen Kindern treiben, ihre Hilflosigkeit ausnutzen. Sagen Sie, dass das nicht wahr ist!“
Pierre Moulin schaute sich in der Wohnküche um und bemerkte, dass einige Heiligenbildchen aufgehängt waren, Reproduktionen von biblischen Darstellungen berühmter Renaissance-Künstler, aber auch heidnische Szenen wie eine kleine Reproduktion der Geburt der Venus von Botticelli.
„Madame Chapias“, sagte Madame Lebrun. „Sie müssen uns schon helfen, wenn wir Ihren Sohn lebend wiederfinden sollen. Sie haben gesagt, dass Sie alleinerziehend seien, aber es muss doch einen Vater geben. Wer ist der Vater von Raphaël?“
Madame Chapias starrte die Beamtin entsetzt an. „Non“, sagte sie. „Non!“
„Sie können es ruhig sagen, im Vertrauen.“
„Non, j’ai juré par la Sainte Vierge Marie“, sagte Madame Chapias. „Niemals werde ich verraten, wer der Vater ist. Ich habe ein Gelübde darauf abgelegt. Aber Sie dürfen sich sicher sein, dass er für so etwas nicht infrage kommt.“
„Warum sind Sie sich so sicher?“ Renée Lebrun bemerkte, wie sich die Frau unwillkürlich das schwarze Kleid glatt strich und dabei über ihren Bauch fuhr. Sie schritt zum Fenster und blickte auf die Straße hinaus.
„Nein, der Vater des Kindes kann nicht sein Entführer sein“, sagte die Mutter. „Finden Sie Raphaël!“ Tränen standen ihr in den Augen.
Madame Lebrun erhob sich, schritt zu der Frau und schloss sie in ihre Arme. „Wir werden Raphaël finden“, versicherte sie. „Je jure par la Sainte Vierge Marie.“
Renée und Pierre kehrten zur Polizeistation zurück.
„Irgendwie ist es doch merkwürdig, mit welcher Beharrlichkeit sie sich weigert, die Identität des Kindsvaters preiszugeben“, sagte Renée. „Was meinst du?“
„Nun, sie wird ihre Gründe dafür haben. Vielleicht will sie die Erinnerung an den Vater aus ihrem Leben verdrängen“, sagte Pierre. „Meinst du nicht, dass sie ein wenig wie eine Nonne wirkt, auch mit ihrem schlichten schwarzen Kleid?“
„Das wird es sein“, sagte Renée. „Vielleich meint sie das damit, wenn sie sagt, dass sie ein Gelübde abgelegt hat. Vielleicht hatte sie sich ganz der Enthaltsamkeit verschrieben wie eine Nonne und schämt sich nun darüber, dass sie schwach geworden war und sich der fleischlichen Liebeslust hingegeben hatte, dass sie ein Kind bekommen hatte. Wer weiß, vielleicht ist sie ja sogar erneut schwach geworden.“
„Das verstehe ich jetzt nicht.“ Pierre blickte sie an, während sie nebeneinander durch die Stadt schritten.