Dark Shadows – Die Schatten der Vergangenheit. Carl-Ludwig Reuss
„Kriegsverbrecher Veterinärrat Dr. Lutz Reuss verhaftet“, diese Schlagzeile aus der lokalen Presse verfolgt mich, seit ich 15 Jahre alt bin. Diese Schlagzeile hat mein Leben beeinflusst. Eben noch der nette Junge von nebenan, bin ich plötzlich der Lümmel von Nazi und Kriegsverbrecher Dr. Lutz Reuss. Wenn ich jugendlichen Quatsch mache, der für andere normal wäre und jemanden damit verärgere, heißt es nun „Was soll man auch vom Sohn eines Kriegsverbrechers erwarten.“
Auch am Gymnasium wird mir vermittelt, dass ich da nicht hingehöre. Eine Realschule sei für mich völlig ausreichend. Was ich damals nicht begreife, ist die spontane Sippenhaft von allen, die schon immer dagegen waren oder jenen, die sich als Opfer des Nationalsozialismus fühlen. Besonders sensibel reagieren die Sozialdemokraten, die im Dritten Reich bekanntermaßen bekämpft wurden und nun die Oberhand haben.
Was ich hier schreibe, ist nicht nur die Geschichte meines Vaters. Es ist auch meine Geschichte. Sein Leben, sein Verhalten, seine Taten wirken direkt auf mein eigenes Leben.
Dr. Lutz Reuss
Der Tierarzt Dr. Lutz Reuss wird am 24.November 1908 in Dessau geboren. Er wächst in einer gutbürgerlichen Familie auf. Sein Großvater ist der Landesforstmeister von ganz Anhalt, mit Dienstsitz in Dessau. Sein Vater ist Forstgeometer in den anhaltinischen Forsten. Die Eltern und Großeltern wohnen im selben großen Haus – die Großeltern im ersten Stock, in der „Beletage“ und die Eltern im Parterre. Die Mutter von Lutz ist bestimmend und herrisch, der Sohn fühlt sich ständig gemaßregelt und in seiner Person nicht hinreichend anerkannt. Der Vater aber ist ein herzenswarmer Mensch, er kann sich jedoch nicht gegen die dominante Mutter durchsetzen. Lutz fühlt sich zerrissen zwischen seiner kindlichen Liebe zum Vater und der Liebe zur Mutter, die ihm die Nestwärme nicht bietet, nach der er sich sehnt. Dieser Mutter-Sohn-Vater-Konflikt zieht sich durch Lutz’ gesamtes Leben. Er beherrscht seine Psyche, sein Denken und sein Handeln.
Als Lutz in München mit dem Studium der Tiermedizin beginnt, wird er, wie auch viele seiner Vorfahren, Mitglied in einer studentischen Verbindung. Sehr früh begeistert er sich für den Nationalsozialismus und wird bereits 1934 Mitglied der „allgemeinen SS“. Als Soldat ist er später beim 125. Infanterie-Regiment der Wehrmacht an der Ostfront mit einer Veterinäreinheit unterwegs. Diese Einheit ist dafür verantwortlich, die Pferde zu pflegen, die die Flak in die vorderste Stellung bringen. Lutz Reuss wird durch einen Granatsplitter am Bein verwundet, in den letzten Kriegstagen kommt er noch für die Waffen-SS in Süddeutschland zum Einsatz. Das wird ihm zum Verhängnis. Er gibt den Befehl, einen Spion erschießen zu lassen und gerät kurz danach in amerikanische Gefangenschaft.
Ende April 1945 wird Lutz in Garmisch im Internierungslager festgesetzt. Hier trifft er mit vielen bekannten Persönlichkeiten der NS-Zeit zusammen. Von nun an aber sind sie nur noch Personen. Personen ohne Dienstgrad, die alle auf die gleiche Weise hungern und frieren. Dennoch entsteht im Lager ein reges geistiges Leben. Die Begegnungen und intellektuellen Gespräche beeinflussen sein Denken und verändern seine bisherige Betrachtungsweise. Er beginnt, die politische und seine persönliche Vergangenheit zu reflektieren. Er fragt sich, welche Schuld er trägt. Er denkt schließlich, dass er nur einer Mehrheit gefolgt sei. Er ist sich einer persönlichen Schuld nicht bewusst. Er wollte doch nur Karriere machen, sagt er sich, in einem System, an das er anfangs geglaubt und an das er viele Hoffnungen geknüpft hatte. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst lässt ihn schlussendlich den Versuch wagen, sein spezielles Verhältnis zu Mutter und Vater zu ergründen.
Im Internierungslager 1945/1946 ist Lutz täglich im engen Kontakt mit dem später sehr erfolgreichen Schriftsteller Hans Hellmut Kirst. Der spätere Politiker Franz Josef Strauß und Hans Hellmut Kirst waren beide an der Flak-Artillerie-Schule IV als nationalsozialistische Führungsoffiziere tätig. In dieser Zeit entstand zwischen den beiden ganz offensichtlich ein Konflikt.
Franz Josef Strauß verrät und verleumdet Hans Hellmut Kirst bei den Amerikanern und verschafft sich selbst dadurch einen sogenannten „Persilschein“. Als Landrat und Vorsitzender der Entnazifizierungskommission erwirkt Strauß nach Kirsts Entlassung aus dem Lager 1946 ein zweijähriges Schreibverbot für den Schriftsteller. Die Frage nach dem Warum bleibt offen. Weiß Kirst Geheimes über Strauß oder ist es eine Anweisung der Amerikaner, die fürchten, er könne die Missstände im Internierungslager an die Presse bringen? Über den glorreichen Sieger schlecht zu sprechen oder zu schreiben, ist damals nicht erwünscht. Der Heiligenschein der Sieger soll unbeschädigt bleiben.
Im Gegensatz zum Opportunisten Strauß, stellt sich Kirst seiner Vergangenheit und arbeitet sie in vielen Romanen auf. Kirst ist für meinen Vater eine geistige Inspiration und wichtiger Gesprächspartner. Beide hinterfragen ihre Vergangenheit und ihre Verantwortung. Wie können sie mit dieser Schuld umgehen? Gibt es Sühne und Vergebung für das, was in der NS-Zeit geschah und an dem sie sich beteiligt haben?
Im Januar 1962, 17 Jahre nach Kriegsende, wird Lutz plötzlich als Kriegsverbrecher verhaftet. In Ravensburg sitzt er bis Ende Juli 1962 in Untersuchungshaft. Mit 54 Jahren steht er also erneut vor einem Scherbenhaufen. In dieser Zeit schreibt er vieles aus seinem Leben auf. Durch die einfühlsamen Briefe seiner Frau beginnt er, sich mit dem Neuen Testament und ganz besonders mit den Schriften von Dietrich Bonhoeffer zu beschäftigen. Er findet zu seinem Glauben an Gott zurück. Sein Leitsatz wird ein Vers von Bonhoeffer:
„In Dankbarkeit gewinne ich das rechte Verhältnis zu meiner Vergangenheit.
In ihr wird das Vergangene fruchtbar für die Gegenwart.“
Die Vorgeschichte
Frühlingsanfang, Dienstag, der 21. März 1978
Es ist früh um 6 Uhr, das Telefon klingelt. Der schrille Ton reißt mich aus den Träumen, die im Halbschlaf mitunter sehr spannend sein können. Ich bin kein geborener Frühaufsteher und als Student sowieso nicht. Noch etwas benommen höre ich die Stimme meines Vaters: „Du musst sofort kommen, mein Leben geht zu Ende und ich will dir noch einige Unterlagen geben.“ Koffer gepackt, Auto betankt und los geht’s – mit unguten Gefühlen und Gedanken im Kopf. Vor einem halben Jahr hatte er einmal so merkwürdige Andeutungen gemacht, dass er nicht mehr lange leben würde. Das hielt ich damals für eine Spinnerei, eine depressive Stimmung.
Gegen 13 Uhr bin ich dort. Nach kurzer Begrüßung meiner Mutter gehe ich zu ihm. In seinem etwas düsteren Herrenzimmer sitzt er am Schreibtisch, umringt von all seinen Jagdtrophäen und raucht Pfeife. Das ganze Zimmer ist erfüllt von würzigem Tabakduft. Vor ihm liegt ein Stapel Akten. Endzeitstimmung liegt schwer im Raum. Aufrecht sitzend, mit klarer Stimme, die keine Frage zulässt, erklärt er mir seinen Nachlass. Er schenkt mir seine goldenen Manschettenknöpfe mit den Grandeln des stärksten Hirsches, den er in seinem Leben erlegt hat. Den goldenen Ring mit einem blauen Saphir nimmt er von seinem Ringfinger. Dieser Ring war ein Heiligtum für ihn, er trug ihn immer voller Stolz und nur zu besonderen Gelegenheiten. Nach dem Tod seiner Großmutter Anna hatte sein Großvater Carl erneut geheiratet. Seine zweite Frau stammte aus einer adeligen Familie aus dem Baltikum. Sie hatte meinem Vater dieses Familienerbstück ihres Vaters vermacht.
Als große Überraschung übergibt er mir noch ein kleines Schmuckkästchen. Darin befinden sich ebenfalls goldene Manschettenknöpfe mit den Grandeln meines ersten Hirsches, seinem Abschieds-Hirsch, wie ich jetzt verstehe. Vor einem halben Jahr hatte er mich zur Hirschjagd in den Schwarzwald eingeladen, wo sein Cousin Forstamtsleiter war. Er sagte damals: „Bevor mein Leben zu Ende geht, will ich dir den Abschuss eines Hirsches schenken.“ Nun erkenne ich die Wahrheit seiner Ankündigung. Mein Vater hatte im vorherigen Jahr mehrere kleine Gehirnschläge gehabt und es war ihm klar gewesen, dass diese sich steigern würden.
Nach circa einer Stunde steht er auf und sagt mit leiser Stimme: „So, mein lieber Sohn, das ist genug, mehr kann ich dir nicht sagen, bring mich ins Krankenhaus. Deine Mutter soll vorerst zuhause bleiben. Ich will, dass Du mich alleine begleitest.“ Drei Tage später, am Donnerstag, dem 23. März 1978, stirbt mein Vater.
Warum schreibe ich das alles?
Als im Februar 2020 die Corona-Pandemie ausbricht, weltweit die Wirtschaft zusammenbricht, Ausgangsbeschränkungen unsere Beweglichkeit