Der verbotene Park. Hubertus von Wick
Tobias, ich packe deine Kleiderkisten aus und du fährst ein bisschen durchs Dorf und erkundest unsere neue Umgebung.“
Tobias hatte eigentlich keine große Lust, dieses langweilige kleine Dorf zu erkunden. Andererseits wollte er seiner Mutter auf keinen Fall etwas vorheulen. Außerdem war er fest davon überzeugt, dass er ohnehin nicht länger als fünf Minuten brauchte, um einmal das Dorf zu umrunden.
Also nahm er das Angebot an. Er zog seine Jacke über, verließ die neue Wohnung, die im ersten Stock lag, stieg lustlos die 24 Stufen des Treppenhauses hinunter und trat ins Freie. Draußen blendete ihn die Nachmittagssonne. Zu dieser Jahreszeit, Anfang Oktober, stand die Sonne schon recht tief um diese Zeit, und in einer Stunde würde sie kaum noch zu sehen sein. Er entfernte das Fahrradschloss von seinem Drahtesel und radelte los.
Die Straße war neu, teilweise noch gar nicht fertig. Vor seinem Haus fehlte zum Beispiel der Bitumenbelag. Sie sollte sich mal als Ring durch das ganze Neubaugebiet schlängeln. Deshalb hatte man sie Hasenring genannt.
„Total bekloppt“, dachte Tobias. „Klingt ja wie Nasenring!“
Neben dreigeschossigen Mietshäusern gab es viele sehr unterschiedliche Einfamilienhäuser, in deren Gärten noch riesige Erd- und Sandhaufen lagen. Im vorderen Bereich der Straße, am Übergang zum alten Dorf, waren die Gärten schon angelegt. Die Bäume und Büsche waren allerdings gerade erst gepflanzt worden und sahen noch etwas mickrig aus.
Tobias registrierte einige Leute, die sich eifrig bemühten, aus ihren Bauschutt- und Sandwüsten ansprechende Gärten zu gestalten, er sah aber nur wenige Kinder. Sie waren jünger als er und wühlten mit kleinen Schaufeln und Eimerchen in den großen Dreckhaufen herum. Er umkurvte eine Baustellenabsperrung und sah zwei Jugendliche auf sich zukommen, ein Mädchen und einen Jungen. Tobias schätzte sie auf etwa 16 Jahre. Sie hatten sich untergehakt und blödelten herum. Für wenige Sekunden war Tobias durch die beiden so abgelenkt, dass er einen Haufen mit Baumaterialien übersah, der vor ihm durch Flatterband ordnungsgemäß abgesichert auf der Straße lag. Er durchbrach das Band, knallte in einen Palettenstapel hinein und flog mit dem Kopf voran über seinen Lenker. Sein Rad überschlug sich und blieb neben ihm liegen.
Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Er musste sich erst einmal sortieren. Seine rechte Schulter brannte und seine Hose hatte über dem linken Knie ein Loch.
„Mist“, dachte er. „Für die Hose hat Mama so viel Geld ausgegeben!“
Die beiden Jugendlichen kamen angelaufen.
„Bist ja ein echt geiler Radfahrer“, sagte der Junge, „aber am Salto solltest du noch ein bisschen arbeiten.“
„Sei nicht so fies“, schimpfte das Mädchen. „Siehst du nicht, dass er blutet?“
„War ja nicht so gemeint, komm, ich helfe dir mal hoch.“
Damit griff er Tobias unter die Achseln und stellte ihn auf die Beine.
In Höhe der Unfallstelle öffnete sich die Haustür eines Einfamilienhauses. Eine Frau kam heraus.
„Bist du verletzt?“, fragte sie besorgt. „Ich habe aus dem Küchenfenster gesehen, wie du über den Lenker geflogen bist.“
„Wie du siehst, steht er schon wieder“, sagte das Mädchen. „Aber er blutet am Knie.“
Für einen Augenblick war Tobias überrascht, dass die beiden sich zu kennen schienen. Aber als die Frau sagte: „Komm, Corinna, wir bringen ihn ins Haus“, merkte er, dass sie Mutter und Tochter waren.
Tobias war es ein bisschen unangenehm, von den drei Fremden so umsorgt zu werden und wollte den Rückzug antreten.
„Vielen Dank, aber ich glaube, das ist nicht nötig. Ich wohne gleich oben am Hasenring und kann schnell nach Hause fahren.“
Corinnas Mutter schaute zweifelnd zu Tobias´ Fahrrad, das mit einer leichten Acht im Vorderrad und einem verbogenen Lenker zwischen den Paletten lag.
„Vielleicht kann sich Matthias ja mal um dein Fahrrad kümmern“, sagte sie mit Blick auf Corinnas Freund. „In der Zwischenzeit schaue ich mir mal deine Verletzungen an.“
Sie schob Tobias vor sich her ins Haus. >STEINER< stand auf dem Klingelschild. Tobias bemerkte, dass auch diese Familie erst vor Kurzem eingezogen sein konnte.
Die Garderobe war wie der Spiegel noch nicht an die Wand gedübelt, sondern stand an ein Schränkchen gelehnt auf dem Boden. Corinnas Mutter lotste ihn in die Küche und deutete auf einen Stuhl. Tobias setzte sich, zog vorsichtig den Stoff seiner zerrissenen Hose vom Knie zurück und legte seine Wunde frei. Die Blutung stand inzwischen, die Wunde sah aber insgesamt sehr verschmutzt aus.
„Ich mach’s drumherum ein bisschen sauber und desinfiziere die Wunde. Keine Angst, das Zeug brennt nicht“, fügte sie schnell hinzu, als sie merkte, dass Tobias unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen begann.
Sie hatte sich gerade vorsichtig an die Arbeit gemacht, als ein blonder Schopf in der Küchentür erschien.
„Was ist denn hier los?“, fragte der Junge.
Er war einen Tick größer, aber wesentlich schmaler als Tobias, der ihn als gleich alt einschätzte.
„Du kommst gerade richtig, Philipp“, sagte seine Mutter. „Der junge Mann hier ist vor unserem Haus gestürzt. Du könntest mal ein Pflaster abschneiden.“
Dann schaute sie Tobias an und fragte: „Wie heißt du eigentlich?“
„Tobias Grüttner.“
Frau Steiner lächelte ihn freundlich an.
Die Blicke der Jungen streiften sich. Keiner der beiden verzog eine Miene. Philipp schnitt ein Pflaster zurecht und gab es seiner Mutter. Die besprühte gerade Tobias’ Knie mit einem Wunddesinfektionsspray, und Tobias registrierte dankbar, dass es tatsächlich nicht brannte.
„Wann seid Ihr eingezogen?“, fragte sie und klebte das Pflaster behutsam über die Wunde.
„Heute Vormittag.“
„Oh, dann war das sicher dein erster Ausflug hier im Dorf?“
Tobias nickte. „Und mein erster Unfall.“
Frau Steiner lachte. „Hoffentlich bleibt es bei dem einen. So viele Fahrräder zum Wechseln wirst du wohl nicht haben.“
„So viele Hosen auch nicht“, erwiderte Tobias und grinste.
Er erhob sich und schaute aus dem Küchenfenster auf die Straße. Sein Fahrrad stand jetzt vor dem Haus. Der Lenker war gerichtet, aber ob das Vorderrad in Ordnung war, konnte er von hier aus nicht sehen.
„Dann werde ich mal nach Hause fahren“, sagte er und fühlte vorsichtig nach seiner Schulter. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„Magst du Tobias ein Stück begleiten?“, fragte Frau Steiner an Philipp gewandt. „Du warst heute auch noch nicht draußen und jetzt scheint noch so schön die Sonne.“
„Wenn’s sein muss“, sagte der, eher gelangweilt.
Die Jungen verließen das Haus, und während Philipp sein Rad aus dem kleinen angebauten Schuppen holte, begutachtete Tobias sein Fahrrad. Lenker und Schutzbleche saßen wieder richtig, aber das Vorderrad wies nach wie vor eine kleine Acht auf.
„Gibt es hier irgendwo ein Fahrradgeschäft?“, fragte Tobias, als Philipp mit seinem Rad um die Hausecke kam.
„In Sanddorf“, nickte Philipp. „Das ist die nächste Kreisstadt.“
„Ich weiß“, sagte Tobias und schob sein Rad zur Straße zurück. „Nach Sanddorf muss ich ab morgen zur Schule.“
„Alle, die hier wohnen, müssen nach Sanddorf zur Schule“, sagte Philipp. „Ich auch.“
Er schwang sich auf sein Rad.
„Ich glaube, ich muss schieben“, meinte Tobias. „Das Vorderrad eiert zu stark.“
Philipp