Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa
für noch etwas mehr. Sie ist so etwas wie der Leuchtstoff, der seit hundert Jahren den professionellen Radsport im öffentlichen Bewusstsein mit einem irisierenden Prestigeereignis verbindet. Ein Effekt, der weit über das hinausgeht, was sich die Organisatoren der Tour ausgemalt hatten, als sie auf die Idee kamen, dem Spitzenreiter des Rennens Trikot zu verpassen, dass sich farblich deutlich von den anderen absetzt.
Kaum jemand in der Geschichte der Frankreich-Rundfahrt hat diesen Werbeeffekt stärker für sich genutzt als Lance Armstrong. Der sah in diesem Hemd mehr als eine bloße Textilie. Für ihn war es das signalstarke Belegstück für seine Fähigkeit, den Radsport zu dominieren.
Wer heute in den gängigen Statistiken über die Tour nachblättert, wird feststellen, dass der Name Lance Armstrong in ihnen gar nicht auftaucht. Auch nicht in der Rangliste mit den Namen der Träger des Gelben Trikots. Dabei fand sich der, bis seine Resultate getilgt wurden, auf dem zweiten Platz der ewigen Tabelle, gleich hinter dem Belgier Eddy Merckx, dem fünffachen Tour-Sieger, der bei insgesamt 96 Etappen als Spitzenreiter ins Rennen ging. Der Texaner war insgesamt 83 Tage in Gelb unterwegs gewesen. Was besser ist als die Bilanz des Franzosen Bernard Hinault (75) und des Spaniers Miguel Indurain (60). Die Liste umfasst insgesamt die Namen von knapp 300 Radprofis und kommt nicht völlig ohne Ironie daher. Ganz hinten – mit einem einzigen Renntag als Spitzenreiter: der Belgier Johan Bruyneel, der ominöse Sportdirektor in Armstrongs Karriereabschnitt nach der Rückkehr von der Krebserkrankung und einer der Mitverantwortlichen für die Doping-Karriere des Texaners.
Wer sich mit der Geschichte des Gelben Trikots beschäftigt, kommt aber ohnehin an verqueren Sachverhalten nicht vorbei. Genauso wenig wie an der Anekdote über die Versteigerung eines signierten Armstrong-Trikots im Auktionshaus Sotheby’s in London im Sommer 2004. Das erzielte, obwohl er damals noch als unbescholtener Radfahrer zu gelten hatte, mal gerade die bescheidene Summe von 150 britischen Pfund.
Authentische Trikots von Tour-Siegern wie dem Franzosen Louison Bobet oder dem Belgier Eddy Merckx kommen auf dem Sammlermarkt hingegen auf Preise von mehr als 5.000 Euro. Das älteste erhaltene maillot jaune ist das, das der Luxemburger Nicolas Frantz (37 Tage in Gelb, Tour-Gewinner 1927 und 1928) in den Zwanziger-Jahren trug. Dessen Wert dürfte denn auch ein Vielfaches der genannten Summe betragen.
Um einige der Trikots von einst ranken sich faszinierende Episoden, angefangen mit der Geschichte, wie dieses Kleidungsstück 1919 zum ersten Mal bei der Tour eingesetzt wurde und anfänglich wie alle Trikots auch aus Wolle bestand. Bereits vor sechs Jahrzehnten begann damit, es nur noch aus Kunstfasern herzustellen. Die „Kombination aus hochtechnischem Material sowie der anatomische Schnitt gewährleisten eine ausgezeichnete Belüftung und eine gute Körperanhaftung des Trikots während der gesamten Renndauer“, sagen die Veranstalter, die gerne den Sitz und die Passform anpreisen: „Die Ärmel aus einem weichen und nahtlosen Elasthangemisch tragen ebenfalls zum Komfort der Radrennfahrer bei.“
Es handelt sich schließlich nicht um irgendein Leibchen, sondern um eine der bedeutendsten Trophäen aus der Welt des Sports. Allenfalls vergleichbar mit dem Green Jacket, das der Sieger des berühmten Masters-Golfturniers in Augusta erhält. Aber anders als bei diesem Sakko kopierten irgendwann zahllose andere Sportarten die Idee – sei es im Segeln oder in den nordischen Skiwettbewerben, ob bei den Profis oder Amateuren.
Die neuen Fasern aus Chemie waren übrigens dafür mitverantwortlich, dass die Gelben Trikots mit vielen bunten Werbeaufschriften versehen werden konnten. Die Synthetik gestattet anders als Wolle, den Stoff im großen Stil und mit allen möglichen Farben zu bedrucken und zu beflocken. Als Christopher Froome 2013 als Spitzenreiter des Jubiläums-Rennens wie geplant zum Sonnenuntergang auf den Champs-Élysées ankam, ging man noch einen Schritt weiter und verpasste ihm eine mit durchscheinenden Pailletten besetzte Variante, die im Licht der Straßenlaternen von Paris für einen besonderen Glanz sorgen sollte.
Wie alles anfing, ist eine oft erzählte Geschichte, die kurioserweise jahrelang auf widersprüchlichen Quellen basierte. Soviel war immerhin schon immer klar: Bei der ersten Frankreich-Rundfahrt im Jahr 1903 gab es das Trikot noch nicht. Der Organisator Henri Desgrange, ein ambitionierter Radfahrer, Chefredakteur des Magazins L’Auto und Mitbesitzer des Velodroms am Prinzenpark, war schon froh, dass seine Idee von einem Langstecken-Radrennen die ersten Jahre heil überstand. Nur fünfzehn Fahrer nahmen an der Premiere teil. Ein Feld, das ziemlich übersichtlich war.
Unterscheidungsmerkmale wurden erst wichtig, als Desgrange mit Hilfe eines attraktiven Prämiensystems eine wachsende Zahl von Velo-Abenteurern anlocken konnte. Und so entstand die Idee, den Spitzenreiter optisch deutlich aus dem Feld der Fahrer herauszuheben. Inspiriert hatte ihn die gelbe Papierfarbe seiner Zeitung. Der Tour-Sieger von 1913, der Belgier Philippe Thys, erzählte Jahre später, dass er der erste gewesen sei, der dieses neue Trikot tragen durfte. Falsch, sagt Serge Laget, einer der profiliertesten Kenner der Geschichte der Rundfahrt und Autor des 2018 in Frankreich erschienenen Buchs 100 ans de maillot jaune 1919-2019. Thys muss in seinen Erinnerungen etwas verwechselt haben. „Tatsächlich trug der belgische Meister das gelbe und blaue Peugeot-Trikot.“
Legat ist sicher: Der allererste war der sehr viel weniger bekannte Franzose Eugène Christophe, dem man wegen seiner 34 Jahre den Spitznamen „alter Gallier“ angehängt hatte. Er erhielt das Hemd am 19. Juli, kurz vor Beginn der elften Etappe. „Sie tragen erstmals das gelbe Trikot“, sagte man ihm. „Hoffentlich werden Sie es bis zum Ende tragen“.
Wir wissen, wie die Sache ausging: Christophe verlor nach der vorletzten Etappe in Dünkirchen die Führung an den späteren Sieger, der Belgier Firmin Lambot, abgeben. Dass ihm Christophe auch noch sein eigenes Trikot schenkt, war für Serge Laget eine bemerkenswerte „Geste außergewöhnlicher Ritterlichkeit“. Ein Moment, der das im Grunde sehr schlichte Hemd schon früh mit einer gewissen Emotionalität hätte aufladen können.
Aber dafür brauchte es Zeit. Bei seinem ersten Einsatz galt das Trikot nämlich noch als schlichte Petitesse. L’Auto erwähnte es nur dreimal, wie Claude Droussent für sein Buch Das gelbe Trikot nachzählte.
Lambot gehört übrigens zu einer kuriosen Liste von Fahrern, die es schafften, die Gesamtwertung für sich zu entscheiden, ohne auch nur eine Etappe zu gewinnen. Er war der erste und brachte dieses Kunststück 1922 fertig. Etwas, was danach insgesamt sechs weitere Radprofis wiederholten. Zuletzt Christopher Froome 2017, der in jenem Sommer deshalb nur einmal zum Fototermin in Gelb antrat: bei der Siegerehrung in Paris.
Im Kontrast dazu gab es mehrere Fahrer, denen das maillot jaune zwar zugestanden hätte, die aber ablehnten, es zu tragen. Die Gründe waren unterschiedlich, aber eingefärbt von einem leichten Pathos. Der Schweizer Ferdi Kübler in den fünfziger-Jahren zum Beispiel wollte lieber in den Landesfarben seiner Heimat in die Pedale treten – dem weißen Kreuz auf rotem Grund. Eddy Merckx verzichtete 1971 darauf, in Gelb zu fahren, nachdem der bis dahin führende Luis Ocaña aus Spanien auf der 14. Etappe gestürzt, vom hinterherfahrenden Holländer Joop Zoetemelk angefahren worden war und mit einer Schulterverletzung aufgeben musste.
Zwischendurch musste eine Lösung für ein weiteres Problem gefunden werden: Was macht man, wenn zwei Fahrer mit exakt derselben Zeit an der Spitze liegen? Das passierte 1929 zum ersten Mal und dann erneut 1931. Damals entschied man sich für eine faire Lösung: Alle Spitzenreiter, egal wie viele, fahren in Gelb. Je genauer die Uhren maßen, desto pingeliger wurden die Veranstalter. Heute geht das Trikot in einer solchen Situation an den Fahrer, der bis zu diesem Zeitpunkt im Rennen die besseren Etappenplatzierungen errungen hat.
Zwei deutsche Fahrer haben sich übrigens in Frankreich aufgrund ihrer Leistungen bei Liebhabern der Tour de France ebenfalls einen Namen gemacht. Das sind Rudi Altig, der als Rheingold bezeichnet wurde und 1962, 1964, 1966 und 1969 insgesamt siebzehnmal in Gelb unterwegs war. Und Dietrich Thurau, genannt Didi. „Rudi“, sagt Serge Legat, demonstrierte „Schauspiel, Freude, Mut und Anstrengung“. Didi brachte „Jugend und Frische“ mit.
Hingegen ruft die Armstrong-Episode im Historiker der Tour de France noch immer ein Gefühl „großer Traurigkeit“. wach. Der Amerikaner habe „die Organisatoren, den Weltverband und alle Liebhaber der Tour und das Gelbe Trikot“ verspottet und die Hemden