C'est la vie. Rebekka Haefeli

C'est la vie - Rebekka Haefeli


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den meisten anderen Patientinnen und Patienten hat sich seit Dienstag nicht viel verändert. Die neunzigjährige Frau Wunderlin mit dem metastasierenden Eileiterkarzinom hat akzeptiert, dass sie vermutlich auch mit umfassender Spitex-Betreuung nicht mehr in ihre Wohnung wird zurückkehren können. Sie findet sich mit dem Gedanken ab, in ein Pflegeheim umzuziehen. Roland Kunz hört während der Visite nochmals die Darmgeräusche bei der alten Frau ab; offensichtlich handelt es sich nicht um einen kompletten Darmverschluss. In Frau Wunderlins Zimmer riecht es unangenehm, da die Pflegefachfrau kurz vorher das Stoma gereinigt hat. Kunz bespricht das weitere Vorgehen mit der Patientin. Nachdem ihre Bauchschmerzen mit Medikamenten gelindert werden konnten, müssen nun die Formalitäten für den Übertritt ins Pflegeheim erledigt werden.

      Ihre Zimmernachbarin, Frau Rutschmann, weigert sich noch immer, zu essen, trinkt aber weiterhin. Bei der Visite klagt sie erneut über starke Schmerzen und äussert wieder ihren Wunsch, zu sterben. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Frau Rutschmann zwar wie von ihr erwähnt Exit-Mitglied ist, sie selbst aber noch keinerlei Anstrengung unternommen hat, um mit Unterstützung der Sterbehilfeorganisation zu sterben. Sie besitzt eine Patientenverfügung von Exit, hat aber bisher keine konkrete Anfrage für einen assistierten Suizid und eine entsprechende Beratung gestellt. Offensichtlich versucht sie, die Verantwortung an den Arzt und die Pflegenden abzuschieben, indem sie wieder und wieder nach einer «erlösenden Spritze» fragt. Roland Kunz sagt erneut zu ihr: «Wir können Ihnen ausreichend Schmerzmittel geben, damit Sie keine Schmerzen verspüren, aber wir können Ihnen keine Spritze verabreichen, um Sie zu erlösen.»

      Der Arzt weist die Patientin ganz sachlich darauf hin, dass sie zwar langsam schwächer werde, wenn sie nichts esse, dass das Trinken aber entscheidender sei, wenn es ums Sterben gehe. «Wenn Sie möchten, dass es schneller geht, dann müssten Sie aufs Trinken verzichten.» Frau Rutschmann antwortet mit leiser Stimme: «Das ist schwierig», und der Arzt sagt: «Genau. Dann hat man einen trockenen Mund, und das ist unangenehm.» Das sogenannte Sterbefasten – der bewusste Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – erfordert viel Selbstdisziplin. Tatsächlich lässt sich aber dadurch der Sterbeprozess einleiten oder beschleunigen.

      Kunz verspricht der Patientin, nicht mit Medikamenten wie Antibiotika einzugreifen, sollte bei ihr nun eine körperliche Komplikation wie eine Entzündung auftreten. «Aber Sie lassen mich nicht leiden?», fragt Frau Rutschmann, worauf er versichert: «Nein, das verspreche ich Ihnen.» Kunz einigt sich mit der Patientin darauf, den Austritt in ein Pflegezentrum vorzubereiten, wo sie länger wird bleiben können als im Akutspital.

      Die an Lungenkrebs erkrankte und an akuten Atemnotattacken leidende Frau Graber ist noch nicht wie geplant aus dem Spital ausgetreten. Es dauert länger als angenommen, sie und ihren Mann zu instruieren, wie sie im Fall einer akuten Krise zu Hause das Beruhigungsmittel injizieren müssen. Die Assistenzärztin erzählt, Frau Graber habe am Vortag suizidale Äusserungen gemacht: Sie habe mit einem Messer eine Frucht zerteilt und sich dabei in die Hand geschnitten. «Anschliessend sagte sie, sie würde lieber verbluten als ersticken.» Da Frau Graber Mitglied einer Sterbehilfeorganisation ist, steht die Möglichkeit eines assistierten Suizids im Raum. Die Patientin sagt jedoch, die Familie tue sich sehr schwer damit. Sie selbst fürchtet sich am meisten vor dem Erstickungstod. Der Aufenthalt im Spital, wo sich ständig jemand um sie kümmern kann, vermittelt ihr Sicherheit. Die Aussicht, heimzukehren, macht ihr Angst.

      Jeweils am Donnerstag findet auf der Palliative-Care-Abteilung im Stadtspital Zürich Waid der interdisziplinäre Rapport statt. Im Aufenthaltsraum nehmen an diesem Vormittag neben Chefarzt Roland Kunz ein Dutzend Frauen Platz. Durch das offene Fenster ist der Rasenmäher des Gärtners zu hören; während der Sitzung wird das Fenster deshalb geschlossen. Die Teilnehmerinnen am Rapport sind Pflegefachfrauen, die Musiktherapeutin, eine Psychologin, die Ergo- und die Physiotherapeutin, eine katholische und eine reformierte Seelsorgerin, die Ernährungsberaterin mit einer Praktikantin, eine Logopädin und eine Vertreterin des spitalinternen Sozialdienstes. Einige haben ihren Laptop vor sich, andere hantieren mit Papier und Stiften. Auf der Palliativstation duzen sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über alle Hierarchiestufen hinweg.

      Die einzelnen Situationen der Patienten auf der Abteilung werden während des Rapports besprochen. Zuerst geht es um Herrn Zindel; das ist der Patient, der unter einem Magenkarzinom leidet, verwirrt ist und Stimmen hört. Die Physiotherapeutin berichtet, er sehe noch immer nicht reale Dinge. Es besteht weiterhin der Verdacht, dass seine Psychose onkologisch bedingt ist, durch mögliche Metastasen in seinem Gehirn. Darum haben die Ärzte eine Computertomografie angeordnet. Die Bilder sollen schon bald vorliegen.

      «Wir mussten ihm sein Feuerzeug wegnehmen», erklärt die Pflegfachfrau am Rapport. Anscheinend befürchtet sie, der Patient könnte auf die Idee kommen, im Zimmer Zigaretten oder Cannabis zu rauchen. Bisher habe er sich von den erwachsenen Kindern, die regelmässig zu Besuch kämen, mit dem Rollstuhl zum Rauchen ins Freie bringen lassen, ergänzt die Pflegefachfrau.

      Für jeden Patienten, jede Patientin wird am interdisziplinären Rapport ein vorläufiges Behandlungsziel festgelegt. Für Herrn Zindel lautet dieses: eine Anschlusslösung finden beziehungsweise seine Rückkehr nach Hause vorbereiten, sobald die Diagnostik abgeschlossen ist. Ideal wäre in seinem Fall, wenn eine allfällige neue Therapie bis auf Weiteres ambulant fortgesetzt werden könnte.

      Während des Rapports kommen die Lebensgeschichten der Patientinnen und Patienten teilweise sehr detailliert zur Sprache. Allerdings ist nicht Neugier oder Geschwätzigkeit der Antrieb der Anwesenden, wenn sie sich über die Vergangenheit, den Charakter und den aktuellen Gesundheitszustand der Patienten austauschen. Vielmehr versuchen sie, sich in die individuellen Bedürfnisse hineinzudenken und die Wünsche dieser Menschen, die sehr konkret mit ihrer begrenzten Lebenszeit konfrontiert sind, so gut wie möglich zu erfüllen. Das Bild der Patienten rundet sich durch diesen Austausch ab und hilft den involvierten Fachpersonen dabei, die Therapie in deren Sinne anzupassen oder fortzusetzen.

      Wenn die Heilung einer Krankheit nicht mehr das oberste Ziel ist, geht es für alle Beteiligten darum, die Qualität des Daseins täglich neu zu beurteilen und alles dafür zu tun, um die Lebensqualität bis am Schluss zu erhalten. Roland Kunz sagt: «Im Umfeld eines Spitals braucht es dazu eine neue Philosophie, die die Mitarbeitenden zuerst verstehen müssen. Die Palliative-Care-Abteilung ist eine andere Welt, denn die Therapieziele unterscheiden sich fundamental von denen auf den übrigen Abteilungen.» Am Anfang, beim Aufbau der Station, sei dies eine der Herausforderungen gewesen. «Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen begreifen, dass es ein Gewinn ist, der Lebensqualität der Patientinnen und Patienten Zeit und Raum zu geben. Geht man mit dieser Haltung auf sie zu, erzielt man Behandlungserfolge, auch wenn keine Heilung mehr möglich ist.» Zur Lebensqualität gehört zum Beispiel auch, dass die Patienten auf der Station ihre eigenen Kleider tragen dürfen. Kunz sagt: «Wir fordern sie ausdrücklich auf, ihr Pyjama, ihr Kopfkissen oder ihre Bettdecke von daheim mitzubringen. Bis zuletzt stehen hier die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen im Mittelpunkt. Das alles zählt zu einer guten, individuellen palliativen Behandlung.»

      Während von einigen Patientinnen und Patienten nahezu lückenlose Lebensläufe vorhanden sind, sind von anderen nur Fragmente aus der Vergangenheit bekannt. Was man im Spital über das Leben von Herrn Zindel weiss, ist eine Art Puzzle, bei dem viele Einzelteile fehlen. An der Teamsitzung ist die Rede davon, dass er früher lange in Afrika gelebt und in unterschiedlichsten Berufen gearbeitet habe; in der Hotellerie, als Herrenkonfektionsverkäufer, als Barclubleiter und als Softwareentwickler. Kunz fasst zusammen: «Er war wahrscheinlich schon immer eine spezielle Persönlichkeit.»

      An diesem Morgen ist eine neue Patientin auf der Station angekommen, um die es am Rapport ebenfalls geht. Es handelt sich um eine etwas über fünfzigjährige Frau mit einer langen Krankengeschichte. Vor vielen Jahren war sie an Brustkrebs erkrankt. Der Tumor wurde operiert und anschliessend mit einer Hormontherapie behandelt. Mehr als zehn Jahre ging alles gut, bis die Krankheit erneut ausbrach. «Nach zehn Jahren», sagt Kunz, «gelten Krebspatienten in der Regel als geheilt.» Die Frau wünscht jetzt, da ihre Erkrankung weit fortgeschritten ist, keine onkologische Therapie mehr, würde aber gerne wieder nach Hause zurückkehren. Sie hat sich für den Spitaleintritt entschieden, weil sie an Atem- und Schluckproblemen leidet, was ihre Lebensqualität zunehmend beeinträchtigt.


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