Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick. Petra Häußer

Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer


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Paul kommt erst später nach der Silvestergala, dann soll noch ein Freund von Johanna erscheinen. Willi zappelt herum. Er wirkt immer so, als ob er die anderen beiden suchen müsste. Sie waren halt immer wie zusammengewachsen, der Karl, der Willi und das Richardle. Mit seinen 17 Jahren ist der Willi nun kein Bub mehr und noch kein Mann. Da sitzt er, mittendrin und lacht über die zum Teil doch schon sehr anzüglichen Scherze, man hat einfach zu viel Wein getrunken; kaum zu glauben, wo der herkommt, man war es jetzt so lange nicht mehr gewöhnt. Mein Gott, dass wir wieder aufatmen können, dass auch der Bertel heil aus dem Krieg zurückgekommen ist, wo immer er wohl war, er sagt es ja nicht, er kann es nicht sagen, jedoch es halte jemand eine mächtige Hand über ihn, so drückt er es immer aus, wenn die Mutter ihm weinend die Wange streichelt zum Abschied, nachdem er wieder einmal vorbeigeschaut hat, aber nur kurz und wieder verschwindet nach Berlin in dieses Babylon! Der Kaiser fort, überall Aufruhr, nur nicht hier, hier in meinen vier Wänden. Wilhelmine atmet auf.

      Das Vorbeischauen ist das übliche Beziehungsmuster geworden in dieser Familie. Wenn sie nicht die vier Kleinen hätte! Die sind noch ganz bei mir, hier unter meinen Fittichen. Bei Sofies Geburt war Wilhelmine fast schon 40 Jahre alt. Es war trotzdem eine gute, eine leichte Geburt und gleich konnte sie sich über das Kindchen freuen, seine Pflege übernehmen ohne fremde Hilfe, es stillen, baden, wickeln, es auf dem Arm hin- und herschaukeln in den ersten Wochen, bis Sofies schreckliche Bauchkrämpfe vorüber waren und das Kindchen so richtig auf dieser Welt angekommen war. Jetzt ist ihre Jüngste immerhin schon fünf. Eine süße quirlige Prinzessin mit sehr viel Selbstbewusstsein, der Liebling ihres Vaters, er schaut in sie hinein wie in einen Spiegel. Dabei ist sie ganz bestimmt nicht so musikalisch wie die 15-jährige Paula oder gar wie Helene, die sogar in der Schule immer eine Eins gehabt hat in Musik, immer! Walter, der elfjährige Gymnasiast, auf dem besten Weg zum Professor. In Mathematik und Latein eine glatte Eins. Wo haben sie das nur her, meine Kinder? Und Hans, der groß gewachsene siebenjährige Hans, der ein bisschen dem Bertel ähnelt, so ernsthaft ist er, auch charmant mit seinen Grübchen in den Wangen und diesem Blick, den slawischen Schlitzaugen seines Vaters, aber blau sind sie, so grünblau wie meine, Wilhelmine schmunzelt stolz. Überall ist er sofort zu erkennen mit seinen flachsblonden Haaren. Wenn das so bleibt, dann wird er wohl ein Herzensbrecher werden, eines Tages.

      Ach ja, es ist leichter geworden, mein Leben, denkt Wilhelmine dankbar. Der Paul hat mit seiner Gesundheit zu tun, längst hat er nicht mehr so viel Energie wie früher. Seine Leidenschaft verwandelt sich allmählich in eine sanfte innige Zärtlichkeit. Bald sind wir 50. Dann sind wir ganz und gar auf der anderen Seite des Flusses angekommen, wie man so schön zu sagen pflegt, weil man diese Dinge ja nicht anspricht. Sie gehören in die Dunkelheit der Nächte.

      Bertel also aus dem Haus und der Willi hat gerade seine Lehre angefangen, kommt nur noch zum Schlafen nach Hause und hat ein Angebot für einen Platz im Lehrlingsheim. Lebt dort zusammen mit gleichaltrigen Burschen, da kann er sich messen und orientieren, das braucht er jetzt mehr als den elterlichen Schutz. Auch Johanna und Helene nur noch zum Schlafen hier. Vier verköstigen sich selbst, vier muss ich noch ernähren.

      Wilhelmine wird aus ihren Gedanken gerissen durch ein stürmisches Klingeln an der Eingangstür. Kurz darauf erscheint Johanna Hand in Hand mit einem sehr hübschen jungen Kerl, der direkt auf Wilhelmine zugeht:

      „Mein Name ist Willi Gilles“, sagt er. „Ist denn auch Ihr Mann da, Frau Sömmer? Ich möchte mit ihm sprechen.“

      Da weiß Wilhelmine Bescheid. Sie freut sich, oh, sie freut sich so sehr. Es wird eine Hochzeit geben, bald, das sieht man in seinen Augen. Da ist Ungeduld und noch etwas, was Wilhelmine sehr gut kennt. Ein bestimmter Hunger nach Nähe ist da. Es wird ein Brautpaar geben und bestimmt ganz bald auch ein Enkelkind. Ein kleines Kindchen in ihren Armen. Eins zum Liebhaben, das sie nicht stillen muss, für das sie nachts nicht immer wieder aus dem Bett aufstehen muss, über das sie nicht wachen muss, wenn es fiebert, hustet, sich erbricht. Nur liebhaben darf sie es. Wie ist das Leben gut zu ihr! Was ist das für ein wunderbares neues Jahr, und auch ein neues Jahrzehnt, das hell und froh vor ihr liegt. Sie kann es kaum abwarten, ihr Glück mit Paul zu teilen.

      Der Zollinspektor

      1920

      Die Oper Carmen hatte für Anton ein Leben lang eine besondere Bedeutung. Lioba Winter eine Carmen? Sicher nicht. Sie war ein ganz normales Mädchen, die Tochter eines Bodenseefischers, tätig als Hilfe im Haushalt des Stühlinger Wein- und Spirituosenhändlers Salzmann. Lioba liebte Musik, Antons Baritonstimme hatte es ihr angetan, als sie mit anderen jungen Leuten in Meersburg in den Weinbergen unterwegs waren und einander begegneten. Anton und Lioba waren einander schnell einig zu heiraten, sobald der Krieg zu Ende wäre. Aber erst einmal wurde Lioba schwanger und der kleine Hugo wurde geboren. Anton hätte sie gerne vor der Geburt geheiratet, so dass das Kind schon seinen Namen gehabt hätte. Da druckste sie herum, sie will in ihrer schönen Tracht zum Altar gehen, so wie ihre Mutter und ihre Großmutter und ihre Schwester und da passt sie jetzt doch nicht hinein ... Ja, ja, das sah Anton ein, es wäre sicherlich schnell zu regeln, der Hugo Winter würde am Tag ihrer Hochzeit ein Hugo Klumpp werden und dann könnte alles seinen Gang nehmen. Der Mensch denkt, Gott lenkt, das blieb Antons Spruch, immer wenn er Hugos Geschichte erzählte. Warum hatte ausgerechnet er, der fadengerade, fast treudoofe Grenzer Klumpp Dienst in jener unglückseligen Sturmnacht, als man das Schiff seines zukünftigen Schwiegervaters bergen musste und ihn dazu rief, weil es voll war mit Schweizer Uhren, kleinen, großen, aus Holz, aus Metall, kaum verpackt, sie quollen den Zöllnern entgegen und Antons Kollegen starrten stumm auf die Bescherung, ihr Blick wanderte zum alten Winter und seinen Söhnen, dann zu Anton. Es wurde nichts geredet.

      Schließlich fand Anton seine Sprache, seine Haltung, sein Pflichtgefühl wieder. „Ich muss das melden.“

      Das war’s. Lioba verzieh ihm nicht. Eine Heirat kam nicht mehr in Frage. Obwohl er sich korrekt verhalten hatte, empfahl man ihm eine Versetzung, so landete er in Mannheim beim Warenzoll. Das Heimweh nach dem Kleinen zermürbte sein Herz. Viele Male hatte er das Gefühl, er müsste wie der Sergeant Don José Zoll Zoll sein lassen und zurückgehen an den See, es drauf ankommen lassen, ob man ihn dort aufnehmen würde, sich Arbeit suchen und Lioba wieder zurückzugewinnen, so hätte er dabei sein können, wenn sein Sohn lachen, laufen und sprechen lernte. Aber das war Oper, nicht Wirklichkeit.

      Dann traf er an einem Wochenende auf eine fröhliche Gruppe junger Leute, die sich am Bahnhof zusammenfanden, um in den Odenwald zu fahren, wo sie wandern wollten. Statt in Heidelberg den Zug zu verlassen, was er vorgehabt hatte, blieb er bei ihnen sitzen, stieg erst mit ihnen aus und wanderte mit ihnen durch den Wald, die Bänder flatterten von seiner Klampfe, seinen Hut hatte er in den Nacken geschoben, seine dunklen Haare quollen darunter hervor, eine Locke fiel ihm ins Gesicht, er sah verwegen aus. Mitten im Odenwald sang er von St. Pauli und der Reeperbahn, vom Los des Matrosen, immer wieder Abschied nehmen und diejenigen, die er liebte, zurücklassen zu müssen. Dabei ging es ihm vor allem darum, die Aufmerksamkeit einer jungen Frau mit einem traurigen Gesicht, trotzig geschürzten Lippen, dicken kastanienbrauen Haaren und langen gelenkigen Fingern auf sich zu ziehen, deren Blick, das bemerkte er wohl, immer wieder auf ihn fiel und länger und länger auf ihm verweilte und die ihn am Abend, als sie sich in Mannheim voneinander verabschiedeten, zögerlich anlächelte, zuerst mit geschlossenen Lippen, dann blitzten sogar ihre schönen weißen Zähne hervor. Sie verschwand, bevor er sie hätte fragen können, wo sie wohnte. Er wusste nur, dass sie Helene hieß, dass sie gerade die Meisterprüfung als Schneiderin bestanden hatte, aber erst mit 24 würde sie auch die Anerkennung der Kammer erhalten, so lange müsste sie warten und als Verkäuferin arbeiten. Sie hatte eine Stimme wie Samt und Seide, sang jedes seiner Lieder mit, mühelos fand sie eine zweite Stimme, über der Melodie, unter der Melodie, so etwas hatte er noch nie erlebt. Solch ein Zusammenklang! Einer im anderen geborgen, einer um den anderen herumverschlungen, verbunden, dann sich schwebend wieder entfernend, aber doch immer einer nicht ohne den anderen komplett. Er wusste, er musste sie wiedersehen und er würde sie finden, auch wenn er alle Läden Mannheims nach ihr absuchen müsste.

      Aus Kindern werden Leute

      1929

      Paula und Walter waren auf dem Sprung in eine eigene Zukunft, die mehr bedeutete als nur ein Entwurf, als der Vater starb. Sofie 17 und auf der Handelsschule.

      Johanna


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