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sie mit fest zusammengepressten Lippen. Es war schlimm, aber ein toter Vater war nichts Besonderes. Es gab etliche Halbwaisen ringsum, so der offizielle Ausdruck, den man bei Bedarf in die Formulare eintragen musste. Nur leider brachte Hansi diese Tatsache mit den falschen Leuten zusammen. Dem Albert zum Beispiel, der so dumm war wie lang, einem derben Tölpel, mit dem keiner etwas anfangen konnte, und mit Wilhelm Preuss, dem Sohn des Zahnarztes, einem intriganten Streber, der sich nach dem Tod seines Vaters dem Lehrer, dem alten Herrn Teufel, andiente, dass dem sogar manchmal die Geduld riss und er ihn in den Senkel stellen musste. Die Mutter sprach lange überhaupt nicht mehr über ihren Mann. Sie besuchte regelmäßig sein Grab, legte dort Blumen nieder, erlaubte auch, dass die Kinder etwas zum Grab brachten, einen schönen Stein vielleicht, Hansi sammelte Schrauben, Nägel, kaputtes Werkzeug, wo immer er es fand, und einiges davon trug er zum Grab des Vaters. Die Großmutter schüttelte den Kopf darüber, aber die Mutter ließ ihn gewähren.
Bettys Mutter bestand darauf, dass ihre Tochter die Verwandten des Vaters ihrer beiden Kinder besuchte. Sie wollte wahrscheinlich, dass die Kinder spürten, sie sind nicht allein. Es gibt da eine große Familie. Drei Onkels und den Cousin Richard, der schon erwachsen war. Selbst schon Soldat. Er und der Onkel Bertel hatten die Mutter begleitet, als sie den toten Vater abholen ging in Holland. Sie waren geblieben bis zur Beerdigung. Richard hatte sich neben ihn gesetzt, Schulter an Schulter, den Arm um ihn gelegt, hatte versucht, ihm zu erklären, dass der Vater ein wirklich tapferer Mann gewesen sei. Einer, der sich vor nichts fürchtete. Eine Art Ritter sei er gewesen. Einer, der für das Gute gekämpft hatte und der das Böse hasste. Damit konnte Hansi nichts anfangen.
„Warum hat er eine Lungenentzündung gekriegt? Hatte er keine warmen Kleider?“
Mhm. Ja, vielleicht.
„Weißt du eigentlich, dass dein Vater einen Bruder hatte, der schon mit zehn Jahren an einer Lungenentzündung gestorben ist? Da hatte dein Vater Glück, dass er noch ein Mann wurde, ein Ehemann und ein Vater, bevor ihm das Gleiche passiert ist. So etwas passiert, es passiert immer wieder. Und ...“
„Und es ist Gottes Wille, wie der Pfarrer sagte?“
„Nein. Das glaube ich nicht. Es ist ein unerklärlicher Zufall. Etwas, das geschieht, ohne dass man es je verstehen wird.“
Kein besonders tröstlicher Gedanke.
„Aber ein Teil von deinem Vater ist auch in dir drin und der lebt mit dir weiter. Das spürst du. Vielleicht nicht jetzt gerade, aber du wirst lernen, es zu spüren. Du kannst mit ihm Kontakt aufnehmen und er wird dir Ratschläge geben, wenn du sie brauchst. Er tröstet dich, wenn du dich allein fühlst. Er freut sich mit dir, wenn du glücklich bist. Ich werde dich danach fragen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Bald schon. Ich versprech’s dir, dass wir uns ganz bald schon wiedersehen werden. Du und ich, wir sind Familie, weißt du, Hansi. Das bleibt für immer.“
So hatte ihn das Zusammensein mit Richard trotzdem getröstet. Weil er so schöne Sachen erzählt hatte. Versprechen gegeben. Die Familie beschworen. Der Richard, das war einer, von dem in der Verwandtschaft des Vaters viel geredet wurde. Der Richard dies und der Richard das. Manchmal voller Bewunderung mit leuchtenden Augen. Manchmal, indem man die Augenbrauen aufspannte und bedeutsam die Lippen kräuselte. Zu Richard wie zu jedem anderen Mitglied seiner väterlichen Familie hatte Hansi eine lange wechselhafte Beziehungsgeschichte. Immer auf der Suche nach seinem Vater, zog es ihn zu den Onkels und Tanten, den Cousins und Cousinen. Bis er einen anderen Weg fand, um dem Vater näher zu kommen. Bis er begann, Berichte über den Zweiten Weltkrieg zu lesen. Biographien von Soldaten. Dann sah er sich die Dokumentationen an, die an Jubiläumstagen im Fernsehen gezeigt wurden. Es brachte ihn nicht wirklich weiter. Es nährte jedoch den Verdacht, dass beim Tod des Vaters etwas vertuscht worden war. Etwas, was vielleicht auch die Mutter nie erfahren hatte. Vielleicht auch der Onkel und der Cousin nicht. Oder sie schwiegen aus Kadavergehorsam. Und als er so weit gekommen war mit seinen Überlegungen, fühlte er in sich große Dankbarkeit über den Zeitpunkt seiner Geburt. Er war kein Täter. Er war einer, der das Recht hatte, dieses Land, das neue Deutschland, zu bevölkern. Er war der Sohn einer Kriegerwitwe. Na und! Die Welt stand ihm trotzdem offen. Er war ein guter Schüler, machte eine Lehre als Maschinenbauer, ging dann an die Fachhochschule und studierte dort Maschinenbau. Ohne große Mühe, mit ein bisschen Rückenwind von Onkel Bertel, wurde er bei MAN eingestellt. Spezialgebiet Schiffsmotoren. Er nahm sich einen Privatlehrer für technisches Englisch, ließ sich einen Sommer lang nach Belfast versetzen, bis er alle Redewendungen drauf hatte. Dann absolvierte er ein Zusatzstudium für Betriebswirtschaft und stieg in der Firma auf bis zum Abteilungsleiter, hielt sich dort so lange, bis die jüngere Generation, die Herren Doktoren und Diplomingenieure sich ihm in den Weg oder besser gesagt vor die Nase stellten. Da sagte er Adieu mit 60 Jahren. Sein Schäfchen hatte er im Trockenen.
Nur ein Jahr später allerdings verlor er seine Frau. Sie hatten mehrere Reisen geplant gehabt, wollten ab jetzt viel Zeit miteinander verbringen, sich mehr für die Hobbys des anderen interessieren. Er blieb zurück, vereinzelt und doch nicht allein, denn er hatte seine beiden Töchter. Was für ein vitales Vermächtnis, was für ein bleibendes Glück. Zu dritt blieben sie eine Familie.
Die Wurzeln
Paul Adalbert Karl Sömmer, geboren 1867 im thüringischen Sömmerda, das damals zu Preußen gehörte. Sein Vater Karl Ludwig Sömmer war Prokurist bei der renommierten Metallwarenfabrik Dreyse und Collenbusch gewesen. Der älteste Bruder des Großvaters wurde Priester. Der zweite Bruder wurde Apotheker und starb jung während einer Grippeepidemie. Paul wurde als Nachzügler geboren, seine Brüder waren schon 17 und 15 Jahre alt. Die Eltern fühlten sich alt, zu alt jedenfalls, um sich gegen den Wunsch des jüngsten Sohnes zu wehren, Musiker zu werden. Auf verschlungenen Wegen, die ihn zunächst nach Erfurt, Leipzig und Dresden führten, gelangte er schließlich nach Mannheim ans dortige Theater. Er spielte in der ersten Geige, beherrschte jedoch auch mehrere Blasinstrumente, konnte sowohl einen katholischen als auch einen evangelischen Gottesdienst auf der Orgel begleiten und unterrichtete später am Mannheimer Konservatorium. Er war freundlich, gesellig, hilfsbereit. Bei einer Ausflugsfahrt auf dem Rhein, wo er mit einer kleinen Gruppe Musiker zum Tanz aufspielte, lernte er seine spätere Frau kennen.
Wilhelmine Walker war die jüngste Tochter des Lotsen Johann Jakob Walker. Eine zierliche, stille, zu träumerischen Absencen neigende junge Frau mit sehr hellblauen Augen und blonden feinen Haaren, die sich an der Stirn und im Nacken kräuselten und ihr einen engelhaften Ausdruck verliehen. Sie konnte sich dem Temperament des charmanten fremden Musikers nicht entziehen. Bevor sie Zeit hatte zu überlegen, war sie seine Frau. In 17 Jahren gebar sie ihm zehn Kinder. Nach 35 Jahren Ehe starb ihr Mann und sie lebte noch weitere 25 Jahre.
Als sie 1905 ihre Kinder zur Taufe ihrer dritten Tochter Paula rüstete, den vier Buben die weißen Hemden heraussuchte und die Lederstiefelchen, die Mädchen zu sich rief, um ihnen die Haare zu flechten, hatte sie einen Anfall von Verzweiflung. Sie setzte sich auf den Boden und jammerte: „Ihr seid einfach zu viele, es ist zu eng hier, ich schaffe das nicht mehr.“
Da kam ihr Mann aus seinem Zimmer, in dem er gerade einen Privatschüler betreute – die musste sie ja auch immer noch hinnehmen, die Privatschüler, die sie zwangen, das Temperament ihrer Kinder zu zügeln, ihr Gezänk, ihre Verfolgungsjagden über Tische und Stühle durch alle Räume abzufangen, mit dem schreienden Säugling auf dem Arm.
„Mine“, sagte ihr Mann, hob sie vom Boden auf und versuchte sie in den Arm zu nehmen, „meine liebe gute süße Frau, mein Ein und Alles, mein Morgen- und mein Abendstern, mein Lebenselixier, schau doch mal her.“
Er packte seine Kinder nacheinander um die Taille und setzte sie auf den Bücherschrank, so dass ihre Beine vor den Augen der Mutter zuckten und wippten, den Täufling hielt er hoch über seinen Kopf und stellte sich neben den Bücherschrank.
„Wen, meine Liebe, wen möchtest du denn hergeben? Auf wen kannst du denn am besten verzichten.“
Mine atmete ein und aus, heftig, schnell, schniefend und schluchzend. Langsam beruhigte sie sich, ihr Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln, in den Augenwinkeln kräuselte sich die zarte Haut. Sie schluckte. Was sie in diesen Minuten dachte, erzählte sie nie und niemandem.
„Kommt