Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Kurt Rothmann
ich enfröwe mich nâch ir güeten.16
(Meine ganze Freude ist eine Frau,
deren Herz voller Tugend ist.
Sie ist so schön,
dass man ihr gerne dient.
Vielleicht gelingt es mir, dass sie mir zulächelt.
Das muss sie mir gewähren;
wie könnte sie es mir versagen,
ich freue mich so auf ihren Gruß.)
Doch bald meinte Walther, dass die grundsätzliche Unerfüllbarkeit der Werbungen die Frauen hochmütig mache; er entschied:
ich wil mîn lop kêren
an wîp die kunnen danken.
waz hân ich von den überhêren?
Damit wandte sich Walther der sogenannten ›niederen Minne‹ zu. In seinen Mädchenliedern besingt er ungekünstelte, gegenseitige Gefühle, das Liebesglück, das, abgesehen vom Tagelied17, nur in der Ehe oder aber außerhalb der höfischen Standesgesellschaft erlaubt war. Die Töne, die Walther in diesen Liedern anschlägt, waren richtungweisend für die Entwicklung der Lyrik; sie sprechen auch uns heute noch unmittelbar an. Zeitlos schön wie Goethes »Mailied« ist Walthers Mädchenlied »Under der linden«.
Als Spruchdichter18 hat Walther sich mit den geistigen Problemen seiner Zeit auseinandergesetzt. Vorrangig war damals die Frage, wie die nunmehr bejahte Welt und das humanistische Menschenbild mit dem Jenseitsglauben in Übereinstimmung zu bringen seien. Die aus der Antike bekannten Güter:
werden dualistisch aufgeteilt: Besitz und Ansehen gelten als weltliches, die Gnade als geistliches Gut. Alle drei Güter zu erwerben, d. h. Gott und der Welt zu gefallen, war die schwere Aufgabe, die alle Herzen bewegte. Die höfischen Epiker haben immer wieder versucht, beispielhafte Lösungen zu entwerfen. Doch Walther hat auch hier Zweifel gegenüber der Idealisierung in der höfischen Dichtung:
[…] dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer welte solte leben.
deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der keines niht verdurbe.
diu zwei sint êre und varnde guot,
daz dicke ein ander schaden tuot.
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolte ich gerne in einen schrîn:
jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und weltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
([…] ich dachte lange darüber nach,
wie man leben solle.
Ich fand keinen Rat,
wie man drei Dinge
miteinander vereinen könne:
Die beiden ersten sind Ehre und Besitz,
von denen eines dem anderen abträglich ist,
das dritte ist die Gnade Gottes,
glänzender noch als die beiden anderen.
Die hätte ich gerne in einem Schrein,
aber das ist leider unmöglich,
dass Besitz und weltliches Ansehen und Gottes Gnade dazu in einem Herzen zusammenkommen.)
Gegenstand der höfischen Epik19 ist die âventiure20, das Abenteuer, in dem der Ritter nach êre strebt, nach Frauengunst und Waffenruhm. Das varnde guot fällt dem erfolgreichen Helden dabei zu, ohne dass er darauf aus wäre; er braucht es eigentlich nur, um seine milte damit zu beweisen.
HARTMANN VON AUE (um 1165–1215), der erste große Epiker deutscher Sprache, erschloss seinem Publikum die Artusepik des Franzosen Chrétien de Troyes. Er zeigt an zwei Artushelden, in welchen weltlichen Konflikt der Bewährung suchende Ritter möglicherweise gerät: Der Ritter Erec (1180/85) »verligt« sich aus übergroßer Liebe zu seiner Gattin Ênîte, d. h., er vergisst den ritterlichen Kampf. Der Ritter Iwein (um 1200) dagegen »verrîtet« sich und vergisst über dem Kämpfen seine Herrin Laudine. – Beide Ritter verletzen die mâze und werden darum aus der Tafelrunde des Königs Artus ausgeschlossen, bis sie ihre Fehler in weiteren Abenteuern wiedergutgemacht haben.
In seinen höfischen Legenden21 Gregorius (1187/89) und Der arme Heinrich (um 1195) geht es Hartmann von Aue um den bedrohlicheren Zwiespalt zwischen weltlicher êre und gotes hulde. Anknüpfend an die geistliche Dichtung des 12. Jahrhunderts, verlangt er im Widerstreit zwischen Gott und Welt die Aufopferung der weltlichen Güter und ein Sich-Ausliefern an die Gnade Gottes. Gregorius und der arme Heinrich weisen den Weg.
Gregorius ist das Kind geschwisterlicher Blutschande. Ausgesetzt und als Findling im Kloster erzogen, erringt er nach tüchtiger Ritterfahrt Gattin und Besitz. Doch die Gattin stellt sich als seine Mutter heraus. Siebzehn Jahre lang büßt Gregorius nun wie ein orientalischer Säulenheiliger seine Schuld, die allein im Nichtwissen bestand, bis er endlich von Gott zum Papst berufen wird.
Der arme Heinrich ist wie Gregorius ein »guter Sünder«. Er wird mitten im blühenden Leben vom Aussatz befallen. Demütig wie Hiob nimmt er die Erinnerung an den Tod hin, verschenkt seine Habe und lebt zurückgezogen auf einem Meierhof. Als das elfjährige Töchterchen des Bauern erfährt, dass das Selbstopfer einer reinen Jungfrau den armen Heinrich vom Aussatz heilen kann, will es den guten Herrn erlösen und sich den Himmel verdienen. (Die Todessehnsucht des Mädchens und Heinrichs Weltfreude veranschaulichen den Dualismus des Weltbildes.) Doch im Augenblick, als dem Mädchen das Messer an die Brust gesetzt wird, erkennt Heinrich den Widersinn des Opfers und die Pflicht, sich allein der Gnade Gottes zu überlassen. Er gebietet Einhalt und wird eben dadurch erlöst. Das opferbereite Mädchen nimmt er zur Gemahlin. – Der kurze, novellenhafte Text ist leicht im Original zu lesen.
WOLFRAM VON ESCHENBACH (um 1170–1220), der größte Epiker des deutschen Mittelalters, meinte, eine Harmonisierung zwischen Gott und Mensch müsse auch ohne Weltabkehr möglich sein. Als Modell einer Lösung bietet er die Laienfrömmigkeit des Gralsrittertums. In seinem Versroman Parzival (um 1200 – um 1210), dem ersten Entwicklungsroman (vgl. Kap. 4, Anm. 25) der Weltliteratur, führt Wolfram seinen Helden analog zur Heilsgeschichte (Paradies, Sündenfall, Erlösung) aus der Unerfahrenheit durch den Zweifel zum vorbestimmten Heil.
Parzival wird geboren, nachdem sein Vater in einer Aventiure gefallen ist. Seine Mutter Herzeloyde will ihn darum von allem Ritterwesen fernhalten. Sie lässt ihn in paradiesischer Unerfahrenheit aufwachsen. Als er dennoch aufbricht, um Ritter zu werden, steckt sie ihn in Torenkleider. In seiner »tumbheit« sieht Parzival nicht, dass Herzeloyde vor Gram über seinen Abschied stirbt. Er erschlägt in unritterlichem Kampf einen Artusritter und versäumt, den Gralskönig Anfortas nach seinem Leid zu fragen, weil er ein äußerliches Höflichkeitsgebot (»irn sult niht vil gevrâgen«) über spontanes Mitleid stellt. Als ihn die Gralsbotin darum verflucht, überfällt ihn der »zwîvel«. Er glaubt sich von Gott betrogen und kündigt ihm die Gefolgschaftstreue auf. Nach vielen Abenteuern und durch die Belehrung des Klausners Trevrizent begreift Parzival, dass nicht Trotz, sondern demütige Anerkennung unverschuldeter Schuld als Sünde nötig ist, um durch Gottes Gnade zum Heil, zur »saelde«, zu gelangen. Parzivals vorbestimmtes Schicksal erfüllt sich nach demütiger Umkehr, indem er Anfortas durch die Mitleidsfrage (»waz wirret dier?«) erlöst und selbst Gralskönig wird. – Der Dichter fasst zusammen:
swes lebn sich sô verendet,
daz got niht wirt gepfendet
der