Die Kunst der kleinen Lösung. Klaus Henning
anders vorgenommen werden. Oft sind es wenige Zentimeter. Es liegt so nahe. Doch wir haben es verlernt, den kleinen Lösungen zu trauen. Wir haben uns an gigantische Lösungen gewöhnt. Wir glauben zu oft an den »großen Wurf«. Ich habe gelernt: Lieber tausend kleine Schritte als einen großen Big Bang. Dann gelingt in Summe auch ein großer Wurf.
Der HOT Approach: First Human, then Organisation, then Technology
Die wirklich nachhaltigen technischen Entwicklungen, die heute noch unsere Arbeiten in Industrie und Produktion prägen und verändern, sind meines Erachtens diesem Ansatz gefolgt. Und wenn wir nicht den Menschen an die erste Stelle setzen, werden wir auch in Zukunft Ideen wie die des selbstfahrenden Autos oder des flächendeckenden Einsatzes erneuerbarer Energien nur schwer umsetzen können. Technische Neuerungen müssen von Anfang an die Menschen und Organisation einschließen – nur so haben sie Durchsetzungskraft und dann auch Akzeptanz.
Wir handeln oft wie Frischverliebte: Wir sehen nur das Rosarote und die ungeahnten Möglichkeiten, aber selten potenzielle Mängel oder Probleme.
Gelingt es aber Mensch Organisation und Technik gemeinsam zu denken, dann ist dies ein entscheidender Schlüsselfaktor für Deutschland. Ein Faktor mit Potenzial als Exportartikel. Man denke hier nur an Großprojekte wie die bereits erwähnte Energiewende, die ein systemisches Denken voraussetzt, die nicht ohne den Menschen gedacht werden kann. Gelingt es uns, dieses Projekt systemisch umzusetzen – und nicht nur rein technisch –, dann könnten wir eine ganz besondere Fähigkeit exportieren: in Systemen zu denken und komplexe Systeme zu entwickeln. Und mit vielen kleinen Lösungen das Große zu entwickeln.
Neue Exportartikel aus Deutschland
Wenn Ingenieure und Naturwissenschaftler von Anfang an nicht nur das »technische System« sehen, wenn Betriebswirte und Controller sich von dem Glauben lösen, alles über Zahlen zu beurteilen und zu steuern, und wenn Sozial- und Geisteswissenschaftler parallel dazu auch noch ihre Technikskepsis aufgeben – dann kann es funktionieren. Dann haben auch hiesige Großprojekte wie die Energiewende das Potenzial, als »Exportartikel« weltweit vermarktet zu werden. Wenn wir sie mit vielen kleinen Lösungen verwirklichen.
Die Energiewende exportieren
So, wie wir schon lange viele kleine Lösungen mit großem Erfolg exportieren. Gerade darin sind wir ja Weltmeister. Mit Dichtungen, Ventilen, Schrauben, Kolben. Weil wir viele kleine Komponenten so gut entwickeln und produzieren, sind wir so stark im Weltmarkt. Kleine Lösungen für große Probleme.
Genauso haben wir im Ruhrgebiet in den vergangenen Jahrzehnten etwas Enormes geleistet: einen Strukturwandel. Mit vielen kleinen Lösungen. Schritt für Schritt. Die Region stand für Bergbau und Stahlindustrie. Darauf begründete sich die Existenz der Firmen und ihrer Arbeiter. Das bestimmte auch das Selbstverständnis der Menschen. Inzwischen hat sich das Ruhrgebiet in eine Ansammlung vieler Dienstleistungszentren und neuer Industrien gewandelt. Die Industriekerne sind bewahrt worden, entgegen den weltweiten Trends. Aber es gibt neue Arbeit, es herrscht ein neues Denken – und ein neues Selbstverständnis. Dieser Strukturwandel ist eine enorme Leistung. Es verdient größten Respekt, was die Menschen dort auf den Weg gebracht haben. In vielen kleinen Schritten. Das kann man im Grunde nicht oft genug sagen.
»Enabled by Germany« hat Zukunft.
Wir neigen in Deutschland ja dazu, unsere Erfolge nicht gebührend zu feiern, sondern in falscher Bescheidenheit kleinzureden. Viele motiviert eher die Suche nach einem noch in der Suppe befindlichen Haar. Selten finden wir etwas uneingeschränkt gut. Ich finde den Strukturwandel beeindruckend – und sehe darin auch Exportpotenzial, beispielsweise für die sogenannten Megacitys dieses Planeten, die aus allen Nähten platzen – und dringend einen Strukturwandel benötigen. So könnten wir beginnen, um es überspitzt zu formulieren, nicht nur Schrauben zu exportieren, sondern Systeme und Konzepte. Problemlösungen für die Megaprobleme dieser Welt.
So ließe sich das von uns allen sehr geschätzte und stolz vertretene »Made in Germany« künftig noch mehr zu einem »Enabled by Germany« entwickeln.
Hier liegt viel Potenzial für Arbeit und Wachstum. Und davon könnten wir auch in Zukunft gut leben.
Wenn man vom eigenen Schnarchen aufwacht
Der umfassende und möglichst vollständige Blick auf Systeme ist ein Lebensthema. Ich habe über Mensch-Maschine-Systeme promoviert und über die Entropie in der Systemtheorie habilitiert. Neben meiner Tätigkeit als Institutsleiter an der RWTH Aachen, wo ich später auch Dekan der Fakultät für Maschinenwesen war, habe ich parallel ein Institut für Unternehmenskybernetik übernommen und weiterentwickelt.
Unternehmen sind vor allem lebende Systeme.
Auch Unternehmen sind lebende Systeme, in denen Informationen und Ressourcen durch komplexe Prozesse zu Waren oder Dienstleistungen werden. Diesem Denken liegt der Geist der Kybernetik zugrunde. Die Kybernetik lehrt vor allem, wie man in großen Systemen durch kleine Steuersignale das Große beeinflussen kann. Allerdings nur, wenn man das Große verstanden hat, nicht nur in seiner Funktionsweise, sondern auch in den Wechselwirkungen seiner Teile. Die Kybernetik hat mich geprägt. Wenn ich gefragt werde, was Kybernetik eigentlich ist, sage ich gerne: »Kybernetik ist, wenn man vom eigenen Schnarchen aufwacht.«
Das heißt: Die Dinge, die man irgendwie anstößt, fallen einem oft irgendwie wieder auf den Kopf, meistens »von hinten«. In der Kybernetik sind das die gefürchteten NRFs, die Neben-, Rück-, Fernwirkungen. Und die sind häufig stärker als die beabsichtigten Effekte. Und sie sind oft nicht nur stärker, sie sind darüber in komplexen Situationen grundsätzlich nicht prognostizierbar. Und kybernetische Wirkungen finden wir überall.
Sie müssen bereit sein zu scheitern
Viele der Fragen zur Machbarkeit, zu Mensch und Technik rühren auch aus meinem christlichen Verständnis. Dabei erlebe ich mich als Wanderer zwischen verschiedenen Konfessionen, gleichzeitig als »Katholik und Protestant«. Ich halte mich für einen sehr gläubigen Menschen. Ich glaube an Jesus Christus und seine Gegenwart in unserem Leben und meine daraus abgeleitete Verantwortung als freier Mensch. Unter diesem Blickwinkel hat mich viele Jahre die Frage beschäftigt, ob ich es als Christ verantworten kann, Ingenieur zu bleiben – noch dazu manchmal im rüstungsnahen Bereich. Ich bin Ingenieur geblieben. Aus Überzeugung, aber immer auf »zwei Beinen« stehend, mit der Perspektive der Ingenieur- und Naturwissenschaften einerseits und der Politik- und Sozialwissenschaften andererseits.
1985 war für mich ein entscheidendes Jahr. Zum einen sollte ich an der RWTH Aachen ein interdisziplinäres Institut übernehmen, in dem Sozialwissenschaftler, Geisteswissenschaftler, Ingenieure und Naturwissenschaftler zusammenarbeiten. Zum anderen traf ich einen bemerkenswerten Mann, den Physiker und Philosophen Carl-Friedrich von Weizsäcker. Dieser bekam die Ehrenprofessur an der RWTH Aachen. Ich hörte seinen Vortrag und war fasziniert. Er hatte ebenfalls einen interdisziplinären Ansatz versucht, gemeinsam mit dem Philosophen Jürgen Habermas. Mit dem Mann solltest du mal reden, dachte ich mir, und bin dann als frischgebackener Professor zum Podium, habe ihn angesprochen, meine Situation geschildert und um einen Termin gebeten. Seine Antwort: »Wir können jetzt gleich reden, ich habe zwei Stunden Zeit, führen Sie mich an einen Platz, wo uns niemand sieht.«
Ich bin dann in ein chinesisches Restaurant mit ihm gegangen. Wir haben in einer Nische gesessen und ein sehr langes Gespräch geführt. Ich berichtete von meinem Ansatz, von der Kybernetik, von meinem Willen, interdisziplinär zu arbeiten. Ich erzählte von meinen Zweifeln. Er hörte sich alles geduldig an. Und er gab mir schließlich einen Rat: »Wenn Sie mit Ihrem interdisziplinären Ansatz nicht bereit sind zu scheitern, dann suchen Sie sich sofort einen neuen Job.«
Manchmal braucht man jemanden, der eine Sache auf den Punkt bringt.
Wozu sind Sie da? Machen Sie es! Seien Sie ein Unternehmer! Gehen Sie es an!
Seien Sie bereit zum Scheitern – oder lassen Sie es! Sie wollen sich zwischen alle Stühle setzen, dann müssen Sie es auch aushalten, dass es nicht nur gemütlich zugeht.
Ermutigt von diesen Worten blieb ich für die nächsten 25 Jahre zwischen den Stühlen sitzen. Da gefällt es mir am besten. Da gibt es viele kleine Lösungen. Das entspricht