In deiner Nähe geht es mir gut. Angelika Walser
wenn sie mit ihren Freunden/Freundinnen etwas unternehmen. In schwierigen Lebenssituationen bieten freundschaftliche Beziehungen Halt. Freundschaft bedeutet gemeinsame Aktivität, Klettern oder Schachspielen, auch gemeinsames Feiern. Von einem/einer Freund/in wertgeschätzt, ja gelobt zu werden, erhöht das Selbstwertgefühl, einer der stärksten „Glücksanzeiger“, die es gibt. Wer tiefe Freundschaften pflegt, kommt mit seiner Umwelt besser zurecht und fühlt sich freier und hoffnungsvoller.
Balsam für Freundschaft ist Dankbarkeit. Wer solche regelmäßig praktiziert, wird als noch liebenswürdiger wahrgenommen. Freundschaften beglücken also. Umgekehrt haben Glückliche mehr Freunde/innen und beziehen aus gemeinsamen Aktivitäten mehr Befriedigung. Sogar handfeste gesundheitliche Vorteile sind durch Freundschaften zu erwarten. Folgt man US-amerikanischen und australischen Studien, so sind Menschen mit guten sozialen Beziehungen im Vorteil: Sie leben zufriedener, sind körperlich gesünder und haben eine höhere Lebenserwartung. Ein deutlich stärkeres Immunsystem, verbesserte Wundheilung, ein geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen – all das sind die positiven medizinischen Auswirkungen, wenn Menschen Freundschaften pflegen. Freundschaft wirkt also wie ein Puffer gegen akuten Stress oder dauerhafte Belastungen, bringt Bindungshormone und Opioide zur Ausschüttung und ist damit eine Art kleine Wonnedroge. Oder in den ganz persönlichen Worten von einem meiner Freunde: „Freundschaft heißt, sich wohlfühlen in der Gegenwart des anderen“.
1Ich danke Anton Bucher für viele Hinweise auf Fachliteratur aus der Glücksforschung. Ausführliche bibliographische Hinweise zu den Studien und detaillierte Schilderungen finden sich in seinem Buch „Psychologie des Glücks“.
WARME INSEL IN EINER KALTEN WELT
Soziologische Aspekte von Freundschaft
Man ist nicht dort zuhause, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird. (Christian Morgenstern)
Folgt man der Darstellung der Medien, dann wird Freundschaft als Lebensform neben der traditionellen Lebensform der Familie immer wichtiger. Immerhin leben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes beispielsweise nur noch 49 Prozent aller Deutschen in einem Familienverband. Die Zahl der Einpersonenhaushalte ist nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt deutlich angestiegen, Tendenz nach oben hin offen. Laut Statistik Austria beträgt die aktuelle Zahl der Einpersonenhaushalte im Jahr 2015 in Österreich 1.413.620 und auch hier gehen Prognosen von einem weiteren Anstieg aus.
Überall schießen die Wohngemeinschaften aus dem Boden, in denen nicht Verwandte, sondern Freunde/innen zusammenleben. Standen diese Wohngemeinschaften früher noch stark im Verdacht, ein „Haufen von linken Alternativen und Hippies“ zu sein, ist man heute mit solchen schnellen Urteilen vorsichtiger. Immerhin beenden weniger als 15 Prozent der Deutschen ihr Leben in vertrauter Umgebung. Auch im Alter könnten Wohngemeinschaften unter Freunden/innen eines Tages zu einer vertrauten Lebensform werden, auch wenn die gegenseitige Pflege und Unterstützung im Alter vorläufig noch eher selten ist. Was jedoch bereits existiert, sind soziale Wohnprojekte oder auch Baugemeinschaften, in denen die Generationen miteinander ihr Leben auf freundschaftlicher Basis teilen. Anstelle der Großfamilie helfen Alt und Jung sich gegenseitig bei der Kinderbetreuung und beim Einkaufen. Individuelle Rückzugsmöglichkeiten sind von den Architekten dieser Baugemeinschaften genauso eingeplant wie Gemeinschaftsräume. Neuerdings gibt es sogar Versicherungen für Freundeskreise. Gemeinsam teilt man sich die Kosten der Versicherung insbesondere bei den Selbstbehalten.
Dass Freundschaft immer mehr zu einer eigenständigen Lebensform neben traditionellen Formen wie der Ehe wird, ohne sie freilich zu ersetzen, ist auch an Veränderungen in der Rechtsprechung spürbar: Im deutschen Sozialgesetzbuch existiert der Begriff der „Bedarfsgemeinschaft“, der über die von Ehegatten und Verwandten geforderte Solidarität hinausgeht und Mitbewohner im gemeinsamen Haushalt in die Pflicht nimmt. Angesichts der wachsenden Zahl von älteren und alten Menschen in unserer Gesellschaft stellt sich die Frage, wie weit das Recht nicht nur Verbindlichkeiten zwischen Ehepaaren, sondern auch für andere Formen von Partnerschaften regeln muss. So sieht eine Rechtsreform des Erbrechts in Österreich ab 1. Jänner 2017 ein außerordentliches Erbrecht für Lebensgefährten/innen vor, die in den letzten drei Jahren mit der verstorbenen Person in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben. „Lebensgefährten/innen“ sind dabei Personen, die nicht verheiratet sind oder in einer eingetragenen Partnerschaft leben – also auch Freunde/innen. Das Recht trägt hier also der zunehmenden Pluralisierung von Lebensformen Rechnung.
All diese Beobachtungen aus dem Alltag sprechen letztlich für die Tatsache, dass sich in westlichen Gesellschaften der Postmoderne neue familienähnliche Strukturen herausbilden, die nicht mehr auf dem Prinzip der Verwandtschaft beruhen, sondern auf dem Prinzip der freien Wahl. Man bindet und verpflichtet sich selbst, und das letztlich allein aufgrund von Sympathie und Zuneigung. Ich bin davon überzeugt, dass angesichts der zunehmenden Anzahl von Singles und Patchworkfamilien die Lebensform der Freundschaft in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird. In meinem eigenen Freundeskreis habe ich beobachtet, dass durch familiäre Bindungen begründete Freundschaften manche Ehe überdauern. So manche Schwägerin und so mancher Schwiegervater erweist sich jedenfalls treuer als der Ex …
Der Soziologe Friedrich Tenbruck hat schon im vergangenen Jahrhundert die These aufgestellt: Immer wenn Gemeinschaften und Staaten zerfallen oder Gesellschaften ihren sozialen Kitt verlieren, greifen Menschen verstärkt auf Freundschaft als individuelles Phänomen zurück. Im Mittelalter mit seiner festen Einbindung des Individuums in eine relativ starre Gesellschaftsordnung hat jeder Mensch seinen Platz. Als diese Ordnung in der Zeit der Aufklärung zerfällt, verlassen sich Menschen wieder mehr auf individuelle Bindungen: In der Romantik (1798–1835) entsteht ein Begriff von Freundschaft, der bis heute unsere Vorstellungen prägt und insbesondere die Bedeutung der emotionalen Nähe zwischen Freunden/innen betont. Ich werde in Kapitel 5 darauf zurückkommen.
Dieses romantische Konzept von Freundschaft (und auch von Liebe), das allein und ausschließlich auf Gefühl, auf der Zuneigung zwischen zwei Menschen basiert, muss wohl als utopisch bezeichnet werden. In Wirklichkeit wurde und wird Freundschaft nirgendwo ausschließlich um ihrer selbst willen gesucht. Sie ist auch niemals nur ein individuelles Projekt zwischen zwei Menschen. Sie ist wie alle sozialen Beziehungen eingebettet in ein größeres soziales Umfeld. Analysiert man dieses Umfeld genauer, dann steht Freundschaft heute wieder neu und wesentlich für soziale Sicherheit und Wohlbefinden. Der Soziologe Heinz Bude von der Universität Kassel nennt Freundschaft sogar „den dritten Weg der Fürsorge“ neben Familie und staatlicher Hilfe. Wo beide Institutionen als Stütze versagen – und Stütze ist hier nicht nur emotional gemeint, sondern vor allem sozial und oft auch ökonomisch –, gewinnt Freundschaft an Bedeutung.
Sie soll dort ihr Netz ausbreiten, wo das Individuum allein bleibt und ratlos ist. Denn bei allen scheinbaren Vorteilen einer freien und persönlich selbstgewählten Lebensführung ist die Situation des postmodernen Selbst eine sehr prekäre: Man fühlt sich zwar durchaus als „Herr“ oder „Frau“ des eigenen Lebens. Man ist frei hinzugehen, wo man leben will. Man wechselt den Arbeitsplatz mehr oder weniger freiwillig und nennt sich „flexibel“ und „mobil“. Neue Jobs, neue Kollegen/innen, neue Möglichkeiten jeden Tag … Man ist in vielen Welten daheim, ist viel unterwegs und bleibt damit frei, unabhängig und selbstbestimmt. Die postmoderne Philosophie spricht vom „vagabundierenden“ oder „nomadisierenden Subjekt“ und tatsächlich ist diese Lebensform aufregend, spannend und herausfordernd. Auf der anderen Seite haben auch hartgesottene Vagabunden/innen hier und da das Bedürfnis nach Heimat und Geborgenheit. Nicht immer fühlt man sich gleich stark, nicht immer allen Anforderungen gewachsen. Man gibt ungern zu, dass die große Selbstbestimmung häufig durchaus die Last der Entscheidung mit sich bringt: Wer bin ich heute, wer will ich morgen sein? Wer bin ich eigentlich insgesamt?
Solche Fragen sind – entwicklungspsychologisch und philosophisch gesehen – Fragen nach der eigenen Identität. Menschen suchen auch im 21. Jahrhundert den großen Zusammenhang, den Sinn in ihrem Leben. Wie bin ich geworden? Wie setzt sich das Puzzle meines Lebens zusammen? Setzt sich da überhaupt etwas sinnvoll zusammen oder fällt das Mosaik