24/7. Jonathan Crary
Jahrhunderts eine axiomatische Gewissheit zu sein – eine Gewissheit, die immer fraglicher wird. Schlaf ist die allgegenwärtige, aber unbemerkte Reminiszenz einer nie vollständig überwundenen Prämoderne, der ländlichen Welt, die vor vierhundert Jahren zu versinken begann. Sein Ärgernis ist die Einbettung unseres Lebens in den rhythmischen Wechsel von Sonnenlicht und Dunkelheit, Tätigkeit und Ruhe, Arbeit und Erholung, der ansonsten ausgelöscht oder stillgestellt wurde. Natürlich hat auch der Schlaf eine Geschichte wie alles, was als natürlich gilt. Er war nie monolithisch oder unwandelbar, er nahm über die Jahrhunderte und Jahrtausende vielfältige Gestalten und Formen an. Marcel Mauss, der sich in den dreißiger Jahren mit Schlafen und Wachen in seiner Studie über »Techniken des Körpers« beschäftigt hat, zeigt, dass scheinbar instinktive Verhaltensmuster in allen erdenklichen Formen durch Nachahmung oder Erziehung erworben wurden.3 Trotzdem darf man annehmen, dass in der breiten Vielfalt vormoderner Agrargesellschaften entscheidende Merkmale des Schlafs dieselben blieben.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts begann der Schlaf die feste Stellung zu verlieren, die er noch in aristotelischen oder Renaissancekontexten besessen hatte. Seine Unvereinbarkeit mit modernen Produktivitäts- und Rationalitätsbegriffen wurde konstatiert, und Descartes, Hume oder Locke waren nur einige der Philosophen, die den Schlaf wegen seiner Irrelevanz für Verstand und Erkenntnis in Misskredit brachten. Er wurde abgewertet angesichts der Hochschätzung von Bewusstsein und Willenskraft, von Nützlichkeit, Objektivität und eigennütziger Tätigkeit. Für Locke war er eine bedauerliche, wenngleich unvermeidliche Unterbrechung der gottgewollten menschlichen Priorität, arbeitsam und verständig zu sein. Schon im ersten Absatz von Humes Treatise on Human Nature wird Schlaf als Beispiel für Hindernisse der Erkenntnis in einen Topf mit Fieber und Wahnsinn geworfen. Mitte des 19. Jahrhunderts wird das asymmetrische Verhältnis von Schlafen und Wachen in hierarchischen Modellen begriffen, wenn der Schlaf als Regression in einen niederen, primitiveren Zustand gilt, der eine höhere, komplexere Denktätigkeit hemmt. Schopenhauer ist einer der wenigen Philosophen, die diese Hierarchie umkehren, wenn er sagt, dass wir nur im Schlaf zum »eigentlichen Kern des Lebens« vordringen.4
In vielerlei Hinsicht muss man den unsicheren Status des Schlafs auf die Dynamik einer Moderne beziehen, die jede Organisation der Wirklichkeit in binäre Gegensätze zunichte gemacht hat. Die homogenisierende Kraft des Kapitalismus ist unvereinbar mit der inneren Differenzierung in Heiliges und Profanes, Karneval und Alltag, Natur und Kultur, Maschine und Organismus. Alle fortbestehenden Begriffe von Schlaf als etwas Natürlichem werden inakzeptabel. Zwar werden Menschen nach wie vor schlafen. Auch brodelnde Megastädte werden nachts Phasen relativer Ruhe haben. Schlaf ist aber heute eine Erfahrung, die nicht mehr als eine Naturnotwendigkeit gilt. Wie vieles andere auch wird er als eine variable, aber kontrollierbare Funktion aufgefasst, die sich nur instrumentell und physiologisch bestimmen lässt. Neuere Forschungen zeigen, dass die Zahl der Menschen exponentiell zunimmt, die nachts ein- oder mehrmals aufstehen, um ihre Mails oder Daten zu checken. Eine scheinbar unlogische, aber verbreitete Bezeichnung ist der »Schlafmodus« (sleep mode) technischer Geräte. Der Begriff eines energiesparenden Bereitschaftszustands lässt den umfassenderen Sinn von Schlaf zum bloß verzögerten oder verminderten Zustand der Funktionsfähigkeit und Verfügbarkeit werden. Er verdrängt das »Ein/Aus«-Prinzip. Nichts ist mehr richtig »aus«. Nie gibt es einen wirklichen Schlafmodus.
Schlaf ist die irrationale, unannehmbare Bestätigung der Tatsache, dass lebendige Wesen mit den vermeintlich unwiderstehlichen Kräften der Modernisierung nicht grenzenlos kompatibel sind. Es gehört heute zu den Gemeinplätzen kritischen Denkens, dass es keine Naturkonstanten gibt – nicht einmal den Tod, wenn man den Vorhersagen glaubt, dass wir unsere Verstandesdaten bald abspeichern können, um digital unsterblich zu sein. Dass Lebewesen sich von Maschinen durch entscheidende Merkmale unterscheiden, sei eine naive Selbsttäuschung, teilen uns bekannte Theoretiker mit. Wer sollte etwas dagegen haben, wenn man dank neuartiger Pillen hundert Stunden lang durcharbeiten kann? Würde nicht eine flexible und reduzierte Schlafdauer mehr persönliche Freiheit bedeuten, die Möglichkeit, sein Leben mit individuellen Bedürfnissen und Wünschen besser in Einklang zu bringen? Würde nicht weniger Schlaf die Chancen erhöhen, »sein Leben voll auszuleben«? Man könnte einwenden, dass Menschen nachts schlafen müssen, dass unser Körper auf die tägliche Erdumdrehung eingestellt ist und dass in fast jedem Organismus periodische und sonnenreaktive Verhaltensweisen auftreten. Diese Einwände würden vermutlich als New-Age-Spinnereien oder, schlimmer noch, als ominöse Sehnsüchte nach heideggerianischer Erdverbundenheit abgetan. Im neoliberal-globalistischen Denken ist Schlafen nur etwas für Verlierer.
Im 19. Jahrhundert, nach den schlimmsten Auswüchsen der Industrialisierung, kamen Fabrikmanager, wie Anson Rabinbach in seiner Arbeit über die »Ermüdungswissenschaft« gezeigt hat,5 zu der Erkenntnis, dass es profitabler ist, wenn man den Arbeitern kleinere Ruhezeiten gewährt, damit sie auf längere Sicht effizienter und ausdauernder sind. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch und bis in die Gegenwart, mit dem Zusammenbruch kontrollierter oder gemilderter Formen des Kapitalismus in Europa und den Vereinigten Staaten, gibt es für Ruhe und Erholung als Komponenten von Wirtschaftlichkeit und Wachstum keine innere Notwendigkeit mehr. Ruhe- und Erholungszeit ist einfach zu kostspielig geworden, um im heutigen Kapitalismus strukturell möglich zu sein. Teresa Brennan hat für die brutalen Diskrepanzen zwischen den zeitlichen Abläufen deregulierter Märkte und den körperlichen Grenzen der Menschen, die sich auf diese Anforderungen einstellen müssen, den Begriff der »Bioderegulation« geprägt.6
Der Verfall des langfristigen Werts lebendiger Arbeit liefert keinen Anreiz, um Ruhe oder Gesundheit zu wirtschaftlichen Prioritäten zu machen, wie neuere Diskussionen zur Gesundheitsfürsorge zeigen. Es gibt (mit der kolossalen Ausnahme des Schlafs) nur noch ganz wenige bedeutsame Interludien menschlichen Lebens, die nicht als Arbeits-, Konsum- oder Vermarktungszeit ausgefüllt und vereinnahmt wurden. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben in ihrer Analyse des heutigen Kapitalismus die Kräftekonstellation beschrieben, die zur Aufwertung eines ständig sich engagierenden, einschaltenden, interagierenden, kommunizierenden, reagierenden oder mit einer telematischen Umgebung vernetzten Individuums führt. In den globalen Wohlstandsregionen habe sich dies durch eine weitgehende Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Konsum oder zwischen privater und berufstätiger Zeit vollzogen. Im herrschenden »konnexionistischen« Denken würde Aktivität um ihrer selbst willen am höchsten belohnt. »Immer etwas zu tun, etwas zu unternehmen, sich zu verändern – das wird geschätzt, anders als Stabilität, die oft gleichgesetzt wird mit Untätigkeit.«7 Dieses Tätigkeitskonzept beruht nicht etwa auf einer älteren Arbeitsethik. Es ist ein ganz neues Modell normierten Verhaltens, das zu seiner Realisierung Zeitstrukturen im 24/7-Modus verlangt.
Um kurz zurückzukommen auf das oben erwähnte Projekt: Der Plan, riesige Reflektoren in den Orbit zu schießen, damit sie das Sonnenlicht spiegeln und das Dunkel der Nacht eliminieren, hat etwas Skurriles und wirkt wie ein Low-Tech-Relikt aus einer mechanistischen Utopie von Jules Verne oder wie ein Science-Fiction-Roman aus dem frühen 20. Jahrhundert. Tatsächlich waren die ersten Probestarts nicht allzu erfolgreich – das eine Mal wurden die Reflektoren nicht in der richtigen Position ausgespannt, ein anderes Mal verhinderten dichte Wolken über der Versuchsstadt eine überzeugende Demonstration. Die Ambitionen dieses Projekts stehen offenbar in der Tradition panoptischer Praktiken, die in den letzten zweihundert Jahren entwickelt wurden. Es deutet etwa zurück auf die Bedeutung der Beleuchtung in Benthams Modell des Panoptikums, wo ein den Raum durchflutendes Licht, das keine Schatten wirft, für eine lückenlose Beobachtbarkeit und Überwachung sorgt.8 Doch haben seit einigen Jahrzehnten andere Arten von Satelliten Überwachungsoperationen und Datensammlungen viel raffinierter betrieben. Ein modernisierter Panoptismus hat sich über sichtbare Lichtwellen hinaus auf andere Teile des Spektrums erweitert, ganz zu schweigen von allen möglichen nichtoptischen Scannern oder Wärme- und Biosensoren. Das Satellitenprojekt lässt sich vielleicht eher als Fortsetzung von stärker nützlichkeitsorientierten Maßnahmen des 19. Jahrhunderts begreifen. Wolfgang Schivelbusch zeigt in seiner Geschichte der Stadtbeleuchtung, dass die allgemeine Einführung von Straßenlaternen in den 1880er-Jahren zwei miteinander verbundene Ziele erreichte: Sie hat die alten Ängste vor den Gefahren nächtlicher Dunkelheit stark reduziert und gleichzeitig den zeitlichen Rahmen vieler wirtschaftlicher Aktivitäten erheblich vergrößert, mithin auch deren Einträglichkeit.9