Hölle und Paradies. Bettina Baltschev
in Berlin befragt 1983 ein etwas steifer Moderator die betagten Herren Landshoff und Kesten zu ihren Lebensläufen. Um sie herum hocken nur unwesentlich jüngere Herrschaften bei Kaffee und Kuchen, und einige von ihnen würden vermutlich zusammenzucken, forderte man sie auf, sich hier und jetzt zu ihrer eigenen Vergangenheit zu äußern. Die Stimmen schwirren, das Geschirr klappert, so dass man sich fast in einem Loriot-Sketch wähnte, wären Fritz Landshoff und Hermann Kesten nicht zu sehr Gentlemen, um sich von solchen Umständen aus dem Konzept bringen zu lassen. Fritz Landshoff, nun bereits 82 Jahre alt, hellwach, charismatisch, mit eindrucksvoll großem Kopf und voller weißer Mähne, schlägt diplomatisch den Bogen, wenn er erzählt, wie er schon einmal im Kranzler gesessen habe, zusammen mit dem Schriftsteller Georg Kaiser. An das Datum erinnere er sich noch genau, es sei der 30. Januar 1933 gewesen. »Irgendwann ist ein Zeitungsjunge hereingekommen, mit einer Sonderausgabe der B. Z., und der hat gerufen ›Hitler Reichskanzler, Hitler Reichskanzler!‹ Georg Kaiser hat daraufhin nur trocken bemerkt: ›Ein Kegelverein verändert seinen Vorstand.‹«
Mit welcher Wucht dieser Vereinsvorstand sich ins Getriebe der Geschichte werfen würde, darüber können die Männer im Café am Kurfürstendamm zu jenem Zeitpunkt nur mutmaßen, doch die Gedankenspiele über einen Umzug des Verlages hätten schon bald eingesetzt. »An die Schweiz, an Österreich und die Tschechoslowakei haben wir gedacht«, erzählt Landshoff, »schon weil wir uns dort als deutscher Verlag einen ausreichenden Kundenstamm erhofften. Aber an Holland? Keiner von uns hatte an Holland gedacht.«
Eigentlich erstaunlich. Schließlich haben die Niederlande auch Anfang des 20. Jahrhunderts den Ruf eines besonders liberalen und weltoffenen Landes. Doch auf der kulturellen Weltkarte ist dieses Land nur dürftig verzeichnet, die Auswahl an Übersetzungen niederländischer Literatur ist überschaubar, lediglich der Roman Max Havelaar von Eduard Douwes Dekker – veröffentlicht unter dem Pseudonym Multatuli – wird zum echten Verkaufsschlager. Umgekehrt dagegen eilt den deutschen Schriftstellern ihr Ruf voraus. Thomas Mann, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger oder Joseph Roth sind in Amsterdam, Utrecht und Den Haag klingende Namen, sie werden mit Interesse gelesen, ob nun im Original oder in der Übersetzung. Ganz zu schweigen von Karl May und Hedwig Courths-Mahler, die ihr ganz eigenes, noch viel größeres Publikum erreichen. Wie kommt es also zu dieser literarischen Einbahnstraße? Am Selbstbewusstsein der Niederländer kann es nicht liegen, aber vielleicht daran, dass man in Deutschland bei niederländischer Kunst eher an Malerei als an Literatur denkt und dass auch die Holländer selbst ihre Alten Meister höher schätzen als ihre Dichter? Einer der wenigen niederländischen Historiker, die mit ihrem Werk tatsächlich Weltruhm erlangen, hat sich diese Frage auch gestellt. Abgesehen davon, dass der Name Johan Huizingas in jedem Land anders und meistens falsch ausgesprochen wird – »Heusincha« trifft es noch am ehesten –, werden seine Hauptwerke Herbst des Mittelalters und Homo ludens bis heute gelesen. Seine kulturkritischen Texte jedoch kann ich an einem kühlen Herbsttag vor einem kleinen Antiquariat an der Amsterdamer Singel aus der Kiste mit Sonderangeboten fischen. Ganze zwei Euro kosten Huizingas Cultuurhistorische verkenningen (Kulturhistorische Erkundungen) aus dem Jahr 1929, in denen sich unter anderem ein ausführlicher Beitrag zum Einfluss der deutschen Kultur auf die Niederlande findet, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts heißt es da: »Der durchschnittliche wohlhabende Niederländer reiste erst an den Rhein, dann in den Harz, schließlich auch nach Thüringen oder in den Schwarzwald; die Schweiz blieb wenigen vorbehalten. Bis in die letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts hinein, ehe die junge Malerei und Literatur ihnen die Schönheit des eigenen Landes wieder kräftig einflüsterte, blieben für die Niederländer ›die Berge‹, und das waren die deutschen Berge, das Ideal der Naturschönheit. Die Generation um 1860 kannte Schiller, und vor allem Heine, besser als die eigenen Dichter, und sie interessierte sich mehr für Wasserfälle als für das Mysterium des holländischen Lichts.«
In Emanuel Querido, dem Verleger, der Nico Rost zu Fritz Landshoff schickt, muss etwas von dieser Haltung nachklingen. Ende des 19. Jahrhunderts aufgewachsen und dreißig Jahre älter als Landshoff, spricht Querido selbst zwar nur wenig Deutsch, doch seit der Gründung seines niederländischen Verlages im Jahr 1915 hat er immer wieder Übersetzungen deutscher Romane herausgegeben, von denen nicht wenige zu Bestsellern wurden. Kaum dass »seine« deutschen Autoren im eigenen Land nicht mehr erscheinen dürfen, reagiert er deshalb mit einem ihm völlig logisch erscheinenden Schritt, nicht ahnend, dass der Amsterdamer Verleger Gerard de Lange zur gleichen Zeit dieselbe Idee hat.
»Keiner von uns hatte an Holland gedacht«, sagt Fritz Landshoff 1983 im Café Kranzler und fügt hinzu: »Es sind die holländischen Verleger gewesen, die die Initiative zu der Gründung dieser Verlage genommen haben.«
Im April 1933 reist Fritz Landshoff also im Nachtzug nach Amsterdam, und man kann nur darüber spekulieren, was im Kopf des 31-Jährigen vorgeht. Vermutlich versucht er zu lesen, doch schweifen seine Gedanken immer wieder ab, weil er sich ausmalt, wie die nächsten Monate und Jahre seines Lebens verlaufen könnten. Auch Fritz Landshoff muss den Gendarmen an der deutsch-niederländischen Grenze seinen Reisepass zeigen, aber niemand hält ihn auf, niemand holt ihn aus dem Zug. Noch hat die große Flucht aus Deutschland nicht begonnen und hegen die niederländischen Behörden keinen Verdacht, dass hier einer einreisen könnte, der nicht in absehbarer Zeit auch wieder ausreist. Als zwischen Apeldoorn und Hilversum die Sonne aufgeht, treten vor dem Fenster des Nachtzugs die Konturen von Feldern und Städten hervor, langsam bekommt das Land Farbe. Vielleicht trinkt Fritz Landshoff nun einen Morgenkaffee im Speisewagen der Mitropa, vielleicht ist er müde und wach zugleich, nervös, freudig erregt, so wie man sich halt fühlt, wenn man ins Ungewisse reist. Schließlich fährt der Zug in den Amsterdamer Hauptbahnhof ein, Centraal Station, rechts liegt der Hafen, in dem das Tagwerk der Arbeiter bereits begonnen hat, links die Stadt, wo es etwas länger dauert, bis die Angestellten und Kaufleute ihre Betriebstemperatur erreichen.
Es klingt wie die Szene aus einem Roman, und tatsächlich: Wer die deutsche Exilliteratur, die in den 1930er Jahren im Querido Verlag erscheint, aufmerksam liest, dem begegnen immer wieder ähnliche Szenen – Menschen, die in Züge steigen, in Zügen sitzen, die an Bahnsteigen warten, winken, weinen. D-Zug dritter Klasse von Irmgard Keun ist das einzige Buch, das komplett in einem Eisenbahnabteil spielt, ansonsten ist es vor allem ein großes Kommen und Gehen, ein dauerndes Abschiednehmen und Wiedersehen, das die Exilschriftsteller zwangsweise selbst erlebt haben und das sie in ihren Büchern beschreiben. So erzählt in Kind aller Länder, einem Roman ebenfalls von Irmgard Keun, das zehnjährige Mädchen Kully von den Reisen mit ihrer Mutter quer durch Europa. Ständig fahren die beiden dem Vater nach oder dem Vater voraus, der als rastloser schreibender Emigrant unterwegs ist. Nach Brüssel verschlägt es sie, nach Paris, nach Italien und auch nach Amsterdam, wo – nicht ganz zufällig – der Verleger von Kullys Vater lebt, ein gewisser Herr Krabbe. »Alles ging sehr schnell, wir sind in einem Ruck nach Amsterdam gefahren, weil wir keine Zeit hatten und kein Geld, um die Reise zu unterbrechen. Abends kamen wir in Amsterdam an und wurden von Herrn Krabbe abgeholt. Mein Vater hat sich noch auf dem Bahnsteig alles Geld von ihm geben lassen, das er bei sich hatte.«
In Lion Feuchtwangers Roman Exil aus dem Jahr 1940 kreisen die Geschehnisse um die Pariser Nachrichten und das Schicksal des Journalisten Friedrich Benjamin. Auch er nimmt den Nachtzug von Paris nach Basel, um dort einen Informanten zu treffen: »Er zieht die Beine hoch. Da liegt er wie ein Embryo im Mutterschoß. ›Gute Nacht‹, wünscht er sich und schläft ein, jenes weise, resignierte, selbstkennerische, verschönende Lächeln um die Lippen. Der Zug schaukelt ihn, er schläft sanft und tief, ein wenig schnarcht er. So also fährt er dahin, durch die Nacht, der Südostgrenze zu, der vermeintlichen Sicherheit entgegen, in sein Schicksal.« Ein fatales Schicksal: Friedrich Benjamin wird in der Schweiz von Nazis entführt und nach Deutschland verschleppt, wo er in einem Konzentrationslager landet.
In der Wirklichkeit dagegen ergeben sich hoffnungsvolle Möglichkeiten. Fritz Landshoff durchschreitet die Bahnhofshalle der Centraal Station – wir unterstellen ihm, dass er keine Muße hat, den imposanten roten Backsteinbau näher zu betrachten – und hat nun die Wahl. Er kann in die Tram steigen, zum Spui fahren, dem quirligen kleinen Platz im Süden der Innenstadt, und die letzten Meter zum Verlaghaus an der Keizersgracht laufen. Oder er geht den ganzen Weg zu Fuß, nutzt die Chance, nach der langen nächtlichen Reise die Glieder zu strecken und sich der erwachenden Stadt hinzugeben.