Die Tränen haben nicht das letzte Wort. Josef Dirnbeck

Die Tränen haben nicht das letzte Wort - Josef Dirnbeck


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zur sprichwörtlichen Redewendung geworden. Frauen, denen es so geht, wie es der jüdischen Stammmutter gegangen ist, hat es immer wieder gegeben. Mütter, die um ihre Kinder weinen und sich nicht trösten lassen, kann man auch heute noch antreffen. Zum Beispiel auf einem katholischen Friedhof.

      Ein kleiner Leichenzug bewegt sich zu einem kleinen Grab. Auch der Sarg ist klein. In ihm liegt ein Kind. Es hat nur acht Monate gelebt. „Plötzlicher Kindstod“, lautet die Diagnose.

      Plötzlicher Kindstod

      Die junge Frau, die hinter dem Sarg geht, ist untröstlich. Sie kann und will nicht begreifen, dass sie ihr Kind nun für immer und ewig hergeben soll. Sie fragt sich: „Warum musste dieses Kind sterben? Wie konnte Gott das zulassen?“ Und sie stellt die Frage: „Was ist das für ein Gott, der so etwas zulässt?“

      Die trauernde Mutter, die hinter dem kleinen Sarg geht, hat sich ein besonderes Ritual ausgedacht, um sich von ihrem toten Kind zu verabschieden. Sie hat die Kleider und die Spielsachen des Kleinen auf ein Kissen gelegt und trägt sie vor sich her, um sie ihm mit ins Grab zu geben. Alle, die es miterleben, sind tief erschüttert. Man kann sich kaum vorstellen, dass das Leid, das diese junge Frau durchmacht, noch zu steigern ist. Und doch! Der Pfarrer bringt es fertig. Der Geistliche, der das Begräbnis hält, sorgt dafür, dass die Frau vor dem kleinen Sarg noch heftiger zu weinen beginnt.

      Der Priester handelt keineswegs in böser Absicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist ihm in diesem Moment einfach eine Fehlleistung unterlaufen, ein Versprecher, wie er jedem einmal passieren kann. Oder aber er war nicht richtig informiert worden und hatte sich etwas Falsches auf seinem Zettel notiert. Er ahnt gar nicht, was er mit seinen Worten anrichten wird. Er verkündet nämlich der trauernden Gemeinde, dass das Kind, das heute begraben wird, „leider nur acht Jahre“ gelebt hat.

      Acht Jahre statt acht Monate – dieses Wort fährt der Mutter wie ein Schwert durch die Seele. „Ja, wenn der kleine Michael wenigstens acht Jahre leben hätte dürfen“, denkt sie bitter, „das wäre ein Trost!“ Aber nicht einmal ein Jahr war ihm gegönnt. Schon nach acht Monaten war es mit ihm zu Ende. Und wiederum erfüllt sich das uralte Wort des Propheten: Eine Mutter weint um ihr Kind und will sich nicht trösten lassen.

      Mit der Trauer sind nicht nur Mütter vertraut. Mit diesem Problem haben es alle Menschen zu tun. Ausnahmslos alle. Keiner kann sich ihm entziehen. Früher oder später ist jeder damit konfrontiert. Jeden Augenblick kann es aktuell werden. Von heute auf morgen kann es mich treffen. Sei es in der Form, dass ich selber der Trauernde bin und den Verlust eines Menschen zu beklagen habe, der mir viel bedeutet hat. Oder sei es, dass ein Mensch, der mir nahesteht, einen solchen Verlust erlitten hat, und ich nun gefordert bin, ihn in seiner Trauer zu begleiten, ihm beizustehen, ihm zu helfen, so gut es geht – falls es überhaupt geht.

      Oft erlebt man in solchen Momenten eine große Hilflosigkeit. Man möchte gern helfen, fühlt sich aber selber genauso hilflos wie die Person, der man helfen will. Man weiß nicht, was man sagen soll. Es verschlägt einem die Sprache. Es bleibt einem im wahrsten Sinne des Wortes „die Spucke weg“.

      Was sagt man zu einem Menschen, der einen tragischen Schicksalsschlag erlitten hat? Womit kann man ihn trösten? Ist es überhaupt möglich, mit Worten Trost zu spenden?

      Das waren nur einige der Fragen, die Martin Gutl und mich beschäftigt haben, als wir seinerzeit darangegangen sind, gemeinsame Texte zu schreiben. Gutl war eben erst Studentenseelsorger geworden, und ich – der um sechs Jahre Jüngere – befand mich in der Schlussphase meines Studiums, da lernten wir einander kennen. Bald stellte sich heraus, dass wir etwas Bestimmtes gemeinsam hatten: Jeder von uns hatte begonnen, Texte ähnlicher Art über Themen ähnlicher Art zu schreiben – und so kamen wir auf die Idee, wir sollten versuchen, ein Buch miteinander zu schreiben.

      Und jetzt?

      Einer der ersten Texte, die auf diese Weise entstanden sind, bezog sich auf einen konkreten Fall – auf den plötzlichen Tod einer jungen Frau.

      Jung war sie.

      Vital war sie.

      Intelligent war sie.

      Tolerant war sie.

      Hilfsbereit war sie.

      Lehrerin war sie.

      Studentin war sie.

      Mutter war sie.

      Christin war sie.

      In einer großen Kurve

      stießen die Autos zusammen.

      Nach ein paar Stunden im Spital

      war sie tot.

      Achtundzwanzig Jahre alt

      war sie.

      Und jetzt?

      Martin Gutl hatte die Tote, von der in diesem Text die Rede ist, persönlich gekannt. Er erzählte mir von dieser achtundzwanzig Jahre alten Familienmutter, die bereits im Berufsleben stand und nun auch noch ein Studium angefangen hatte. Aber jetzt war ihr Leben plötzlich zu Ende, weil sie das Opfer eines Verkehrsunfalls wurde und ihren schweren Verletzungen erlag, nachdem man sie aus dem zerbeulten Autowrack geborgen und ins Krankenhaus verfrachtet hatte. Gutl war tief erschüttert. „Es ist schrecklich, wenn du so etwas erlebst“, sagte er, „wenn du sehen musst, wie ein viel versprechendes Leben mit einem Schlag ausgelöscht worden ist.“

      Nun ist es ja keineswegs so, dass solche Geschichten eine Seltenheit wären oder dass uns Vorfälle dieser Art immer im gleichen Ausmaß nahegehen würden. Tag für Tag sterben Menschen, die Opfer von Unfällen geworden sind – und nicht jedes Mal reagieren wir mit gleicher Betroffenheit. Außerdem gibt es unzählige Fälle, die weitaus tragischer und spektakulärer verlaufen. Warum ging uns dieser Unfalltod damals so sehr unter die Haut?

      In erster Linie natürlich wegen der persönlichen Bekanntschaft, die zwischen dem Studentenseelsorger und der tödlich Verunglückten bestand. Hinzu kam, dass wir selber in jener Zeit ebenfalls noch so jung waren wie die Verstorbene oder – wie in meinem Fall – noch nicht einmal so alt. Der Gedanke lag also nahe, dass wir uns sagten: Das, was ihr passiert ist, hätte genauso gut jedem von uns passieren können.

      Doch auch solche Überlegungen sind nichts Außergewöhnliches. Eigentlich denkt man so etwas in solchen Situationen ganz automatisch. Der springende Punkt war, dass es hier etwas gab, das uns theologisch herausforderte.

      Die Frage nach dem Sinn

      Bei diesem Verkehrsunfall war eine offenbar besonders charismatische Person ums Leben gekommen. Eine Frau, die ein engagiertes Mitglied in ihrer Pfarrgemeinde gewesen war und die immerzu vor neuen Ideen sprühte. Eine Aktivistin, die von den Idealen des Zweiten Vatikanischen Konzils beseelt war und die bereits in jungen Jahren sehr viel Gutes für die Kirche gewirkt hatte. „Laienapostolat, wie man es sich als Priester nicht besser wünschen kann“, sagte Gutl.

      Und diese Frau war nun „vom irdischen Leben in die ewige Heimat abberufen“ worden. So stand es auf der Traueranzeige geschrieben. Das provozierte die Frage, wie um alles in der Welt der liebe Gott auf die Idee gekommen sein mochte, ausgerechnet ein Talent wie dieses „abzuberufen“ – eine so mustergültige Gläubige, die er doch erst vor kurzer Zeit dazu berufen hatte, für ihn etwas zu tun, und zwar mit großem Erfolg.

      Diese Tote, die nun auf dem Friedhof ruhte, hätte gut und gern noch ein paar Jahrzehnte lang segensreich in dieser Welt wirken können, um – biblisch gesprochen – am Aufbau des Reiches Gottes mitzuhelfen. Welchen tieferen Sinn sollte es haben, dass Gott gerade jemanden, der so hoch motiviert war, kurzerhand aus dem Verkehr zog?

      „Kein Firmenchef, dem am Wohl seines Unternehmens etwas liegt, würde so etwas tun“,


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