Kapitäne!. Stefan Kruecken
Meter hoch steht es. Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, woran genau ich dachte. Ob ich überhaupt etwas dachte. In solchen Momenten übernimmt der Instinkt oder der Wille, überleben zu wollen. Ich muss versuchen, aus dem Stuhl rauszukommen und den Trawler vor die See drehen, bevor der nächste Einschlag kommt. Alle elektrischen Geräte fallen in nur kurzen Zeitabständen aus.
Dies ist die bedrohlichste Situation, seit ich auf See bin.
Mein Sohn und der Bestmann2 versuchen, die ein Deck tiefer liegende Brückentüre zu öffnen, um nach mir zu sehen. Viel Hoffnung haben sie nicht, mich noch lebend anzutreffen. Mit äußerster Kraftanstrengung stemmen sie sich gemeinsam gegen die Tür. Es gelingt, sie gegen den Druck des Windes und des herabströmenden Seewassers zu öffnen.
Ich ziehe mich an den Armlehnen nach unten. Unter dem Brückenpult finde ich Schutz. Das Brüllen des Sturms dringt herein. Es ist eiskalt. Das Wasser, das auf der Brücke steht, hat null Grad. Die Instrumente sind nun allesamt tot, bis auf die Handsteuerung, doch das Schiff bleibt auf Kurs. Wir sind eine erfahrene Crew. In der Maschine hat der Chief mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Nach dem schweren Seeschlag schaltete er die Brückenelektronik in die Maschine um. Somit war die Gefahr von Kurzschlüssen auf der Brücke vorerst gebannt. Unser Trawler wird nun aus dem Maschinenraum gefahren.
Auf der Brücke gibt es eine batteriebetriebene Nottelefon-Anlage, die im Brückenpult, direkt am Jagdsitz platziert ist. Eine direkte Verbindung in den Maschinenraum. Mein 1. Offizier steht nun neben mir und übernimmt per Nottelefon die Kommunikation mit dem Maschinenleitstand, während ich das Handruder bediene. Die Notrudersteuerung im Maschinenraum ist von einem Matrosen und dem 2. Offizier besetzt. Wir schreien uns an. Sonst können wir uns im Brüllen des Sturms nicht hören. Es ist auch schwierig, Luft zu bekommen.
Wir müssen das Schiff möglichst schnell aus dem Wind und den Wellen herausbekommen. Wir müssen unbedingt einen zweiten Seeschlag vermeiden. Die Gefahr, dass noch mehr Wasser in die offene Brücke eindringt, ist einfach zu groß. Knapp vier, vielleicht fünf Minuten wird das Manöver dauern. Höchste Gefahr für den Trawler, denn in dieser Zeit liegen wir quer zur See und sind den Schlägen der Brecher schutzlos ausgeliefert.
Wird noch eine solche große See brechen? Das wäre das Ende. Uns bleibt keine andere Wahl.
Langsam dreht der Trawler, von Hand gesteuert. Ich beobachte das Grau und die Sturmseen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Wir bekommen in einigen Momenten Schlagseite, starke Schlagseite. Ich fürchte, dass wir zu viel Wasser an Deck nehmen über die Heckslippe, über die wir sonst den Fang an Deck ziehen. So viel, dass es nicht durch die Speigatten ablaufen kann.
Doch wir schaffen es. Wir fahren nun vor dem Wind und mit den Wellen. Was nicht einfach ist, denn wir müssen genau das richtige Tempo erwischen. Sind wir zu langsam, überrollen uns die Wellen von achtern. Sind wir zu schnell, tauchen wir mit dem Bug in die See. Unser Vorhaben ist es, den Kern, dass Zentrum des Orkantiefs, zu erreichen, das im Süden von uns liegt.
Die Situation hat sich nun etwas entspannt, aber überstanden haben wir die Lage noch lange nicht.
Wir fahren nun mit dem Wind und den Wellen, was die Lage etwas beruhigt. Doch wir müssen das Loch verschließen, wo früher das Fenster war. Eine so große Ersatzscheibe ist nicht in Reserve an Bord. Wir ersetzen sie mit Aluminiumplatten, die aus dem Fischnetzwindenfahrstand heraus geflext werden. Es sind wirklich fähige Handwerker an Bord. Improvisieren ist alles, wenn man draußen ist auf See. Im Falle eines größeren Problems muss man sich selbst helfen können. Die Aluplatten befestigen wir durch ein paar Bohrungen und Winkeleisen im Rahmen. Als Dichtung dienen alte Lappen. Das Provisorium hält.
Wir kommen im Zentrum des Tiefdruckgebiets an und steuern in den Süd-West-Wind-Sektor. Mit der Zuggeschwindigkeit des Zentrums dampfen wir nach Nordosten, Richtung Island. Das Schiff wird mittlerweile auch aus dem Maschinenraum gesteuert, weil auch die manuelle Steuerung auf der Brücke ausfällt. Ich bleibe auf der Brücke, in Wechselwache mit meinem Sohn, um Ausguck zu halten und die Kommunikation mit dem Maschinenleitstand aufrechtzuerhalten. Knapp sechshundert Seemeilen. Das ist kein Vergnügen bei diesem Wetter, doch größere Probleme haben wir keine mehr. Es ist oft eben auch die Erfahrung, die einen rettet. Und ein wenig Glück.
Ein Schlepper nimmt uns vor Reykjavík auf den Haken und schleppt uns ein. Wir haben es wieder geschafft.
Kapitän eines Trawlers zu sein, bedeutet für mich, die letzte Freiheit zu haben. Der Kapitän eines Frachtschiffs nutzt die See als Wegstrecke. Er bringt Container von A nach B und wird heutzutage in jeder Sekunde überwacht. Jede Bewegung des Schiffs, jede Tempoänderung wird genau registriert und kann sofort hinterfragt werden. Sicherlich haben auch die Kapitäne der Handelsschifffahrt ihre Sorgen, Probleme und Nöte. Ich möchte ihre Leistungen auf keinen Fall schmälern.
Ich bin Kapitän eines Trawlers, das ist etwas ganz anderes. Sobald ich das Fanggebiet erreicht habe, hängt alles von mir ab. Ich habe meinen Auftrag. Wie ich diesen Auftrag erfülle, ist alleine meine Sache. Es hängt von meiner Erfahrung, meiner Disziplin und dem Blick aufs Echolot ab. Keiner macht mir Vorschriften. Die See ist keine Wasserstraße. Ich arbeite mit der See.
Ich habe ein unromantisches Verhältnis zur Fischerei: Sie ist eine Notwendigkeit. Ich will Geld verdienen. Mehr als 50 Jahre fahre ich nun zur See, mein ganzes Leben. Dabei lief der Start nicht grade klassisch. Mein Vater war Beamter in Mülheim a. d. Ruhr. Ich sah den Schiffen auf der Ruhr hinterher, besonders denen der „Weißen Flotte“ in Essen-Kettwig. Meine Eltern waren wenig begeistert von meinem Berufswunsch, doch sie erlaubten es mir. Mein Wunsch war einfach zu stark.
Ein Job an Land? Unvorstellbar. Das kam nie in Frage.
Ich war 14 und heuerte als Schiffsjunge in der Erzfahrt an. Auf dem Rhein von Rotterdam nach Basel, immer wieder den Fluss rauf und runter. Es gefiel mir, doch noch mehr gefiel mir, was ich im „Vlag en Wimpel“ beobachtete, einer legendären Seefahrerbar im Hafen von Rotterdam. Die Besatzung eines niederländischen Kutters warf mit Gulden nur so um sich. Große Geldbündel in den Taschen. Auch mir finanzierten sie einige Getränke in dieser Nacht.
Die letzte Überzeugungsarbeit lieferten die Groschenromane von Jerry Cotton, in denen ich Anzeigen für die Hochseefischerei entdeckte: „Die letzten Wikinger fahren in der Hochseefischerei“. Ich meldete mich in Cuxhaven und kam auf den Seitenfänger Minden. Ich war zwar erst 18, doch harte Arbeit kannte ich von meiner Lehrzeit auf dem Fluss.
Viele Jahrzehnte lang war ich auf dem Nordatlantik unterwegs. Grönland, Island, Spitzbergen, zwischendurch fuhr ich für eine Reederei auf den Färöern. Auf diesem Trawler-Purse Seiner (Ringwaden) gab es sogar eine Orgel an Bord, weil die strenggläubigen Inselbewohner auf Kirchenmusik standen. In Alaska und Kamtschatka habe ich auch gefischt, das war mein Abstecher auf den Pazifik.
Was ich von alten Kapitänen lernte und mir abschaute, war ihre Disziplin. Wer später etwas wurde, der ging nach der Wache nicht gleich in die Koje, sondern notierte noch, was er wo in welcher Tiefe fing. Eine persönliche Landkarte, wo man Fisch findet. Diese Aufzeichnungen sind bares Geld wert. Ich habe daheim ein ganzes Regal mit Notizheften und handgefertigten Seekarten.
Informationen auf See zu erhalten, das kann man vergessen. Fischer lügen wie gedruckt, über Funk sowieso. Das ist gar nicht böse gemeint, das ist einfach so. „Mensch, hier ist gar nix los“, kann bedeuten, dass die Hols kaum an Bord zu bekommen sind. Gibt jemand durch, dass er zufrieden ist, werde ich auch misstrauisch. Unter befreundeten Kollegen hilft man sich, keine Frage. Dann hatte man vor einer Reise am Tresen einer Hafenkneipe bestimmte Codes ausgemacht. An einen erinnere ich mich noch: „Fritz schlägt Emil“ bedeutete, dass es ein gutes Revier war.
Im Laufe der Jahre erlebt man auch Dinge, die für Adrenalinschübe sorgen. Auch das gehört zum Beruf. Einmal habe ich einen Helikopter aus der See gefischt, das ist kein Seemanngarn. Das Ding war in der Nordsee abgestürzt, nahe der norwegischen Egersund-Bank und fiel keine 200 Meter entfernt an meiner Backbord-Seite