Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3). Judith Kilnar

Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3) - Judith Kilnar


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beiseite. Körperliche Wunden und Schmerzen waren nichts gegen seine inneren Schnitte, Risse und Schrammen.

      Doch schon sehr bald würde er seine Meinung ändern müssen. Genau das wurde ihm klar, als sich eine Gänsehaut über seinen Körper zog, denn dieser hatte bereits etwas vernommen, was sein Verstand noch nicht realisiert hatte. Als das, was um ihn herum geschah, in seinen Geist vordrang, siegte die Resignation. Der Junge wehrte sich nicht. Sein Körper hatte sich schon in Hoffnungslosigkeit fallen lassen, als er das Knirschen von Erde und die Stimmen vernommen hatte.

      »Auf dem Scheiterhaufen sollst du brennen, Diener des Teufels!«, schienen ihm die Wände zuzuflüstern.

      Es war nicht menschlich. Es sollte nicht menschlich sein. Nicht existent, nicht vorhanden, nicht spürbar. Doch das war es. Es war ein Schmerz, den man mit nichts vergleichen konnte, ein Schmerz, der jeden anderen zu einer Streicheleinheit machte. Einer, dem man natürlich den Tod vorziehen würde. Lieber den Tod als weiterhin solche Qualen erleiden.

      Doch das Krächzen aus der ausgetrockneten Kehle des Jungen ging in dem Zischen der Flammen, dem Knacken des morschen Holzes unter. Die orangerote Front türmte sich höher und höher, verdeckte nach und nach die Sicht auf den Sünder. Und während die Schaulustigen nicht recht wussten, welche Reaktion angebracht war, geschah, verborgen hinter der Feuerwand, etwas überaus Sonderbares …

      Der gefesselte Körper des Jungen stand in Flammen, einzelne Glieder zerfielen bereits zu Asche, und plötzlich passierten zwei entscheidende Dinge unmittelbar nacheinander.

      Zuerst stockte etwas in dem Jungen. Es war das Herz, das langsamer wurde, schließlich stehen blieb und den Jungen scheinbar erlöste.

      Einen Wimpernschlag später war jedoch der gesamte Körper verschwunden, ebenso wie jeder einzelne Ascherest.

      Etwas äußerst Seltenes war geschehen: Ein Augenschön hatte seine Erste Fahrt angetreten.

      Eine der Ersten Fahrten, die gleichzeitig ein Wunder der Magie veranschaulichten: Ein bereits zerfallener Körper heilte, und längst tote Zellen bekamen eine zweite Chance auf Leben. Auf ein besseres Leben.

      Als geschütztes Augenschön, das seine Vergangenheit ablegen konnte, die Schuld, den Schmerz und in diesem Fall … auch den Namen.

      Er würde sich fortan nach dem Himmel nennen, den er so lange nicht zu Gesicht bekommen hatte.

      Sky, ein Schleifenwesen.

      Aus den Lexika der Augenschönen

      (Band 4, Kapitel 16)

      Eines der größten Rätsel der Natur der Augenschönen mag wohl das erste, menschliche Leben und seine Verbindung zum neuen Leben als magisches Schleifenwesen sein.

      Die Gedanken und Erinnerungen aus dem ersten Leben gehen häufig durch den längeren Aufenthalt in den Inneren Schleifen verloren. Abhilfe dagegen konnte bereits die Zusammenarbeit mit den Dromeden schaffen, wodurch auch die Entwicklung des Brunnens mit dem »Wasser der Erinnerungen« möglich war. Was allerdings weiterhin unklar und rätselhaft erscheint, ist die Frage, warum manche Augenschöne ohne jegliche Hilfsmittel starke Verbindungen zu ihrem ersten Leben haben, sich nahezu einwandfrei detailreich erinnern können. Vermutungen diesbezüglich beziehen sich beispielsweise auf den Gedanken, dass besonders wichtige, einprägsame Augenblicke, Erlebnisse und Lebensabschnitte aus dem menschlichen Leben auch im Augenschönleben in den Inneren Schleifen erhalten bleiben. Wo dies doch nachvollziehbar erscheint, erklärt es immer noch nicht zur Genüge, weshalb sich manche Augenschöne an fast ihr gesamtes menschliches Leben erinnern können.

      Sky Silver, der sich seinen eigenen Aussagen zufolge an beinahe jede Einzelheit seines ersten Lebens erinnern kann, meinte zu diesem Thema abschließend: »Die Erinnerungen können hilfreich und erleichternd sein, doch manchmal sind sie eine unglaublich schwere Last. Manches würde ich wirklich lieber vergessen.«

      Sky Silver hat während seines ganzen Lebens in den Inneren Schleifen kein einziges Mal Wasser vom »Erinnerungsbrunnen« konsumiert, gilt aber als einer der Augenschönen mit dem besten Gedächtnis. […]

      Dass Sky Silver in seinen Aussagen nicht lügt, beweisen beispielsweise seine botanischen Kenntnisse, die er sich in seinem menschlichen Leben in den Äußeren Schleifen aneignete und in den Inneren Schleifen immer noch besitzt. […]

      Die anfänglichen Vermutungen bezüglich der wichtigen und einprägenden Ereignisse teilt Sky Silver, und er fügte, von seinem Leben ausgehend, den Punkt hinzu, dass das menschliche Leben eines sich erinnernden Augenschöns wohl von starken Emotionen geleitet war, die wiederum das Gedächtnis nachhaltig in den Lebensmomenten gefangen hielten.

      Ob das einwandfreie Erinnern nun Segen oder Fluch ist, mag von Außenstehenden schwer zu beurteilen sein. Betroffene allerdings geben ausnahmslos an, dass es sich um etwas Negatives handelt.

      Aus dem Bericht:

      Das erste, menschliche Leben von M. Reed

      Kapitel 1

      Schwankend landete ich in weichem Gras, blieb diesmal allerdings stehen und fiel nicht hin.

      Atlas materialisierte sich neben mir, ließ meinen Arm los und sah sich suchend um. »Hier müssten wir zwischen Ost- und Westwiese sein. Dort drüben ist der Hof.«

      Ich wollte nicken, als mich plötzlich ungeahnte Übelkeit übermannte. Entsetzt presste ich mir gerade noch die Hand vor den Mund, als ich mich auch schon ins Gras neben mir übergab. Alles drehte sich um mich, während ich Augenblicke später keuchend dastand und nach Luft rang.

      »Was ist nur mit meinem Körper los?«, fragte sich eine leise Stimme, der es jedoch nicht gelang, die Leere in mir zu übertönen.

      Auf einmal tauchte eine Hand neben mir auf, die ein Tuch hielt, und eine andere strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich wich zurück, nahm Atlas dennoch das Tuch ab und wischte mir über den Mund. Gleichzeitig richtete ich mich auf und versuchte, seinem besorgten Blick auszuweichen. Er fragte sich bestimmt ebenso wie ich, was zum Teufel mit mir los sein mochte.

      Zum Glück wurden wir in diesem Moment von lauten Stimmen abgelenkt, die verhinderten, dass Atlas seine Gedanken aussprechen konnte. Ich ging ein paar Schritte zur Seite und stellte mich leicht versetzt hinter ihm auf. Schon wieder war mir übel, diesmal jedoch nicht, weil ich mich gleich hätte übergeben müssen, sondern vor Angst. Angst davor, wie die vielen Leute, die auf uns zukamen, auf all meine Veränderungen reagieren würden.

      Als sie näher kamen, erkannte ich, dass die Hälfte der Neles, bestehend aus Tatjana und Mr Starrson, vorneweg schritten, dicht gefolgt von einer großen Gruppe Augenschöner.

      Meine Knie begannen zu zittern, die Erschöpfung übermannte mich, während aus dem Stimmengewirr einzelne Sätze zu uns drangen.

      »Sie sind zurück! Sie sind zurück!«

      »Lucy? Atlas? Verdammt, bin ich froh!«

      »Ihr lebt … Zum Glück lebt ihr.«

      »Was ist passiert? Wann ist der Kampf?«

      »Herrgott, endlich!«

      »Dort sind sie! Dort sind sie!«

      Je näher die Rufe kamen, umso stärker wuchs das ungute Gefühl in mir. Würden sie enttäuscht sein ‒ sowohl von unseren Neuigkeiten als auch von uns selbst?

      Die beiden Neles erreichten uns als Erste – mit erleichtertem Lächeln auf dem Gesicht. Die übrigen Augenschönen plapperten immer noch wild durcheinander, bis sie nur noch etwa zwei Meter von uns entfernt waren, als unvermittelt ein Ruck durch die Gruppe ging.

      »Ihr seht furchtbar aus! Was ist passiert?«

      »Verdammte Schleifensterne! Ihr seid ja schrecklich zugerichtet!«

      »Wurdet ihr in einen Kampf mit den Nächtlichen Geschöpfen verstrickt?«

      »Wo ist … wer ist … Lucy?«

      Das war die erste Bemerkung, die


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