Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


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      Laura Wille

      Engelszwillinge

      Für meine (chaotische) Familie

       Prolog

      Solange er sich erinnern konnte, war die Suche nach den beiden Mädchen alles, was seinem Leben einen Sinn gab. Doch sie zu finden, war, als suche man das Licht in endloser Finsternis.

      Viele Jahre waren vergangen, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf ihren Aufenthalt. Dabei waren diese Mädchen keineswegs gewöhnlich. Sie waren etwas Besonderes. In ihnen schlummerte eine ungeheure Macht, die es zu erwecken galt. Eine Macht, von der sie aber nicht einmal selbst etwas wussten. Und doch würde es immer auf das Gleiche hinauslaufen – die beiden würden aufeinandertreffen und sterben.

      Sie zu kontrollieren, um mit ihrer Macht alles wieder in Ordnung zu bringen, würde nie funktionieren. Im Grunde war diese Mission ein sinnloses Unterfangen. Lucien war sich dessen bewusst, als er mit langsamen Schritten durch den stockfinsteren Wald ging, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

      Es war so still um ihn herum, als würde selbst die Zeit stillstehen. Der Vollmond erhellte den sternenlosen Nachthimmel, und ein eiskalter Wind blies ihm durch das blonde Haar. Irgendwo im Geäst heulte eine Eule.

      Manchmal fragte er sich, ob es nicht besser war, diese verdammte Mission abzubrechen. Sie dauerte schon viel zu lange an, und eine Garantie, dass sie in naher Zukunft erfolgreich sein würde, gab es nicht. Doch jedes Mal, wenn ihn solche Zweifel umtrieben, vernahm er in Gedanken die resolute Stimme seiner Königin. Ihr unausweichlicher Befehl, dem er nie widersprechen könnte. Er würde erst ruhen, wenn er die Mission beendet hatte. Er durfte sich keine Fehler erlauben. Es musste einfach funktionieren – auch wenn die Chancen sehr gering waren, dass diesmal etwas anders sein würde. Und doch … es musste eine Möglichkeit geben, ihren Tod zu verhindern, sodass beide überleben und ihrer Bestimmung folgen konnten.

      Es war kurz nach Mitternacht, als Lucien den Treffpunkt auf der Lichtung im dunklen Wald unter der alten Eiche erreichte. Oscuro erwartete ihn bereits.

      Genau wie Lucien mochte man auch ihn für einen Menschenjungen von siebzehn Jahren halten – wenn sie denn Menschen wären. Doch die beiden Jungen hatten aufgehört zu altern, als die Königin sie mit dem äußeren Erscheinungsbild von Teenagern für die Mission zur Erde geschickt hatte. Oscuro und er teilten ein gemeinsames Geheimnis, das unter gar keinen Umständen gelüftet werden durfte: Sie waren als Menschen getarnte Engel.

      Lucien zählte schon gar nicht mehr, wie oft er die Gegend hatte wechseln müssen, damit sein wahres Wesen nicht erkannt wurde, denn Menschen waren schlau. Oscuro hatte sich in der Vergangenheit darüber beschwert, wie armselig und erbärmlich es doch sei, zwischen ihnen unterzutauchen und nach zwei besonderen Mädchen zu suchen, die überall und nirgendwo in der Menschenwelt zu finden sein konnten. Früher hätte Lucien ihm niemals zustimmen wollen, doch allmählich kam auch er sich wie ein Idiot vor. Die lange Suche war nervenzerreißend und die Chancen standen nicht einmal fünfzig Prozent, dass es klappte und die Mission Erfolg haben würde.

      Oscuro war einen halben Kopf größer als Lucien. Er trug ein schwarzes Shirt und darüber eine halb zugezogene dunkle Sweatshirt-Jacke. Seine rabenschwarzen Haare waren vom Wind zerzaust, und einige Strähnen hingen ihm wirr in die Stirn. Lässig lehnte er am Stamm eines Baumes, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet. Mit seinen schwarzen Kampfstiefeln kickte er einen Stein aus dem Weg. Im Gegensatz zu Lucien, der eine weiße Kapuzenjacke trug und von dessen Körper ein sanftes Leuchten ausging, schien Oscuro beinahe mit seiner dunklen Umgebung zu verschmelzen.

      Erst als Lucien vor ihm stand, blickte er auf. Sein ehemals bester Freund hatte sich nicht verändert. Die Farbe seiner Augen war noch immer von einem unglaublich intensiven Eisblau, das strahlender leuchtete als ein weiter, kristallklarer Ozean.

      »Oscuro«, sagte Lucien, und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Zorn. Seine smaragdgrünen Augen funkelten in der Dunkelheit, heller als der Mond am Himmel.

      »Na sowas, du bist also doch gekommen.« Oscuro grinste.

      »Hör auf mit dem Scheiß! Sag mir, warum du mich hierher bestellt hast. Ich denke, du willst allein arbeiten?«, fuhr Lucien ihn an.

      Seit Jahren hatten sie sich nicht zu Gesicht bekommen – aus guten Gründen. Oscuro war ein Egoist und Einzelgänger geworden, der immer tat, was er allein für richtig hielt. Und das, obwohl sie doch eigentlich zusammenarbeiten mussten! Dennoch hatte Oscuro ihm den Rücken gekehrt. Er hatte sich verändert, seit sie hier auf die Erde gekommen waren. Die Menschen hatten seinen ehemaligen Freund verändert und das Leid, was er hier erlebt hatte. All das hatte ihn hart gemacht.

      Lucien fühlte sich schlecht, wenn er an die Vergangenheit dachte. Vielleicht hätte er mehr tun müssen. Vielleicht hätte er Oscuro zwingen müssen, sich von ihm helfen zu lassen, nach dieser schrecklichen Sache damals. Doch dieser zornige Blick und das Entfalten seiner herrlichen Schwingen, die ihn in den Himmel hatten emporschießen lassen, waren alles, was Lucien zuletzt von ihm gesehen hatte. Er hatte ihm nachgeschaut und ihn nicht aufgehalten, denn Oscuro hatte seine Freundschaft nicht mehr gewollt.

      Lange Zeit war Oscuro dann verschwunden gewesen, wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwann hatte Lucien angefangen, doch nach ihm zu suchen, in der Hoffnung, es würde wieder wie früher zwischen ihnen. Er war sich sicher gewesen, Oscuro hin und wieder ganz nahe gewesen zu sein, doch er hatte sich ihm immer wieder um Haaresbreite entzogen, als wollte er nicht gefunden werden.

      Kurz darauf hatte Lucien eine Nachricht von ihm erhalten, in der Oscuro schrieb, dass er in Zukunft allein arbeiten würde, um die Engelszwillinge aufzuspüren.

      Jahre waren vergangen. Lucien hatte sein Leben bei den Menschen gelebt, dabei aber nie den wahren Grund seines Aufenthalts vergessen. Und dann hatte er von Oscuro überraschenderweise eine weitere Nachricht übermittelt bekommen. Und deshalb war Lucien nun hier. Er fragte sich, was Oscuro für einen Grund hatte, sich nach all der Zeit bei ihm zu melden, wo er ihm doch so verständlich gemacht hatte, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.

      Oscuro lachte. »Warum so mies gelaunt, Lucien? Nach so langer Zeit sehen wir uns endlich wieder. Schon vergessen, dass wir uns bei der Mission aufteilen müssen? Soll die Chancen bei der Suche nach ihnen erhöhen. Das waren deine Worte vor … lass mich überlegen«, er tippte sich ans Kinn, »dreißig Jahren? Dabei bin ich nur gekommen, weil ich gute Neuigkeiten zu verkünden habe. Aber wenn du mich so böse anguckst, verrate ich dir nichts und diese Neuigkeiten werden für immer mein Geheimnis bleiben.« Er grinste Lucien höhnisch an.

      Luciens Augen funkelten vor Wut. Früher waren sie Freunde gewesen, aber heute … Alles nur weil Oscuro beschlossen hatte, sich von seinem einstigen Freund zu entfernen und die Mission getrennt anzugehen. Seitdem schien sein Herz eiskalt geworden zu sein. Aber sie teilten beide nicht nur ein Geheimnis, sondern hatten auch eine gemeinsame Mission, die nur zu zweit zu bewältigen war. Deshalb mussten sie miteinander klarkommen, ob sie wollten oder nicht.

      »Was für Neuigkeiten?«, hakte Lucien nach und blickte Oscuro misstrauisch an.

      Sein Kollege stieß ein theatralisches Seufzen aus. »Hier bei den Menschen ist es so langweilig. Noch zehn weitere Jahre in dieser beschissenen Welt und ich komme mir selbst wie einer von denen vor.« Er fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare, und seine Lippen kräuselten sich zu einem teuflischen Grinsen.

      »Lenk nicht vom Thema ab. Sag mir endlich, warum du mich herbestellt hast!« Lucien machte einen Schritt auf ihn zu und ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er Oscuro eine reingehauen, doch er unterdrückte diesen Drang. Es würde überhaupt nichts bringen, sie konnten sich nicht gegenseitig töten. Die Königin hatte so einige Regeln aufgestellt, bevor Lucien und Oscuro von ihr auf die Erde geschickt worden waren und die Mission angetreten hatten. Eine Regel besagte, dass die beiden jungen Engel sich nicht töten konnten. Verletzen ja, töten nein.

      »Ich bin nicht allwissend, Lucien, aber ich kann dir verkünden, dass die Suche endlich vorbei ist. Sie sind hier.« Oscuro blickte Lucien herausfordernd an, und sein Grinsen wurde breiter.


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