Kartellrechtliche Schadensersatzklagen. Fabian Stancke
Entwicklung des Kartellschadensersatzrechts wurde durch die Kommission im Jahr 2014 mit der Kartellschadensersatzrichtlinie gelegt. Ausdrückliches Ziel dieser Richtlinie war, die zivilrechtliche Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln zu fördern. Sie ist am 5.12.2014 in Kraft getreten und war von den EU-Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umzusetzen.30 Nach Art. 22 Abs. 1 und 2 RL 2014/104/EU sollen die nationalen Gesetze zur Umsetzung der Richtlinie hinsichtlich materiell-rechtlicher Rechtsnormen nicht rückwirkend und hinsichtlich sonstiger Normen nicht für Schadensersatzklagen gelten, die vor dem 26.12.2014 bei einem nationalen Gericht erhoben wurden. Im Einzelnen enthält die Richtlinie im Wesentlichen folgende Regelungsbereiche:31
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Die Richtlinie verpflichtet mitgliedstaatliche Gerichte, abschließende Verbotsentscheidungen von Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten zumindest als Prima-facie-Beweis eines Kartellverstoßes zuzulassen, während die abschließenden Entscheidungen von Wettbewerbsbehörden des Staates, in dem der Schadensersatzanspruch geltend gemacht wird, Bindungswirkung entfalten (Art. 9 Kartellschadensersatzrichtlinie). Richtlinienkonform sehen die Rechtsordnungen einiger Mitgliedstaaten – u.a. Deutschlands – weitergehend eine Bindungswirkung sämtlicher rechtskräftiger Entscheidungen der Behörden der Mitgliedstaaten vor. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Offenlegung von Beweismitteln und Zugang zu Verfahrensakten der Wettbewerbsbehörden: Nationale Gerichte sollen nach der Richtlinie unter der Voraussetzung einer substantiierten Begründung (Art. 5 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie) und unter Berücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 3 Kartellschadensersatzrichtlinie) die Offenlegung von bestimmten Beweismitteln oder relevanten Kategorien von Beweismitteln anordnen können (Art. 5 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie). Im deutschen Recht ist bislang schon eine Anordnung zur Urkundenvorlegung nach § 142 Abs. 1 ZPO möglich, allerdings unter der Voraussetzung der konkreten Bezeichnung der fraglichen Urkunde und ihrer Prozessrelevanz. Der in der Richtlinie festgelegte Begriff der relevanten Kategorien von Beweismitteln hingegen ist sehr unbestimmt und wird vor den Gerichten zu erheblichen Kontroversen führen.
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Die Verjährung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche soll nach der Richtlinie mindestens fünf Jahre betragen (Art. 10 Abs. 3 Kartellschadensersatzrichtlinie). Die Richtlinie legt fest, dass die Untersuchung durch eine Wettbewerbsbehörde die Verjährung hemmt oder, je nach nationalem Recht, unterbricht und frühestens ein Jahr nach Ende einer solchen Untersuchung abläuft (Art. 10 Abs. 4 Kartellschadensersatzrichtlinie). Diese Regelungen bewirken für Deutschland Änderungen der Fristen. Bisher beträgt die Verjährungsfrist drei Jahre; die Hemmung endet sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens. Daneben wird in Deutschland auch in Zukunft – kenntnisunabhängig – die Verjährung binnen 10 Jahren ab Anspruchsentstehung bzw. 30 Jahren ab dem schadensauslösenden Ereignis eintreten (§ 199 Abs. 3 BGB).
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Unternehmen, die durch eine gemeinsame Zuwiderhandlung gegen das Kartellrecht verstoßen haben, sollen nach der Richtlinie im Außenverhältnis gesamtschuldnerisch und im Innenverhältnis nach dem Verursachungsgrad für den gesamten Schaden haften (Art. 11 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie). Das deutsche Recht sieht eine gesamtschuldnerische Haftung Kartellbeteiligter bereits jetzt vor, ohne jedoch, wie von der Richtlinie vorgesehen, Kronzeugen dieser Haftung zu entziehen.
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EU-Mitgliedstaaten müssen nach der Richtlinie zukünftig zudem sicherstellen, dass Schadensersatzansprüche auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette geltend gemacht werden können. Den mittelbaren Abnehmern wird dabei der Schadensnachweis erleichtert – er hat zu beweisen, dass der Beklagte eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen hat, die Zuwiderhandlung einen Preisaufschlag für den unmittelbaren Abnehmer des Beklagten zur Folge hatte und der mittelbare Abnehmer Waren oder Dienstleistungen erworben hat, die Gegenstand der Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht waren, oder Waren oder Dienstleistungen erworben hat, die aus solchen hervorgingen oder sie enthielten (Art. 14 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie). Im Gegenzug wird aber die Passing-on-Defence EU-weit eingeführt (Art. 13 Kartellschadensersatzrichtlinie). Der Beklagte kann dann die Einrede erheben, dass der Preisaufschlag an die nachgelagerten Ebenen der Wertschöpfungskette abgewälzt wurde, so dass beim direkten Käufer kein oder nur ein geringerer Schaden entstanden ist. Die Beweislast für die Weitergabe des Preisaufschlages liegt bei der beklagten Partei, welche hierbei Offenlegungen des Klägers bzw. von Dritten verlangen kann (Art. 13 Kartellschadensersatzrichtlinie). Bei Zuwiderhandlungen in Form von Kartellen gilt zukünftig EU-weit die widerlegbare Vermutung, dass die Zuwiderhandlung einen Schaden verursacht hat (Art. 17 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie).32 Die Gerichte sollen den Schadensumfang zudem schätzen dürfen. Zudem enthält die Richtlinie Anreize für einvernehmliche Streitbeilegungen.
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Der deutsche Gesetzgeber hat die Richtlinie mit der 9. GWB-Novelle umgesetzt, die am 9.6.2017 in Kraft getreten ist.33 Diese Novelle hat die §§ 33ff. GWB und §§ 89bff. GWB n.F. umfassend im Sinne der Kartellschadensersatzrichtlinie neu gestaltet. Die Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie ist dabei komplett im GWB erfolgt (§§ 33ff. und §§ 89bff. GWB n.F.). § 33a GWB n.F. lautet nunmehr wie folgt: „(1) Wer einen Verstoß nach § 33 Absatz 1 vorsätzlich oder fahrlässig begeht, ist zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ Nach Abs. 2 wird widerleglich vermutet, dass ein Kartell einen Schaden verursacht. Ein Kartell ist danach „eine Absprache oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen zwei oder mehr Wettbewerbern“. Die Passing-on-Defence wurde in Umsetzung der Art. 12–15 der Kartellschadensersatzrichtlinie in § 33c GWB n.F. dahingehend geregelt, dass der Beklagte die Beweislast für die Schadensabwälzung trägt und Offenlegung vom Kläger/Dritten verlangen kann. Zugunsten des Klägers im Fall eines möglichen indirekten Schadens spricht eine Vermutung für das Vorliegen einer Schadensabwälzung. Der Beklagte hat die Möglichkeit, diese Vermutung durch Glaubhaftmachung zu widerlegen, dass keine (vollständige) Schadensabwälzung auf den Kläger stattgefunden hat. In § 33d GWB n.F. werden Regelungen zum Gesamtschuldverhältnis getroffen und § 33e GWB n.F. enthält eine Privilegierung des Kronzeugen. Die Offenlegung von Beweismitteln ist in einem neuen § 33g GWB geregelt worden. In dem neuen § 89c GWB ist die Offenlegung aus der Behördenakte dergestalt geregelt, dass die Herausgabe von Beweismitteln aus den Akten der Kartellbehörde an das Gericht oder den Anspruchssteller subsidiär erfolgt. Außerdem wurde die Verjährungsdauer auf fünf Jahre heraufgesetzt. Weiter sollen die Kosten der Nebenintervention begrenzt werden.
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Auch die 10. GWB-Novelle aus dem Jahre 2021 enthält wieder kartellschadensersatzrechtliche Elemente. Diese haben nicht den gleichen Umfang wie jene der 9. GWB-Novelle, sondern sind vornehmlich eine Reaktion des Gesetzgebers auf Unklarheiten, die in der öffentlichen Diskussion und in Gerichtsentscheidungen infolge der 9. GWB-Novelle aufgetreten sind. Der Regierungsentwurf zur 10. GWB-Novelle34 stellte hierzu fest, dass ein Großteil der mit der 9. GWB-Novelle eingeführten Vorschriften bislang noch nicht zur Anwendung gekommen sei, weil eine Anwendung nach den intertemporalen Regelungen in § 186 Abs. 3 und 4 GWB nur auf nach dem 26.12.2016 entstandene oder anhängig gemachte Schadensersatzansprüche in Betracht kam. Jüngere Entwicklungen in der Rechtsprechung hätten jedoch bereits aufgezeigt, dass Modifikationen im Hinblick auf spezifische Regelungen erforderlich seien, um die Geschädigten bei der Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche gegen kartellbeteiligte Unternehmen zu unterstützen. Dies betrifft zum einen die Regelung einer Vermutung der Betroffenheit und zum anderen die Auskunfts- und Offenlegungsansprüche, die sich – obwohl insofern eine Anwendung bei richtiger Rechtsauslegung grundsätzlich schon möglich gewesen sei – bislang noch nicht zur erwarteten Hilfe für Geschädigte entwickelt hätten.35 Hinsichtlich der „Betroffenheit“ erfolgte daher die Einfügung eines neuen Abs. 2 Satz 4 in § 33a, wonach widerleglich vermutet wird, dass Rechtsgeschäfte über Waren oder Dienstleistungen mit kartellbeteiligten Unternehmen, die sachlich, zeitlich und räumlich in den Bereich eines Kartells fallen, von diesem Kartell erfasst waren. Entsprechend wurde in § 33c Abs. 3 ein Satz 2 angefügt, der eine entsprechende gesetzliche