Nomaden. Michael Schreckenberg
mittels Schlafmittel ein Märchen war. Wer daran glaubte, endete gerne mal in Krämpfen und Agonie. Andere Gifte versprachen noch widerlichere letzte Minuten. Wie man einen Strick richtig knüpfte, um das Genick zu brechen, wusste ich nicht, und mich selbst zu erdrosseln kam mir ebenso wenig einladend vor wie ein qualvoller Tod mittels Gift. Eine Schusswaffe besaß ich nicht, und ich kannte auch niemanden, der mir eine leihen konnte. Und selbst wenn …
„Kannst du mir mal eben deine Pistole leihen?“
„Wozu?“
„Ich will mich erschießen.“
Klang irgendwie auch nicht besonders erfolgversprechend.
Die Brücke erschien mir besser. Ein Sprung, dann Wasser (brettbetonsteinhart), dann nichts mehr. Ich hatte den Wagen in Deutz abgestellt, nah der Messe, wie schon tausendmal, war über den S-Bahnsteig und durch den Bahnhof gegangen, auf der anderen Seite durch den kleinen Park und dann auf die Brücke. Das Gitter, das den Fußgängerweg von den Gleisen trennte, war kaum zu sehen unter all diesen bescheuerten Ewige-Liebe-Schlössern, die sentimentalitätsduselige Pärchen im Hormonrausch hier hingehängt hatten. Steffi und Detlef, Sylvia + Stefan, Klaus und Susanne, M & C, D + S, N + N, … und so weiter, und so weiter. Irgendwo hing auch eins mit der Aufschrift „Lynn + Jo“, klein und schwarz. Ich machte mir erfolgreich vor, dass ich vergessen hatte, wo es war.
Die Schlösser gaben mir noch einmal einen zusätzlichen Motivationsschub, aber im nächsten Moment wurde mir klar, dass es nicht so einfach werden würde. Ich hatte an Hochhausbesucher und Zugführer gedacht, aber ich hatte nicht bedacht, dass man auf der Hohenzollernbrücke niemals allein war, schon gar nicht in einer lauen Sommernacht wie dieser. Der stetige Strom von Passanten erschien mir als Menschenmasse, alle darauf bedacht, hier zu patrouillieren, um Lebensmüde vom Sprung abzuhalten. Es würde also schnell gehen müssen – entschlossen auf das Geländer steigen, springen, Schluss. Ohne zu zögern, ohne dass irgendjemand merkte, was geschah, bevor es zu spät war. Ich trat an die Brüstung. Sie war niedrig genug, ich würde mich ohne Probleme hinauf- und hinüberschwingen können. Aber das Wasser schien so nah. Würde das reichen? Ich hatte absolut keine Lust, halb ertrunken und mit Knochenbrüchen gerettet zu werden. Ich wollte niemanden warnen oder um Hilfe bitten. Ich wollte einfach nur sterben.
„Könnte klappen.“
Zunächst dachte ich, ich selbst hätte gesprochen. Dann wurde mir klar, dass ich das weder gedacht noch gesagt hatte. Ich sah nach rechts. Dort stand jemand und schaute auf das Wasser hinunter, ebenso wie ich.
„Könnte aber auch sein, dass du dir einfach nur beschissen wehtust.“
Ich starrte ihn an, erkannte gegen das Licht des gegenüberliegenden Rheinufers zuerst nur eine schattenhafte Gestalt und blinzelte einmal. Dann sah ich ihn. Er hatte sich mir zugewandt und lächelte, ein Mann in meinem Alter, stoppelkurze Haare und ein ebensolcher Bart, dunkle Augen, kleiner als ich und kräftig, aber nicht dick. Sein Grinsen wurde noch breiter, und er streckte mir die Hand hin.
„Ich bin Erkan.“
Ich war so perplex, dass ich die Hand nahm und kurz drückte.
„Ich heiße Jo, also, Johannes eigentlich, aber alle …“
„Ich weiß, wer du bist, Jo. Erkennst du mich denn nicht? Mann – sag nicht, du hast mich vergessen.“
Ich war immer noch verwirrt und glaubte für einen Moment wieder, er habe gar kein richtiges Gesicht, nur diese Augen auf Weiß. Dann klärte sich mein Verstand, und ich erkannte ihn. Natürlich. Erkan. Wir waren in der Schule in einer Stufe gewesen und hatten in der Oberstufe ein paar Kurse zusammen gehabt. Englisch-LK, zum Beispiel. Ich versuchte ein Lächeln.
„Quatsch, ich hab’ dich nicht vergessen. Ich dachte nur nicht …“
„… dass du mich gerade jetzt und hier triffst, was? Tja.“ Er schaute wieder auf den Fluss hinunter. „Da bin ich ja wohl gerade noch rechtzeitig gekommen.“
Mir war unbehaglich. Ich wollte nicht gerettet werden. Und war es wirklich so offensichtlich gewesen? Ich wollte auch nicht noch einmal Mittelpunkt eines peinlichen Aufsehens sein.
„Erkan, ich weiß nicht …“
„… nein, ich ehrlich gesagt, auch nicht. Vielleicht zerhaut es dich da unten oder du wirst so betäubt, dass du mit dem ersten Strudel ersäufst, ohne es noch richtig mitzukriegen. Kann aber auch anders laufen. Knochenbrüche, innere Verletzungen, wenn du es richtig blöd anstellst, zermatschte Eier – aber eben ohne dabei draufzugehen. Bist du wirklich so scharf darauf zu sterben?“
Hätte er mich gefragt, ob ich die Schmerzen und den Misserfolg in Kauf nehmen wollte, so hätte ich gezweifelt. Aber auf diese Frage gab es nur eine Antwort: „Ja.“
Er schüttelte den Kopf und lachte leise.
„Was ist so komisch?“ Etwas Respekt vor meinem Entschluss verlangte ich schon.
Erkan schüttelte wieder den Kopf. „Ein Insider.“ Er wandte sich mir wieder zu und lächelte sanft. „Du willst nicht zu unserem Zehn-Jahre-Abitreffen kommen? Ist doch schon nächsten Monat.“
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Das war nun wirklich der allerletzte Grund, der mich davon abhalten könnte.
„Nee, echt nicht.“
„Warum denn nicht? Wird bestimmt nett.“
„Ey, Erkan …“ Ich breitete die Arme aus, die Geste musste die tausend Gründe ersetzen, die ich nicht aufzählen konnte: die Tatsache, dass mir wirklich überhaupt gar nicht danach zumute war, irgendetwas zu feiern. Den Punkt, dass mein Leben kurz nach dem Abitur einen plötzlichen und endgültigen Höhepunkt erreicht hatte und danach ein einziger Misserfolg gewesen war. Ich nannte nur den einfachsten Grund.
„Ich fliege irgendwann nächste Woche aus meiner Wohnung, und dann habe ich nichts mehr. Wäre natürlich ein hübsches Kuriosum, so ein Penner auf der Abiparty, aber dazu gebe ich mich nicht her.“
Er schnaubte, aber es klang eher belustigt als verächtlich. „Seit wann denn so viel Selbstmitleid? Steht dir gar nicht.“
Ich schwieg und versuchte dabei wie jemand auszusehen, der mit seinem Schicksal Frieden gemacht hatte. Erkan griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und zog etwas heraus – ein Bündel Geldscheine, wie ich entsetzt feststellte. Er zog die Klammer ab und begann, große Scheine herauszuzählen.
„Erkan, bitte lass das.“
Er zählte ungerührt weiter, eine ganze Weile, dann nahm er meine rechte Hand und drückte ein dickes Päckchen hinein.
„Das sollte bis zur Party dicke reichen. Ob du damit deinen Mietrückstand bezahlen oder ins Hotel gehen willst, ist deine Sache. Ich würde dich nur gerne da sehen.“
Ich hätte das Geld zu gerne mit einer großen Geste in den Rhein geschleudert, aber irgendwie brachte ich das nicht. Stattdessen behauptete ich: „Du kannst mich nicht kaufen.“
„Tue ich doch gar nicht.“
„Was denn sonst?“
Er seufzte und lächelte wieder dieses unerschütterlich sanfte Lächeln. „Ich bitte dich um einen Gefallen, Jo. Komm zu der Party. Feier mit uns, mach dir einen netten Abend. Geh am nächsten Tag noch einmal spazieren. Wenn du dann immer noch Schluss machen willst, bitte, ich werde nicht da sein, um dich aufzuhalten. Aber tu mir den Gefallen und komm. Und da du mir den Gefallen nicht tun kannst, wenn dir nicht irgendwer ein wenig Geld … leiht, ermögliche ich dir, dass du mir den Gefallen tust. Das ist alles.“
Ich schaute auf das Geldbündel in meiner Hand. Das waren mindestens zehntausend Euro, eher mehr. „Du bist wohl ganz schön reich, was?“ Es sollte nicht so bitter klingen, wie es herauskam.
Er überhörte den Tonfall, wandte sich wieder dem Rhein zu und zuckte mit den Schultern. „Mehr als du ahnst“, sagte er gleichgültig.
„Warum machst du das?“
Erkan schaute lange wortlos